Der anstehende dritte 10-Jahresplan der Energieentwicklung ist eine Kopie der längst gescheiterten deutschen „Energiewende“

Edgar L. Gärtner

Wir haben uns schon fast daran gewöhnt, dass uns Frankreich mit Atomstrom aushilft, wenn bei uns in Deutschland wegen einer „Dunkelflaute“ bei Kälte und Windstille zigtausend Windräder keinen Strom mehr liefern. Zu diesem als „Blackout“ bekannten gefährlichen Engpass gesellt sich im Sommerhalbjahr nun die Furcht vor einer „Hellbrise“ durch ein Überangebot von Solarenergie um die Mittagszeit. Ursache dieser Unzuverlässigkeit ist seit der Abschaltung der letzten deutschen Kernkraftwerke und der Sprengung von immer mehr neuwertigen Kohlekraftwerken das Fehlen regelbarer Kapazitäten der Elektrizitätserzeugung für die Abdeckung der Grundlast. Dennoch konnten die in Deutschland regierenden Parteien mit ihrem Leichtsinn jahrelang ungestraft fortfahren, weil vor allem Frankreich, gegen teures Geld, zuverlässig über Engpässe hinweghalf.

Doch damit könnte bald Schluss sein. Denn die für die Energie zuständigen Minister der ganzen Serie französischer Regierungen, die wir unter Staatspräsident Emmanuel Macron seit 2017 haben kommen und abtreten sehen, haben sich in den Kopf gesetzt, das Abenteuer der deutschen „Energiewende“ mit dem Ziel „100 Prozent Erneuerbare“ auf Druck der EU-Kommission und der dahinterstehenden deutschen Energiewende-Lobby möglichst rasch zu kopieren. Dass das keine böswillige Unterstellung ist, zeigt der Inhalt der anstehenden dritten „Programmation Pluriannuelle de l’Énergie (PPE)“ für 2025 bis 2035 (PPE 3). Der zuletzt bekanntgewordene Entwurf des Projekts, der nicht von Parlamentsausschüssen, sondern im Rahmen einer intransparenten „Consultation“ des „tiefen Staates“, d.h. der Spitzen-Beamten zentraler Verwaltungs-Corps und der „Zivilgesellschaft“, d.h. verschiedener Lobby-Gruppen erarbeitet wurde, liest sich wie die Wunschliste der Grünen, die als Partei in Frankreich bei den Wählern nur noch wenig Zuspruch finden. Nach dem geltenden Code de l’Énergie wird über das Projekt PPE nicht im Parlament beraten und abgestimmt. Vielmehr kann die Exekutive den Plan per Dekret verkünden.


Streng EU-konform steht im zuletzt bekannt gewordenen Entwurf der PPE 3 nicht die Befriedigung der wachsenden Energie-Nachfrage im Zentrum der Projektionen, sondern das Energiesparen, die „sobriété énergétique“, und zwar absolut. Gegenüber 2021 soll der globale Endenergie-Einsatz bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts um bis zu 50 Prozent sinken. Das Papier bereitet die Franzosen also für ein Leben auf Sparflamme vor. Die Spar-Vorgaben sollen nicht nur für den Einsatz der „fossilen“ Rohstoffe Öl und Gas, sondern auch für die Nutzung der Elektrizität gelten, obwohl deren Anteil am Endenergie-Mix von derzeit 27 auf 35 Prozent ausgeweitet werden soll. Wie unter diesen Bedingungen der Stromhunger der Rechenzentren für die KI und der vom Staat geförderten Elektro-Fahrzeuge gestillt werden soll, bleibt im Dunkeln. Bei uns in Deutschland werden solche drakonischen Spar-Appelle begründet mit der Notwendigkeit, den Ausstoß des angeblich klimaschädlichen CO2 zu senken. Doch dieses Argument zieht in Frankreich überhaupt nicht, weil die französische Elektrizitätsversorgung dank des hohen Anteils von Kernenergie und Wasserkraft schon fast zu 100 Prozent „dekarbonisiert“ ist. Darauf macht die französische Académie des Sciences in einer am 8. April veröffentlichten kritischen Stellungnahme aufmerksam.

Konkret sieht der letzte bekannt gewordene Entwurf der PPE 3 bis zum Jahre 2035 eine Multiplikation der Solar-Kapazität um den Faktor 5 vor. Schon 2030 sollen bis zu 44 Gigawatt (GW) erreicht werden. Die Kapazität der Onshore-Windkraft soll sich mindestens verdoppeln, am besten verdreifachen und im Jahre 2035 40 bis 45 GW erreichen, die Offshore-Windkraft 18 GW. Nicht wachsen soll hingegen der Anteil der Kernenergie am Primärenergie-Angebot. Der Anteil „fossiler“ Energiequellen am Endenergie-Einsatz soll von 58 Prozent im Jahre 2023 auf 30 Prozent im Jahre 2035 sinken, was bei den meisten Fachleuten als unrealistisch gilt.

Der Entwurf der PPE 3 hält am Ziel der alten PPE, den Anteil der Kernenergie von etwa 75 auf 50 Prozent zu senken, fest. Allerdings sollte dieses Ziel schon in diesem Jahr erreicht werden. Nun soll diese Projektion durch die Stilllegung von sage und schreibe 14 Kernreaktoren angesteuert werden. (Die bereits erfolgte Stilllegung der beiden frisch renovierten Reaktoren im elsässischen Fessenheim ist da bereits inbegriffen.) Bis 2035 wird kein neues französisches KKW mehr in Betrieb gehen. Der zuletzt bei Flamanville in der Normandie kurz vor Weihnachten 2024 mit über 12 Jahren Verspätung in Betrieb genommene EPR (Flamanville3) stand seither wegen technischer Probleme mit Turbine und Kühlsystem und neuerdings auch im nuklearen Teil der Anlage überwiegend (an 76 der 100 ersten Betriebstage) still. Das für den 11. und dann für den 17. April 2025 vorgesehene Wiederanfahren des Reaktors wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Die Finanzierung des vorgesehenen Baus von weiteren sechs EPR ist völlig offen, solange der erste französische EPR nicht einwandfrei läuft. Die Rentabilität der aufwändigen EPR bleibt ohnehin fragwürdig, solange in Frankreich (wie in Deutschland) die Einspeisung von witterungsabhängigem „Flatterstrom“ ins Netz Vorrang genießt. (Eine Ausnahme vom Einspeisevorrang gibt es neuerdings für kleine PV-Anlagen: Ende März wurde der Einspeisetarif kleiner Photovoltaikanlagen unter 500 kW Spitze per Minister-Erlass so weit abgesenkt, dass sich nur noch der Eigenverbrauch der damit produzierten Elektrizität lohnt.)

Widerstand gegen die PPE 3 kommt aus dem Senat, der zweiten Kammer des französischen Parlamentarismus, in dem regionale Interessen und somit auch der gesunde Menschenverstand ein größeres Gewicht haben als in der von Parteiinteressen dominierten Nationalversammlung. In einem am 11. März 2025 veröffentlichten offenen Brief an Premierminister François Bayrou haben 160 Senatoren den Entwurf der PPE 3 als „simplement irréalistes“ beurteilt. Die Wissenschaftsakademie gibt ihnen im oben zitierten Statement recht. Die Akademie warnt vor allem vor einem drohenden Überschuss nicht steuerbarer Energien beim gleichzeitigen Fehlen nennenswerter Speicher-Kapazitäten. Außerdem weist sie auf Inkonsistenzen bei der Quantifizierung der dort angegebenen Ziele für den Energieeinsatz im Jahre 2035 hin. Das zeige die mangelnde Sorgfalt bei der Erstellung des Plans durch eine obskure „Consultation“. Diese Kritik erklärt wohl zu einem Teil das Zögern François Bayrous und seines Chefs Emmanuel Macron, der PPE 3 grünes Licht zu geben.

Widerstand gegen das von der PPE 3 projektierte explosive Wachstum der „Erneuerbaren“ kommt in den letzten Jahren immer öfter auch von Seiten der Justiz. Schon in den vergangenen Jahren haben französische Gerichte die Genehmigungen von Windparks aus rein ästhetischen Gründen annulliert. (Wir haben darüber berichtet.) Neuerdings berücksichtigen Gerichte auch psychische Belastungen durch WKA-Parks. So hat das Verwaltungs-Appellationsgericht im lothringischen Nancy kürzlich die präfektorale Genehmigung eines Riesen-Windparks des Staatskonzerns EDF mit 63 Windrädern (mit einer Gesamtkapazität von 226 MW der größte Windpark Frankreichs) in der Gegend vom Reims aufgehoben – und zwar mit der Begründung, dadurch würden sich die Bewohner der Gegend, in der ohnehin schon viele Windräder stehen, eingekreist fühlen. Schon vorher hatte die regionale Gesundheitsagentur ARS das Fehlen akustischer Untersuchungen moniert. Der Betreiber „EDF Renouvelables“ hat allerdings noch die Möglichkeit, in Revision zu gehen. Dem Verfahren werden allerdings nur geringe Chancen eingeräumt.

Nur langsam verbreitet sich in Frankreich die Einsicht, dass sich das Land, wie ganz Europa, in einem globalen Energiekrieg befindet. Westeuropa ist zu fast 60 Prozent von Energie-Importen abhängig und befindet sich eingezwängt zwischen den USA, die seit einigen Jahren energieautark sind, und Russland, das schon lange energieautark ist. Die beiden Großmächte können deshalb mit Europa im Prinzip machen, was sie wollen. Frankreich ist das einzige westeuropäische Land, das dank seiner Kernkraftwerke erheblich weniger von Energieimporten abhängig ist und noch die Chance hätte, eine souveräne Energiepolitik ins Werk zu setzen. Diese Politik müsste damit beginnen, die französischen Stromkunden durch ein anderes Tarifsystem endlich wieder in den Genuss der niedrigen Gestehungskosten des Kernkraft-Stroms komm en zu lassen. Das würde der bereits fortgeschrittenen Abwanderung von Industriebetrieben entgegenwirken. Präsident Emmanuel Macron hat das 2022 in seiner vielzitierten Rede in der ostfranzösischen Industriestadt Belfort angedeutet, als er eine „Renaissance der Kernenergie“ ankündigte. Doch dabei ist es bislang leider geblieben.

 

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