Das herrschende Klima-Narrativ verliert an Glaubwürdigkeit

Von Edgar L. Gärtner

Bekanntlich bin ich beileibe nicht der erste, der diese Frage stellt. Der ebenso feige wie pragmatische Bürokrat Pontius Pilatus, von 26 bis 36 nach Christi Geburt Präfekt des römischen Kaisers Tiberius in Judäa, das damals noch zur Provinz Syria gehörte, stellte die Frage “Quid est veritas?“ mit einem abwertenden Unterton, während er beteuerte, an Jesus keine Schuld gefunden zu haben, ihn aber schließlich doch zum schmählichen Tod am Kreuz verurteilte, um den aufgebrachten jüdischen Honoratioren nachzugeben (Joh.18.38). Im Matthäus-Evangelium (Mt. 27.19) wird erwähnt, dass die Frau des Präfekten versucht hatte, ihren Mann von Jesu Unschuld zu überzeugen, indem sie auf einen schrecklichen Traum hinwies, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Claudia Procula, deren Namen Matthäus verschweigt, wird in den Ostkirchen noch heute als Heilige verehrt. In einem Bibelkurs lernte ich, dass Pilatus nicht lange danach strafversetzt und seines Lebens nicht mehr froh wurde.

Pontius Pilatus Inschrift in Caesarea, Bild Wikipedia

Von heute aus gesehen, erscheint die Geschichte von Pontius Pilatus eher untypisch, da klar überschaubar. Denn die Wahrheit war ihm, wie er selbst bekannte, durchaus bekannt. Er handelte wider besseres Wissen, als er Jesus zum Tode verurteilte. Pilatus vertrat im Grunde die Position des modernen Nihilismus oder Postmodernismus, für den es Wahrheit entweder gar nicht oder nur im Plural gibt. Heute haben wir es öfter mit dem umgekehrten Problem zu tun: Die Wahrheit ist nicht bekannt, aber mächtige Gruppierungen behaupten, sie zu kennen und alleine zu besitzen. Wer dieser „Elite“ nicht folgt wird diskriminiert, exkommuniziert und letztlich ruiniert. Paradebeispiel dafür ist die „Klimawissenschaft“ des IPCC. Doch auch diese Situation hat ein Vorbild in der Antike. Die Rede ist von der Verurteilung zum Tode des griechischen Philosophen Sokrates (469-399 v. Chr.) wegen dessen angeblich jugendgefährdendem Bekenntnis, nichts zu wissen. Das bezog sich wohl hauptsächlich auf die Zukunft, denn über die Gegenwart wusste man im alten Athen schon einiges.

Sokrates gilt nicht nur wegen seines Schicksals zu Recht als Vorläufer Jesu und des Christentums. Denn dass nur Gott die Zukunft kennen kann, zählt zu den unumstößlichen Grundlagen des christlichen Glaubens. Kirchenväter wie vor allem Augustinus von Hippo (354-430 n. Chr.) haben denn auch viel Mühe darauf verwandt, ihren Schäfchen Reste von Aberglauben, insbesondere der Astrologie auszutreiben, die bei den heidnischen Römern Konjunktur hatten. Im christlichen Hochmittelalter spielten denn auch magisches Denken und Aberglaube, nach dem Urteil des bekannten Literaturwissenschaftlers und Anthropologen René Girard (1923-2015), eine geringere Rolle als zu Zeiten der Renaissance und der so genannten Aufklärung.

Ausschlaggebend war dafür der Einfluss des Dominikaner-Mönchs Thomas von Aquin (1225-1274), der die aristotelische Philosophie, abgewandelt im Sinne des Christentums, in Europa etablierte. Thomas gilt in der römisch-katholischen Kirche, obgleich zunächst durchaus umstritten, noch immer als einer größten Kirchenlehrer, vergleichbar nur mit Augustinus. In seiner „Summa theologiae“ leitete der an der damals führenden Universität von Paris lehrende Dominikaner her, dass nur der Schöpfer in der Lage ist, die Gesamtheit seiner Schöpfung zu überblicken und deren Zukunft vorherzusehen, während die Geschöpfe, entsprechend ihrer Natur, lediglich in der Lage sind, mehr oder weniger große Ausschnitte zu begreifen und dieses Wissen für ihre jeweils beschränkten Ziele und Interessen zu nutzen. Auf heutige Probleme bezogen, heißt das: Um einigermaßen verlässliche Prognosen über das globale Wettergeschehen anstellen zu können, müsste man das Ergebnis der Wechselwirkung Tausender von mehr oder weniger bekannten Faktoren berechnen können, was noch immer unvorstellbar ist. Die absolute Wahrheit über das Naturganze als „adaequatio rei et intellectus” ist für uns Menschen unergründbar. Wir können jedoch Teilwahrheiten erkennen, uns in einem offenen, nie endenden Erkenntnis-, Lern-, Erziehungs- und Verständigungsprozess der Entsprechung von Sachverhalt und Bewusstsein annähern und dabei im Prinzip auch in beschränktem Maße fernere Folgen ihres Tuns bedenken. Diese Auffassung hat auch der Königsberger „Aufklärer“ Immanuel Kant (1724-1804) geteilt, obwohl er als pietistischer Protestant den Katholen Thomas von Aquin nicht zur Kenntnis nahm. Demgegenüber erscheinen naturalistische beziehungsweise technokratische Ideologien, die die Differenz zwischen Sachverhalt und Bewusstsein leugnen bzw. zwischen Sein und Sollen kurzschließen, als grundsätzlich nicht diskurs- und daher auch nicht wahrheitsfähig.

Kurz: Man könnte Immanuel Kant und vor allen Thomas von Aquin als Philosophen des gesunden Menschenverstandes bezeichnen, weil sie beide von praktischen Beobachtungen und Problemen ausgingen und ihre theoretischen Überlegungen damit begannen herauszuarbeiten, was wir grundsätzlich nicht wissen können. Der Weg zur Wahrheit beginnt damit, sich bewusst zu machen, dass wir so Vieles einfach nicht wissen können. Wir können immer nur Teilwahrheiten in der Welt der Erscheinungen erkennen und diese unter kontrollierten Randbedingungen technisch nutzen. Soweit sie technisch nutzbar sind, können aber auch Teilwahrheiten durchaus absolut genommen werden. Dennoch bleiben das Inseln in einem Ozean von Nichtwissen. Das „Ding an sich“ ist nicht erkennbar. In scheinbarem Gegensatz zu dieser Auffassung erklärte Kants Nachfolger Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) in seiner Phänomenologie des Geistes: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ Dieser Satz wurde später leider oft materialistisch missverstanden und im Sinne des Totalitarismus ausgelegt.

Kant hat uns nicht nur eine heute noch oft zitierte Definition der Aufklärung als Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit geliefert, sondern auch entscheidend mitgeholfen, deren vermessenes Weltbild zu überwinden. Denn zu den problematischsten Hinterlassenschaften der Aufklärung gehört das mechanistische Weltbild, das sich auf das mathematische Gravitationsgesetz Isaac Newtons (1643-1724) stützt. Danach funktioniert der Kosmos wie ein Uhrwerk, dessen Ablauf streng determiniert ist. Wir Menschen können in dieses Uhrwerk eingreifen, seinen Ablauf zu unseren Gunsten verändern, wenn wir nur die richtigen Stellschrauben finden. Für Zufälliges und Übernatürliches war in dieser Weltsicht kein Platz mehr. (Newton selbst beschäftigte sich aber, wie wir heute wissen, im Unterschied zu seinen Epigonen, neben der Mathematik auch mit Alchimie, Theologie und Mystik.) Obwohl dieses geschlossene Weltbild seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts durch das Aufkommen der Quantenphysik und die Entdeckung der „dunklen“ Materie grundlegend erschüttert wurde, feiert es seit dem Ende der 1980er Jahre in der „Klimapolitik“ fröhliche Urständ. Die von der aktuellen Politik zum obersten Ziel erklärte „Klimaneutralität“ beruht auf einer karikaturhaften Zuspitzung des Mechanizismus.

Danach soll die als „Weltklima“ bezeichnete rechnerische Durchschnittstemperatur der Erde in der Hauptsache von CO2-Gehalt der Luft abhängen. Die angeblich durch die Industrialisierung und den steigenden menschlichen Wohlstand verursachte leichte Erhöhung der Durchschnittstemperatur in den letzten 150 Jahren soll durch eine kostspielige Reduktion des menschlichen CO2-Ausstoßes bis zum Ende dieses Jahrhunderts auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden. Und diese mechanische Abkühlung der Erdatmosphäre soll ausgerechnet durch den Ersatz verlässlicher Energiequellen durch “erneuerbare“ Zufallsenergien bewerkstelligt werden. Verkehrte Welt. Die praktische Umsetzung dieses gespielt naiven Weltmodells erlaubt „ganz nebenbei“ eine beispiellose Umleitung von Finanzströmen in Billionenhöhe von unten nach oben. So verwundert es nicht, dass diese Weltsicht von den Großen der internationalen Finanzindustrie und von den nimmersatten Wohlfahrtsstaaten des Westens massiv propagiert wird.

Neuerdings mehren sich aber angesichts der auf der Hand liegenden Unbezahlbarkeit des geforderten raschen Austauschs voll funktionsfähiger Öl- und Gasheizungen durch elektrische Wärmepumpen, deren Stromversorgung nicht gesichert ist, die Zweifel an der „Nachhaltigkeit“ dieses Narrativs. Die in Berlin regierende Ampel-Koalition sieht sich gezwungen, Wissenschaftler aufzubieten, die ihr Narrativ verteidigen. So widmete das bundeseigene Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) eine ganze Nummer seiner vierteljährlichen Hauszeitschrift „WZB-Mitteilungen“ vom Dezember 2022 dem Thema Wahrheit. Ihr kaum verhohlener Zweck: Die offizielle Wissensanmaßung der „grünen“ Finanz- und Polit-Oligarchie zu retten. Das aber auf geradezu hilflos anmutende Weise. Typisch dafür ist der Beitrag von Prof. Michael Zürn, Direktor der Abteilung Global Governance des WZB, der noch einmal die Behauptung auftischt, 97 Prozent aller KlimawissenschaftlerInnen stimmten „der These von der menschengemachten Klimaerwärmung und ihren Gefahren für das Leben zu.“ Die Klima-Skeptiker beriefen sich hingegen auf „hausgemachte Wissenschaft“. Als Paradebeispiel dafür außerhalb der Klima-Debatte führt Zürn ausgerechnet das Buch „Corona Fehlalarm“ der beiden ausgewiesenen Immunologen Karina Reiss und Sucharit Bhakdi an. Die darin ausgesprochenen Befürchtungen hinsichtlich der Wirkungsweise der gegen Covid-19 verordneten kaum erprobten mRNA-Spritzen wurden inzwischen durch die Dokumentation von millionenfachen gefährlichen Impf-Nebenwirkungen vollauf bestätigt.

Zürn wirft den Kritikern der offiziellen Klima-Ideologie vor, sie betrieben „die Delegitimierung der Schiedsinstanzen des Wahrheitswettbewerbs.“ Wer nicht mindestens eine A15-Stelle im staatlichen Forschungsbetrieb innehat, soll also nicht mitreden dürfen? So sieht es aus, denn als Lösung für das schwierige Problem der Wahrheitsfindung schlägt Zürn folgendes vor: „Die regulative Idee der Wahrheit bedarf eines Wahrheitsregimes, das neben der Kritik als Elixier des Strebens nach gesellschaftlich anerkannten Wahrheiten auf die besondere Rolle von epistemischen Autoritäten und politischen Schiedsinstanzen setzt.“ Zürn fände daher wohl die Einrichtung eines Wahrheitsministeriums Orwellscher Prägung durchaus sinnvoll.

Freilich gibt es in dem Heft auch andere Stimmen wie die des Amerikaners Peter J. Katzenstein, der unter Hinweis auf die Quantenphysik fordert: „Wir sollten demütig bekennen, dass wir vieles einfach nicht wissen und nicht wissen können.“ Angesichts der beinahe grenzenlosen Fälschungsmöglichkeiten, die die Künstliche Intelligenz bietet (das zitierte Heft bringt dafür beeindruckende Beispiele), wäre es an der Zeit, das zu beherzigen. (31. März 2023)

 

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