Dem alten Gemüsehändler traten immer mehr Schweißperlen auf die Stirn, die in der Abendsonne glänzten. Aber was sollte ich tun? Ihm am Ende des Tages die letzten Tomaten aus Mitleid abkaufen? Er wollte für das Kilo wirklich nur einen Spottpreis haben, aber es lagen noch genügend Tomaten daheim. Sollte ich meine wegwerfen, statt er seine? Schließlich kam er um den Tisch herum und verbesserte sein Angebot, indem er mir die Tomaten samt Tüte schenken wollte. Aber was hätte ich davon, für ihn die Entsorgung zu übernehmen? So betrachtete ich das Gespräch als beendet und wandte mich zum Gehen. Nach wenigen Schritten hatte er mich eingeholt. Einen Euro wolle er mir zahlen, wenn ich die Tüte und Inhalt mitnehme.

Abbildung 1 oben
Am 1. Mai wurde ab Mitternacht bis 17 Uhr in deutschen Kraftwerken für negative Strompreise produ- ziert! Der Produktionsertrag von rd. 619 Millionen kWh wurde mit rd. 27 Millionen Euro (rd. 4,3 ct/kWh) an die vergütet, die bereit sind den überschüssig erzeugten Strom als Geschenk zu über- nehmen. Auf dieser Basis sind keine gerechten Löhne der erbrachten „Arbeit“ zu erwarten, für die der 1. Mai steht. Auszug aus Ausgewählte Kapitel der Energiewirtschaft von Prof. Dr. Helmut Alt
 

Während ich noch sinnierte, was ihn wohl dazu bewogen haben könnte, hatte er schon auf zwei Euro erhöht.

Auf dem Heimweg entsorgte ich die roten Früchte im Straßengraben und freute mich über drei Euro mehr in der Tasche, die ich am nächsten Bierstand zum Einsatz brachte. So war der Händler die Tomaten los und ich hatte anstelle der nicht benötigten Tomaten auch einen Vorteil.

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Tomaten und Elektrizität

Total unglaubwürdig, die Geschichte? Nein, nicht wenn es sich bei dem Produkt anstelle der Tomaten um elektrische Energie handelt. Bei diesem Wirtschaftsgut gibt es die Besonderheit, dass es zeitsynchron erzeugt und verbraucht oder, korrekt ausgedrückt, umgewandelt werden muss. Der Unterschied im Handel besteht nun darin, dass der Gemüsehändler die nicht mehr verwertbaren Früchte kompostiert oder verfüttert, niemals aber einem Kunden für die Abnahme noch Geld gezahlt hätte.

Anders beim Strom im weltweit einmaligen Energiewendewunderland. An 19 Tagen im Jahr 2016 taten für 97 Stunden die Stromhändler das, was der oben beschriebene Gemüsehändler in seinem Leben nie getan hätte – Ware verschenken und Geld dazugeben. Ein Zeichen erschöpfter Regelfähigkeit des Systems und Folge von Planwirtschaft, die Technologien bevorzugt (Einspeisevorrang), überwiegend fest vergütet und auf Marktsignale nicht gesamtwirtschaftlich sinnvoll reagieren kann.

Als erste Reaktion auf solche Ereignisse kommt von Seiten der Wendebewegten der Vorwurf des „verstopfenden“ Kohle- und Atomstroms. Warum fahren die Konventionellen nicht weiter zurück oder gehen außer Betrieb, wenn zum Zeitpunkt niedriger Last die Regenerativen powern? Dafür gibt es mehrere Gründe:

  • Zur Netzstabilität sind zwingend Systemdienstleistungen erforderlich (Wirk-  und Blindleistungsregelung, also Frequenz- und Spannungshaltung). Die Massenträgheit der Turbogeneratoren glättet die Mikroschwankungen im Netz. Die Netzreserve zum kurzfristigen bedarfsgerechten Hochregeln muss erhalten bleiben. Man spricht hier auch vom „Must-Run-Sockel“. Ohne Einbettung in ein stabiles und regelfähiges Netz würden die volatilen Einspeiser das Netz innerhalb von Sekunden kollabieren lassen.
  • Konventionelle Kraftwerksblöcke haben in der Regel Anfahrzeiten im Stundenbereich. Wenn man alle Blöcke an einem Standort abschalten würde, lägen die Anfahrzeiten im Bereich eines Tages. Dann könnte schon längst wieder Flaute sein.
  • Weitere Restriktionen ergeben sich durch die technisch fahrbaren Mindestlasten und die teils nötige Bereitstellung von Fern- oder Prozesswärme für Haushalte und Industrie (wärmegeführte KWK-Anlagen).
  • Für die Betreiber ist es eine wirtschaftliche Abwägung, einige Stunden Verluste in der Hoffnung auf nur kurzfristige negative Strompreise durchzuschwitzen und damit die erheblichen Außer- und Inbetriebnahmekosten zu sparen. Auch die Teilnahme am Regelleistungsmarkt fließt in die Betrachtung der Opportunitätskosten ein. Im Grunde ein betriebswirtschaftliches Problem, das neben den ohnehin niedrigen Strompreisen die wirtschaftliche Situation der konventionellen Kraftwerksbetreiber weiter verschlechtert, erkennbar an den Bilanzen von Stadtwerken und Großversorgern.

Im Jahr 2011 traten an sechs Tagen stundenweise negative Strompreise auf, 2015 an 25 Tagen, Tendenz weiter steigend. Starkwind zu Weihnachten und viel Sonne zu Pfingsten sind bei entsprechend niedrigem Bedarf die besten Voraussetzungen für negative Strompreise.

 

Bezahlte Geschenke

Am 8. Mai 2016 drückte so viel Wind- und Sonnenstrom ins Netz, dass 352 Millionen Kilowattstunden Strom und 21,3 Millionen Euro den benachbarten Energieunternehmen geschenkt wurden. Mit dieser Strommenge hätte man etwa 117.000 Dreipersonenhaushalte ein Jahr lang versorgen können. Für die deutschen Kunden wurde es teuer, denn der überschüssige Strom kostete sie per EEG 70 Millionen Euro, macht in Summe also 91,3 Millionen. Am 1. Mai 2017 waren es sogar 40 Millionen Euro Geldgeschenk ans Ausland. Für die Strombörse EEX in Leipzig ein „natürliches Phänomen des kurzfristigen Stromhandels“. Die Börse verdient bei jedem Handel mit – auch beim schlechten.

Die Unionsfraktion im Bundestag forderte, man dürfe neu gebauten Wind- und Solaranlagen bei negativen Strompreisen keine Vergütung mehr zahlen. Angesichts der zunehmenden Marktverzerrung kam die Regierung nicht umhin, die bisher für sakrosankt erklärte Einspeisevergütung tatsächlich anzutasten – wenigstens ein klein wenig. Seit 2016 gilt nun für Neuanlagen der Paragraf 24 des EEG, der festlegt, dass Windkraftanlagen größer als drei Megawatt und andere EE-Anlagen größer als 500 Kilowatt installierter Leistung bei negativen Preisen für mehr als sechs Stunden keine Vergütung mehr erhalten. Freiwillig änderte die Bundesregierung das EEG 2016 allerdings nicht. Der zeitweise Stopp der Vergütungszahlung geht im Kern auf Vorgaben der Europäischen Union zum Beihilferecht zurück. Die Umwelt- und Energie-Beihilfe-Leitlinie der EU (UEBLL) untersagt eine Förderung der Stromerzeugung bei negativen Preisen. Ausnahmen sind grundsätzlich zugelassen.

 

Sanfte Korrektur

Die Windbranche war zunächst bezüglich der Auswirkungen des Paragrafen 24 verunsichert. Erstmalig durchwehte ein leichter Hauch unternehmerischen Risikos die Branche. Befürchtungen zu den Auswirkungen reichten bis zu einer kompletten Unwirtschaftlichkeit zukünftiger Windprojekte. Die Thinktanks der Branche stellten Wirtschaftlichkeitsrechnungen auf, in denen befürchtet wird, dass neue Windkraftanlagen bis 2040 dadurch die Hälfte ihres Profits einbüßen könnten. Schon der betrachtete Zeithorizont lässt erkennen, dass man überhaupt nicht daran denkt, die Stromeinspeisung grund- und regellastfähig, mithin systemkompatibel zu machen. Die rückwirkende Betrachtung ergibt jedenfalls, dass sich Paragraf 24 bisher kaum ausgewirkt hätte. Dennoch grübelt man gegen den Paragrafen an und forderte zunächst seine Abschaffung. Da dies erfolglos war, zieht man Möglichkeiten der Gestaltung in Erwägung, indem man beispielsweise die hohe Einspeisung mit der Folge negativer Preise ab der fünften Stunde durch gezielte Abschaltungen und somit die Wirkung des Paragrafen verhindert. Nach einer Stunde eines Null- oder Positivstrompreises kann man wieder zuschalten und die Uhr läuft wieder los.

Die Tendenz ist deutlich, die Zeiten negativer Strompreise werden zunehmen. Maßgeblichen Einfluss haben auch die Austauschkapazitäten mit den Nachbarländern. Da die Übertragungskapazitäten zwischen Deutschland und Südeuropa nicht ausreichen, sucht sich der Strom oft den Weg über Polen und Tschechien. Diese Länder intervenierten darauf hin beim europäischen Regulierungsverband ACER, der nun die Aufhebung der gemeinsamen Preiszone Deutschland/Österreich durchsetzen will. Sollte diese heute einheitliche Zone aufgeteilt werden, ergeben sich in Deutschland längere Zeiten negativer Preise und für die Endkunden in der Alpenrepublik, die bisher vom niedrigen deutschen Börsenpreis profitierten, höhere Preise.

Energiepolitik bizarr: Während in Brüssel Europa-Politiker von einem baldigen Binnenmarkt für Elektrizität oder sogar einer Energie-Union reden, passiert in der Realität das Gegenteil: Re-Nationalisierung und Fragmentierung des europäischen Marktes, die Errichtung von Grenzen und der Aufbau neuer Handelshemmnisse auf Grund eines deutschnationalen Sonderwegs. Dabei besteht der Engpass nicht in fehlenden Leitungen zwischen Deutschland und Österreich, sondern an mangelnden Trassenkapazitäten zwischen Nord- und Süddeutschland. Verschiedene Strompreiszonen in Deutschland sind politisch allerdings (noch) nicht durchsetzbar.

Es bleibt die spannende Frage, ab wann auf dem Weg zu „100-Prozent-Erneuerbar“ die Regenerativen endlich Verantwortung am System Netz übernehmen werden. Dies wird mit dem Ziel der Gewinnmaximierung der Branche kollidieren, so dass neue Subventionstatbestände oder Umlagen zu erwarten sind.

 

Was tun?

Wie sähe eine pragmatische Lösung aus? Negative Preise dürften an der Börse nicht mehr zugelassen werden, was bedeuten würde, alle Einspeiser oberhalb des Must-Run-Sockels ohne Entschädigung abzuschalten, aus Kostengründen die mit den höchsten Einspeisevergütungen zuerst. Dies würde den bloßen und der Versorgungssicherheit abträglichen massenhaften Zubau volatiler Einspeisung begrenzen und vor allem den Druck erzeugen, Systemdienstleistungen bereitzustellen und, noch wichtiger, Speicherkapazitäten zu schaffen. Die mächtige Wind- und Solarlobby wird dies aber nicht zulassen. Eher gehen die Konventionellen in die Insolvenz, um dann vom Staat gerettet und wegen ihrer systemsichernden Rolle auch subventioniert zu werden.

Wirtschaftsgüter, Strom wie auch Tomaten, haben grundsätzlich einen Preis von größer Null, wenn der Markt funktionieren soll. Negative Preise sind die Perversion von Markt, ein Schritt zu seiner Zerstörung und hier eine Folge staatlicher Regulierung, die in eine Planwirtschaft führt.

Der Mörder ist nicht immer der Gärtner, aber in Deutschland ist am Ende immer der Stromkunde der Dumme.

 

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