Der deutsche Atomausstieg scheint in unserem östlichen Nachbarland offenbar wenig Begeisterung auszulösen. Die Polen streben das genaue Gegenteil an, den Einstieg auf sehr breiter Front.

von Thilo Spahl

Nach aktuellen Plänen sollen in den nächsten Jahrzehnten in Polen Kernkraftwerke wie Pilze aus dem Boden schießen. Es gibt konkrete Pläne und Vereinbarungen zur Entwicklung und Implementierung von großen Reaktoren, kleinen modularen Reaktoren (SMR) und Mikroreaktoren (MMR).

Der Startschuss erfolgte, als Ende 2022 die polnische Regierung bekanntgab, das US-Unternehmen Westinghouse für den Bau von sechs AP1000-Druckwasserreaktoren der Generation III+ mit einer Gesamtkapazität von 6 bis 9 GW ausgewählt zu haben. Im Februar haben dann Westinghouse und das polnische Unternehmen Polskie Elektrownie Jadrowe (PEJ) einen Vertrag über die Vorentwurfsarbeiten für das erste Kernkraftwerk des Landes abgeschlossen. Der Energieplan Polens sieht vor, dass der Bau der Anlage in der Gemeinde Choczewo in der Woiwodschaft Pommern, 250 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt an der Ostseeküste, in den nächsten Jahren beginnt und der erste Block 2032 oder 2033 in Betrieb genommen wird. Danach sollen sukzessive die weiteren Blöcke errichtet werden und bis 2040 in Betrieb gehen.

Bei den amerikanischen Reaktoren soll es aber nicht bleiben. ZE PAK, ein privater polnischer Energiekonzern, der derzeit Kohlekraftwerke betreibt, Polska Grupa Energetyczna, das staatliche Energieversorgungsunternehmen und der größte Stromerzeuger in Polen, sowie Korea Hydro & Nuclear Power haben eine Absichtserklärung über die Zusammenarbeit bei einem Kernkraftwerksprojekt in Patnow, in Zentralpolen, am Standort eines ehemaligen Kohlekraftwerks unterzeichnet. Bei diesem Projekt sollen Reaktoren südkoreanischer Bauart vom Typ APR-1400 zum Einsatz kommen. Der APR-1400 ist ebenfalls ein Reaktor der Generation III+ und wurde zuletzt von Korea auch in die Vereinigten Arabischen Emirate verkauft, wo die ersten drei von vier Blöcken des Kernkraftwerks Barakah 2020, 2021 und 2022 nach jeweils acht Jahren Bauzeit in Betrieb gegangen sind.

Kleine modulare Reaktoren

Noch mehr als auf die klassischen großen Reaktoren wie den AP1000 und den APR-1400 richtet sich das global aufflammende Interesse an der Kernenergie auf die kleinen modularen Reaktoren (SMR), die seit einigen Jahren weltweit von einer Vielzahl von Unternehmen entwickelt werden. Sie sind deshalb so interessant, weil sie kurze Bauzeiten, noch bessere Sicherheitsmerkmale und vor allem geringere Kosten durch standardisierte Serienfertigung und somit im Vergleich zu den Großprojekten deutlich bessere Planungssicherheit versprechen. Wenn alles gut geht, wird daher auch Polens erstes KKW, das noch in diesem Jahrzehnt in Betrieb gehen soll, ein SMR (oder ein noch kleineres MMR) sein. Und viele weitere sollen schnell folgen.

Die Firma Orlen Synthos Green Energy, ein Joint Venture zwischen dem Ölraffinerie- und Tankstellenbetreiber Polski Koncern Naftowy Orlen und dem Unternehmen Synthos Green Energy (SGE), plant, Dutzende von kleinen modularen Reaktoren in ganz Polen zu errichten. Zwischen 2029 und 2036 sollen 10.000 MWe Leistung gebaut werden. Zunächst ist der Bau von SMR-Kraftwerken an 10 ausgewählten Standorten geplant, von denen die ersten im April 2023 bekanntgegeben wurden. Nun beginnt eine genauere Prüfung der lokalen Voraussetzungen. Die Standorte sind: Ostrołęka, Włocławek, Stawy Monowskie, Dąbrowa Górnicza, Nowa Huta, die Sonderwirtschaftszone Tarnobrzeg und Warschau. Nach Angaben von SGE handelt es sich dabei um Standorte mit unter anderem „sehr energieintensiven Produktionsanlagen sowie um Standorte, die für Heizungszwecke optimal sind“.

Partner für das Vorhaben von SGE sind GE Hitachi Nuclear Energy (GEH), Tennessee Valley Authority (TVA) und Ontario Power Generation (OPG). Die GEH hat sich zur Entwicklung der Standardauslegung verpflichtet und rechnet mit einer Gesamtinvestition von rund 400 Millionen US-Dollar für die Entwicklung. Jeder Beteiligte hat sich bereit erklärt, einen Teil der Gesamtkosten zu finanzieren. Ziel ist es, dass das BWRX-300-Design bald in Kanada, den USA, Polen und darüber hinaus zugelassen und eingesetzt wird.

Der effektivste und schnellste Weg

Beim BWRX-300 handelt sich um einen kleinen Siedewasserreaktor auf der Basis des ESBWR, eines fortgeschrittenen Reaktorsystems der dritten Generation, der in den USA zertifiziert, aber noch nicht gebaut worden ist. Der BWRX-300 ist gegenüber dem ESBWR sehr stark vereinfacht worden und verwendet zahlreiche erprobte Komponenten und eine etablierte Lieferkette. Er verfügt über eine natürliche Kühlwasser-Zirkulation mit passiven Sicherheitssystemen. Sowohl in den USA als auch in Kanada wurde das Zulassungsverfahren bereits eingeleitet.

Der Reaktor kann innerhalb von 24 bis 36 Monaten auf einem Gelände von der Größe eines Fußballfeldes gebaut werden. Aufgrund der deutlich geringeren Investitionskosten und der kurzen Bauzeiten gilt das Programm zur Schaffung eines Netzes kleiner Kernkraftwerke derzeit als der effektivste und schnellste Weg, um den polnischen Energie- und Wärmesektor in Richtung Dekarbonisierung zu transformieren, sagt der Nationalen Fonds für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, der eine Kooperationsvereinbarung mit SGE geschlossen hat. Die Lebensdauer der Anlagen ist auf 60 Jahre ausgelegt. Die Stromerzeugungskosten sollen um 30 Prozent niedriger sein als in Gaskraftwerken. Ein SMR kann eine Stadt mit 150.000 Einwohnern mit Strom versorgen.

Noch wurde kein BWRX-300 gebaut. Am Standort des Darlington New Nuclear Project von OPG in Clarington, Ontario, laufen jedoch derzeit die Vorbereitungen. Die Fertigstellung des ersten Reaktors ist für Ende 2028 geplant. Es wird dann der erste SMR im Netzmaßstab in Nordamerika sein. Und vielleicht der Beginn einer neuen Ära der Kernenergie, bei der Polen zu den Pionieren zählen möchte. Laut Daniel Obajtek, CEO von Orlen, sind bis zu 79 BWRX-300 geplant. Nach Angaben der polnischen Nachrichtenagentur PAP soll diese Zahl bis 2038 erreicht werden. Das Unternehmen will seine Aktivitäten aber keineswegs auf Polen beschränken, es gibt auch Pläne für Großbritannien und andere osteuropäische Länder.

Der BWRX-300 ist jedoch nicht der einzige SMR, der in Polen gebaut werden soll. Polens Industria, ein staatlicher Konzern, der zur Agentur für industrielle Entwicklung JSC gehört, entschied sich Anfang Februar für die SMR-Technologie von Rolls-Royce SMR für das Projekt Central Hydrogen Cluster. Kernkraftwerke eignen sich nämlich auch hervorragend zur CO2-freien Erzeugung von Wasserstoff. Das geplante Wasserstoffzentrum soll jährlich bis zu 50.000 Tonnen des auch in Deutschland neuerdings hochbeliebten Gases produzieren. Laut Industrievertretern könnte das Projekt bis zu drei SMRs umfassen. Rolls-Royce SMR sagte, es sehe „Möglichkeiten, mehr als 8 GW kohlebefeuerte Kraftwerke in Südpolen in den 2030er Jahren durch SMRs zu ersetzen“.

Und noch ein dritter SMR steht auf dem Plan: Der polnische Kupfer- und Silberproduzent KGHM Polska Miedź SA hat im April beim Klimaministerium des Landes einen Antrag auf eine Grundsatzentscheidung über den Bau eines SMR gestellt, nachdem das Unternehmen vor einem Jahr eine Vereinbarung mit dem US-amerikanischen Unternehmen NuScale Power geschlossen hatte, um mit den Arbeiten für die Errichtung eines ersten NuScale VOYGR SMR-Kraftwerks in Polen 2029 zu beginnen. KGHM ist eines der größten polnischen Unternehmen und gleichzeitig einer der größten Energieverbraucher im Lande und strebt an, bis 2030 50 Prozent des von KGHM verbrauchten Stroms selbst zu produzieren.

Schließlich gibt es noch ein gemeinsames Projekt von EDF, dem weltweit größten Betreiber von Kernkraftwerken aus Frankreich, und Respect Energy, einem großen polnischen Ökostromhändler. Ziel ist der Bau von Kraftwerken mit einer Gesamtkapazität von 9 GW auf Basis des NUWARD SMR bis 2043, was rund 27 Kraftwerken entspräche.

Klein, kleiner, am kleinsten

Während die sogenannten kleinen modularen Reaktoren immer noch im Bereich der Kapazität eines großen Gaskraftwerks liegen, bietet die Nukleartechnik auch die Option, sehr kleine Reaktoren zur dezentralen Versorgung einzelner Industriekunden zu liefern.

Last Energy, ein US-amerikanisches Unternehmen für mikro-modulare Nukleartechnologie, hat mit vier Industriepartnern in Großbritannien und Polen Stromabnahmeverträge für 34 kleine modulare Reaktorblöcke (PWR-20) abgeschlossen. 10 davon sollen in Polen in der Sonderwirtschaftszone Katowice (KSSE) im Südwesten des Landes, in der 540 Unternehmen angesiedelt sind, zum Einsatz kommen. Das erste könnte 2026 in Betrieb genommen werden, so das Unternehmen. Der Deal umfasst Stromverkäufe im Wert von über 4,3 Milliarden US-Dollar während der Vertragslaufzeit und 1 Milliarde US-Dollar für Energie- und Infrastrukturinvestitionen in der Zone. Zuvor hat Last Energy schon einen ebenfalls zehn 20-MW-Kraftwerke umfassenden Vertrag mit der Sonderwirtschaftszone Legnica (LSSE) in Nordpolen abgeschlossen.

Last Energy sagt, dass sein DWR-20 aufgrund seiner kleinen, aber skalierbaren Kraft-Wärme-Kopplungsleistung in einzigartiger Weise geeignet ist, die rasche Dekarbonisierung der Industrie zu unterstützen. „Dieses Modell ermöglicht es uns, Strom und Prozessdampf/-wärme vor Ort zu erzeugen und mit dem Kundenbedarf zu wachsen. Das modulare luftgekühlte Design bedeutet, dass die Einheiten nicht durch das Vorhandensein von Wasserressourcen eingeschränkt sind – ein kommunaler Wasseranschluss oder ein Brunnen deckt den gesamten Wasserbedarf“, so das Unternehmen. Die Anlagen sollen vollständig im Werk hergestellt und „in nur drei Monaten vor Ort installiert werden“.

Es handelt sich um ein sogenanntes Power Purchase Agreement (PPA). PPAs sind Verträge, in denen sich Kunden verpflichten, Strom abzunehmen, der von einem Kraftwerk erzeugt wird, das von einem Projektentwickler installiert und betrieben wird. Zu den Bedingungen gehören häufig die Stromkosten, der Zeitpunkt, zu dem ein Projekt den kommerziellen Betrieb aufnehmen wird, ein Zeitplan für die Stromlieferung, Vertragsstrafen im Falle einer Unterlieferung und Zahlungsbedingungen. PPAs kommen seit einiger Zeit insbesondere auch bei Projekten im Bereich der erneuerbaren Energien zum Einsatz, da sie die Risiken sowohl für die Stromerzeuger als auch für die Käufer mindern können.

Ein weiteres Projekt im Bereich der Kleinstreaktoren verfolgen das polnische Chemieunternehmen Grupa Azoty PoliceUltra Safe Nuclear Corporation(USNC) aus Seattle und die Westpommersche Technische Universität. Sie haben eine Vereinbarung über den Bau einer Kernenergie-Forschungseinrichtung unterzeichnet, die auf der Technologie des Mikro-Modular-Reaktors (MMR) von USNC basiert. Der MMR ist ein gasgekühlter Hochtemperaturreaktor mit einer Leistung von 15 MW (thermisch) und 5 MW (elektrisch), der auf den Betriebserfahrungen der von China, Deutschland, Japan und den USA entwickelten Reaktoren aufbaut. Bis Ende des Jahres wollen die Parteien ein umfassendes Forschungsprogramm ausarbeiten und gemeinsam einen Plan für den Bau, den Betrieb und die Wartung des MMR entwickeln. Das USNC-System ist so konzipiert, dass es einfach ist, dank eines versiegelten, transportablen Kerns nur minimale Betriebs- und Wartungsanforderungen stellt und keine Lagerung, Handhabung oder Verarbeitung von Brennstoff vor Ort erfordert.

Polen hatte bisher keine Kernenergie. Was sagt die Bevölkerung, wenn jetzt nicht nur eins, sondern mittelfristig viele Dutzend Kernkraftwerke gebaut werden sollen? Die Zustimmung ist sehr hoch. In einer groß angelegten Online-Umfrage wurden zwischen November 2022 und Januar 2023 in acht Ländern – Frankreich, Deutschland, Japan, Polen, Südkorea, Schweden, Großbritannien und den USA – 13.500 Bürger nach ihrer Einstellung zur Kernenergie befragt. In Polen waren die Zustimmungswerte am höchsten. 84 Prozent der Befragten befürworten die fortschrittliche Kernenergie, 9 Prozent lehnen sie ab, mehr als 75 Prozent sind der Meinung, dass Kernenergie notwendig ist, um die Klimaziele zu erreichen.

Und im Land, in dem die Kernenergie gerade nach heldenhaftem, 40-jährigem Kampf als endgültig besiegt gilt – wie sieht es bei uns in Deutschland aus? Naja, es hat immerhin noch für eine knappe Mehrheit gereicht, 51 Prozent befürworten moderne Kernenergie.

 

Thilo Spahl ist Diplom-Psychologe und lebt in Berlin. Er ist freier Wissenschaftsautor, Mitgründer des Freiblickinstituts und Novo-RedakteurDieser Beitrag erschien dort zuerst: Novo-Argumente.

 

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