Zwanzig Energie-Experten rufen zu einer realitätspolitischen Wende auf. Publico dokumentiert ihren Appell, mit dem die Unterzeichner eine öffentliche Debatte erzwingen wollen

Von Alexander Wendt

 

Auf der Tagung „20 Jahre Energiewende – Wissenschaftler ziehen Bilanz“ an der Universität Stuttgart am 8. und 9. Juli 2022 widmete sich eine Reihe von Experten der Aufgabe, die energiepolitischen Pläne der aktuellen Bundesregierung und der Regierungen vor 2021 einer Realitätsüberprüfung zu unterziehen.

Ihr Fazit lautete: Egal, ob es um die Energieerzeugung, ihre Speicherung, den Netzausbau oder die Frage der Bezahlbarkeit geht – zwischen der Vorstellung in der Politik und den begleitenden Erzählungen in vielen Medien einerseits und der Wirklichkeit klafft eine Lücke, die sich auch bei noch so großer Anstrengung in absehbarer Zeit nicht schließen lässt.

Spätestens seit sich das Vorhaben nicht mehr verwirklichen lässt, bis 2030 dreißig bis sechzig neue mit russischem Gas belieferte Gaskraftwerke zu errichten, die den Strom aus Atom- und Kohlekraftwerken ersetzen und die nötige Regelenergie liefern sollten, wenn der Wind nicht ausreichend weht und die Sonne nicht scheint, brach die zentrale Stütze des Energiewende-Designs zusammen. Einen Alternativplan legte die Bundesregierung bisher nicht vor.

Die Debatte innerhalb des politischen Betriebs und in einem Teil er Medien konzentriert sich zurzeit auf einen Weiterbetrieb der letzten drei verbliebenen Kernkraftwerke für einige Monate über das Jahresende 2022 hinaus. Gleichzeitig plädieren Politiker, die bisher die Reduzierung des CO2-Ausstoßes zum obersten Ziel erklärt hatten, für eine sehr viel stärkere Kohleverstromung, um nicht eingestehen zu müssen, dass es sich bei dem deutschen Atomausstieg um einen irrationalen Sonderweg handelt, der die Energieversorgung des größten europäischen Industrielandes aufs Spiel setzt. Derzeit steht übrigens noch nicht einmal fest, ob sich die notwendige zusätzliche Steinkohlemenge überhaupt zuverlässig zu den Kraftwerken transportieren lässt.
Eine Betriebsverlängerung der Atomkraftwerke nur um einige Monate würde das grundsätzliche Problem nur ein weiteres Stück in die Zukunft verschieben.

Auf Anregung von Professor André Thess, Organisator der Tagung und Inhaber des Lehrstuhls für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart fanden sich Wissenschaftler von 12 Universitäten und Hochschulen und dem Karlsruher Institut für Technologie zusammen, um Politik und Öffentlichkeit mit der „Stuttgarter Erklärung“ zu einer Art Realitätswende aufzurufen: weg von immer neuen hektischen Kurswechseln, hin zu einer langfristig stabilen und bezahlbaren Energieversorgung, die es ihrer Ansicht nach nicht ohne Kernenergie geben kann.
Die Erklärung wurde am 26. Juli beim Petitionsausschuss des deutschen Bundestages eingereicht. Erhält sie mehr als 50 000 Unterschriften, muss ihre Forderung im Parlament behandelt werden: die Rücknahme des Atomausstiegs.

Ziel der Erklärung ist es außerdem, über das parlamentarische Verfahren hinaus eine Debatte in Deutschland anzustoßen, bei der Wissenschaftler mehr und anders zu Wort kommen als bisher.

Publico dokumentiert ihren Wortlaut.

 

Stuttgarter Erklärung

25. Juli 2022

Mit einseitiger Ausrichtung auf Sonne, Wind und Erdgas wurde Deutschland in Energienot manövriert. Steigende Energiepreise und sinkende Versorgungssicherheit gefährden Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand. Das Festhalten am deutschen Atomausstieg verschärft diese Gefahren und bremst – zusammen mit anhaltender Kohleverstromung – den internationalen Klimaschutz. Der Weltklimarat IPCC bezeichnet die Kernenergie als ein Instrument des Klimaschutzes. Die Europäische Union ordnet Kernenergie als nachhaltige Energiequelle ein. Auf dieser Grundlage plädieren wir für den Weiterbetrieb der deutschen Kernkraftwerke als dritte Klimaschutzsäule neben Sonne und Wind. Wir fordern die sofortige Aufhebung der Atomausstiegs-Paragraphen (insbesondere §7 Atomgesetz) und eine Prüfung der sicherheits- technischen Betriebserlaubnis, um deutschen Kernkraftwerken den Weiterbetrieb zu ermöglichen.

Prof. Dr. André D. Thess, Universität Stuttgart
Prof. Dr. Harald Schwarz, BTU Cottbus-Senftenberg
Prof. Dr. Michael Beckmann, TU Dresden
Prof. Dr. Burak Atakan, Universität Duisburg-Essen
Prof. Dr. Alexander Dilger, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Prof. Dr. Francesca di Mare, Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Kerstin Eckert, TU Dresden
Prof. Dr. Sabine Enders, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Prof. Dr. Martina Hentschel, TU Chemnitz
Prof. Dr. Dr. Rafaela Hillerbrand, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Prof. Dr. Antonio Hurtado, TU Dresden
Prof. Dr. Matthias Kind, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Prof. Dr. Marco Koch, Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Andrea Luke, Universität Kassel
Prof. Dr. Axel Meyer, Universität Konstanz
Prof. Dr. Frank R. Schilling, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Prof. Dr. Klaus Steigleder, Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Robert Stieglitz, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Prof. Dr. Gerhard Wegner, Universität Erfurt
Prof. Dr. Thomas Wetzel, Karlsruher Institut für Technologie (KIT

Der Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors hier

 

image_pdfBeitrag als PDF speichernimage_printBeitrag drucken