Mit dem Ausstieg aus der Kernenergie sind wir zum Netto-Stromimporteur geworden. Nicht so schlimm, das sei halt marktgerecht, sagen die einen. Was, wenn jetzt alle dem „Vorreiter“ Deutschland folgen würden? Zum Glück tut das kein einziges Land der Welt und unsere Nachbarn werden uns Strom liefern können, hoffentlich immer zur rechten Zeit die rechte Menge. 

Von Frank Hennig

Kernenergie ist Teufelszeug, das ist spätestens seit 1998 eine Staatsräson. Fast die dritte Generation deutscher Kinder und Jugendlicher bekommt dies von Kindheitsbeinen an eingetrichtert. So wurde der Boden bereitet, der schon bei Aufruf des Themas in breiten Teilen der Bevölkerung einen Pawlowschen Reflex auslöst. Das Instrument Angst wurde und wird erfolgreich eingesetzt.

2011 stimmte nicht nur eine Mehrheit im Bundestag, sondern auch eine Mehrheit der Menschen im Land dem Atomausstieg zu. 13 Jahre später ist die Welt eine andere, wie auch die öffentliche Meinung. Naturstrom ist immer noch unfähig, Versorgungssicherheit herzustellen, und die Klimaangst erreicht den Stand der Atomangst, sodass fast parallel zum Atomausstieg der Kohleausstieg eingeleitet wurde. Das sah man 2011 mit der Änderung des Atomgesetzes zum Zweck des Ausstiegs noch anders. Zwei Bedingungen waren für die Abschaltung der Kernkraftwerke genannt worden: der Bau der großen Nord-Süd-Leitungen (Sued-Link und andere) sowie der Bau hochmoderner Kohlekraftwerke als Ersatz. Beide Punkte wurden nicht erfüllt, abgeschaltet wurde trotzdem. Proteste aus Bayern und Baden-Württemberg gab es zumindest bis kurz vor Ultimo nicht.

Die großen Trassen werden frühestens 2028 Strom je nach Windaufkommen in den Süden transportieren. Neue Kohlekraftwerke gab es nur wenige, im Fall Hamburg-Moorburg wurde eines der weltweit modernsten nach nur sechs Jahren Betrieb wieder stillgelegt. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, sagte sich Eigentümer Vattenfall, beteiligte sich an den Ausschreibungen zur Stilllegung und bekam noch Geld dafür, die Feuer zu löschen. Wiederum viel Geld wird gebraucht für die Umsetzung der sogenannten Kraftwerksstrategie, also für den beabsichtigten Bau vieler Gaskraftwerke. Fossil für Fossil. Wir seien ein reiches Land, sagt man.

Standhaft wird behauptet, der Ausstieg aus Kernkraft und Kohle sei richtig. Damit diese offizielle Sicht der Regierung weiter akzeptiert wird, muss das entsprechende Framing dauerhaft betrieben werden. Am Ende würde eine Akzeptanz der Kernkraft den heiligen Satz, das zentrale Mantra der Energiewende, erschüttern: „Wir brauchen mehr Erneuerbare!“ Die Menschen würden umso deutlicher fragen, ob der Einschlag von Wäldern für Windkraftanlagen und die Versiegelung von Flächen durch ökologisch tote Photovoltaik-Anlagen überhaupt sinnvoll seien.

Der fast Tag genau am 15. April 2023 mit der Netztrennung der verbliebenen drei Kernkraftwerke einsetzende bilanzielle Stromimport wird dahingehend uminterpretiert, dass es vor allem Ökostrom sei, der uns geliefert wird. Dazu muss als Präzedenzfall das Lieferland Dänemark herhalten, von dem 2024 bisher tatsächlich mehr Strom als aus Frankreich zu uns kam.

Strom unter dem Dannebrog

Richtig ist, dass Wind und Biomasse im dänischen Erzeugungsmix gut vertreten sind. Ebenfalls sind Erdgas, aber auch Steinkohle enthalten. Insgesamt ist das dänische Portfolio zu gering, um deutsche Wünsche zu erfüllen, insbesondere in wind- und sonnenschwachen Zeiten. Windstrom aus Dänemark brauchen wir angesichts der Vielzahl eigener Anlagen nicht.

Das kleine freundliche Land mit knapp sechs Millionen Einwohnern hat kein Problem mit der eigenen Versorgung. Es gibt wenig Schwerindustrie und die Lage im europäischen Netz ist günstig. Kabel- und Leitungsverbindungen nach Großbritannien, den Niederlanden, Norwegen, Schweden und Deutschland schaffen Sicherheit, jemand von denen kann immer liefern und der Bedarf ist mit etwa 35 Terawattstunden pro Jahr, so viel wie Hessen, überschaubar.

Dennoch schaut Dänemark in Richtung Kernkraft. Copenhagen Atomics forscht an Thorium-Reaktoren und auch an SMR („small modular reactors“) besteht Interesse. Selbst Norwegen denkt über Investitionen in SMRs nach, bei mehr als 90 Prozent Wasserkraft im eigenen Netz. Warum das selbst die Ökostrom-Musterländer tun, sollte tieferes Nachdenken bei unseren Energiewendern auslösen.

Das ist natürlich kein Thema für deutsche sogenannte Qualitätsmedien. Die Aufgabe für unsere Regierungsbegleitenden besteht darin, die Stromimporte auf „billigen“ Ökostrom zurückzuführen und die Erwähnung importierten Stroms aus Kernkraft zu vermeiden. Bei näherer Betrachtung der Zahlen wird allerdings deutlich, dass unser nördlicher Nachbar vor allem Transitland ist. Norwegische Wasserkraft, schwedische Wasser- und Kernkraft, dazu in Teilen Strom aus Biomasse und fossiler Strom kommen via Dänemark zu uns.

Die Grande Stromnation

Erhebliche Strommengen fließen aus Frankreich zu uns, das lässt sich auch medial nicht uminterpretieren. Waren vor Kurzem noch schlechte Verfügbarkeiten französischer Kernkraftwerke (KKW) dankbares Anti-Atom-Argument, so ist dies inzwischen entfallen. Nun taucht ein neues Problem auf. Französische KKW könnten zwar über die Grenzen liefern, sogar mehr als bisher, aber seit Anfang März sind die Exporte über die Ostgrenzen in Richtung Belgien, Deutschland, Schweiz und Italien so groß, dass eine Gefahr für das französische Netz entsteht.

Besondere Maßnahmen seien notwendig, zeitweise müssten die Exportmengen begrenzt werden, sagt der Netzbetreiber RTE. Das hat Folgen. Die für den Mai gehandelten Strompreise für französischen Strom liegen in Deutschland mehr als doppelt so hoch als in Frankreich. Die europäische Netzsituation gibt inzwischen einige Rätsel auf, es kommt zu größeren Frequenzsprüngen, ohne dass die Ursache eindeutig zu benennen ist, und die Ausregelung dieser Schwankungen dauert merkwürdig lange.

Drei atomstromfreie Länder sind die größten Stromimporteure in Europa. Sie werden zur Belastung und zum Risiko des europäischen Netzbetriebes: Italien, Deutschland und Österreich. Die Deutschsprachigen sind vehement in ihrer Ablehnung eigener Kernkraftkapazitäten, greifen aber gern auf solchen Strom aus Frankreich, Belgien, der Schweiz, Tschechien, Ungarn, Slowenien und Schweden zurück, wenn eigener Strom knapp oder zu teuer ist. Bisher war Deutschland ein sicherer Exporteur von Strom via Schweiz nach Italien. Tempi passati. Die Regierung Meloni erwägt inzwischen den Atomeinstieg, aber wenn es dazu kommt, braucht es Zeit.

Mehr „Erneuerbare“ brauchen wir nicht

Durch den starken Ausbau von Windkraftanlagen und Photovoltaik in Deutschland werden die ins System eingetragenen Schwankungen immer größer, oft wird zu viel Ökostrom erzeugt. Am 14. April um 11:30 Uhr lieferten Wind, Solar und die Laufwasserkraft in Deutschland mehr als 52 Gigawatt (GW) bei einem Bedarf von knapp über 49 GW. Das heißt, es war keine (ergänzende) Residuallast mehr nötig. Der Überschuss musste dringend außer Landes geschafft werden, unter Zugabe eines Geldbetrages von 60 Euro pro Megawattstunde. Wurde damit unsere Vollversorgung durch die „Erneuerbaren“ erreicht? Nein, auch hier muss wieder Wasser in den Wein gekippt werden. Zum gleichen Zeitpunkt waren Braunkohle-, Steinkohle- und Gaskraftwerke mit einer Leistung von 5,4 GW am Netz.

Warum denn das? Zum einen, um Wärmelieferverträge zu erfüllen. In Anlagen mit Kraft-Wärmekopplung (KWK) kann man Wärme ohne gleichzeitige Stromproduktion nicht liefern. Zum anderen, weil ohne rotierende Massen die Momentanreserve im Netz nicht gegeben ist und die so genannten Systemdienstleistungen (Frequenz- und Spannungshaltung) von den „Erneuerbaren“ nicht geliefert werden können. Jede neue Windkraftanlage, jede neue PV-Anlage, die ins Netz einspeist, erhöht die Systemkosten.

Nun einigten sich die G7-Staaten auf einen Kohleausstieg bis 2035, was in Deutschland heftig begrüßt wird. Das fällt den anderen leicht, weil sie Kernkraft nutzen, mit Ausnahme Italiens, das aber kaum Kohle verstromt. Ausgerechnet Deutschland, das mit dem Ersatz von Kohlestrom die größten Probleme bekommt, jubelt darüber. Die anderen freuen sich im Wissen darüber, dass die deutsche Wirtschaftskraft dadurch enorm geschwächt wird.

Diese einigermaßen irre Netzsituation ist dem Energiewende-Missmanagement geschuldet, das zum einen den Zubau volatiler Erzeuger nicht mit dem Netzausbau harmonisiert und zum anderen diese vor allem nicht für den regelbaren Netzbetrieb in die Pflicht nimmt. Im Gegenteil, die anarchischen Regelungen aus dem Ur-EEG, der Einspeisevorrang und die Entschädigung für nicht ableitbaren Strom („Phantomstrom“) haben immer noch Bestand.

Das Netz stellt gnadenlose 50 Hertz als Bedingung, sodass sich immer mehr die Frage der Regelung stellt. Schon zur Ausregelung unserer eigenen Lastschwankungen sind wir auf die Hilfe der Nachbarn angewiesen. Zeitweise exportieren wir tagsüber den Sonnenstrom, mit sinkender Sonne setzt der Import ein – zu höheren Preisen.

Heraus zum 1. Mai!

Am 1. Mai gab es eine klassische „Hellbrise“, das Gegenstück zur Dunkelflaute. Unsere Vorfahren arbeiteten Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte daran, in der Energieversorgung unabhängig von den Launen der Natur zu werden, und sie hatten es geschafft. Unser Kurs geht zurück ins energetische Mittelalter. Dunkelflaute wie Hellbrise bringen das System an den Rand der Funktionstüchtigkeit.

An diesem Tag verschenkten wir wieder erhebliche Strommengen ins Ausland unter Zugabe von Geld. Zwischen 10 und 17 Uhr lagen die Börsenpreise im Minus, in der Spitze nach unten bei minus 120 Euro pro Megawattstunde. Die zahlt der deutsche Stromkunde und aus seinem Steuergeld wird die EEG-Umlage für diesen überflüssigen Strom bezahlt. Das ist die Folge, wenn grünökologische Planwirtschaft auf den europäischen Strommarkt trifft.

Zeitweise importieren wir auch durchgängig, wie an den Werktagen der 17. Kalenderwoche. Regelbare Kapazitäten werden abgebaut, Zufallsstromerzeuger zugebaut. Dieser Trend wird sich fortsetzen, bis die Netzbetreiber zu rigiden Maßnahmen gezwungen sein werden, die hoffentlich einen Blackout verhindern.

Propagandistisch wird uns das grüne Zukunftsparadies erhalten bleiben. Es wird immer weiter in die Zukunft verschoben oder man wird in bewährter Weise beim Scheitern nach Schuldigen suchen. Dazu kommen mehrere in Frage, zum Beispiel alte weiße Männer, die tumbe Landbevölkerung, Putin, der Klimawandel, die CSU, Schröder, soziale Medien, Sahra Wagenknecht oder eine besonders verhasste Partei, die aber nicht regiert. Erkenntnisprozesse dauern in Deutschland immer etwas länger. In 30 Jahren wird die Kernenergie vielleicht kein Teufelszeug mehr sein, wenn dann grüne Politikfossilien keine Deutungsmacht mehr haben. Menschen sind lernfähig, der Pawlowsche Reflex wirkt begrenzt.

Hoffen wir bis dahin auf immer ausreichend Strom von unseren Nachbarn.

Daten: https://energy-charts.info/charts/power/chart.htm?l=de&c=DE

Der Beitrag erschien zuerst bei TE hier

 

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