von Edgar L. Gärtner

Électricité de France (EDF) war noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Stolz Frankreichs. Die Franzosen bezahlten für ihren Strom dank bis zu 75 Prozent Kernenergie und eines bedeutenden Anteils alpiner Wasserkraftwerke nur etwa halb so viel wir ihre deutschen Nachbarn. Zwar hatte bereits der Sozialist François Mitterand im Präsidentschaftswahlkampf von 1981 den Ausstieg aus der Kernenergie versprochen. Tatsächlich wurden aber zu Beginn seiner relativ langen Amtszeit mehr Kernkraftwerke in Betrieb genommen als jemals zuvor. Noch konnte sich der gesunde Menschenverstand gegen grün-sozialistische Utopien durchsetzen.

In Ihrer großen Mehrheit war den Franzosen damals noch bewusst, dass sie nur unter großen Opfern zu ihrer relativ bequemen Versorgungslage hatten gelangen konnten. Im Jahre 1946, nach der Befreiung Frankreichs von der nazistischen Besatzung, stand das Land mit beinahe nichts da. Es gab nur geistiges Kapital in Gestalt der Erfahrungen der „Résistance“ gegen den Nazismus und der Entdeckungen der beiden Nobelpreisträger Jean Frédéric und Irène Joliot-Curie, beide als Sympathisanten der Kommunisten in der internationalen Friedensbewegung engagiert. Die Gründung von EDF ging maßgeblich auf den kommunistischen Gewerkschafter Marcel Paul zurück. Das Unternehmen blieb bis in die jüngste Zeit eine Hochburg der Linken CGT mit beneidenswerten Gehältern und Sozialleistungen. 1948 taten sich die Anhänger General de Gaulles mit den Kommunisten zusammen, um den ersten kleinen Kernreaktor namens „Zoé“ zu bauen, dessen Prototyp sie vor den Nazis verbergen konnten. Frédéric Joliot-Curie wurde 1946 erster Hochkommissar des französischen Atomenergie-Sekretariats. Er trat aber 1950 wieder zurück, weil er sich mit seinem Team weigerte, an der französischen Atombombe mitzubauen.

Da der französische Staat in den 1950er Jahren wegen des Indochina-Krieges, des Suez-Krieges und des Algerienkrieges nie weit von der Pleite war, konnte die zivile Kerntechnik nur langsam entwickelt werden, zumal die militärische „Force de Frappe“ unter de Gaulle Vorrang genoss. Stattdessen wurden in den Alpen und in den Pyrenäen riesige Stauseen angelegt. Hinzu kamen Staustufen am Rhein-Seitenkanal und an der Rhône. Wasserkraftwerke machten zu Beginn der 1960er Jahre um die 70 Prozent der französischen Elektrizitätserzeugung aus. Im Laufe der 1960er Jahre kamen dann etliche Ölkraftwerke hinzu, um die wachsende Nachfrage der nach dem Ende der Kolonialkriege boomenden Industrie zu befriedigen. In dem neu aus dem Boden gestampften Hafen von Fos-sur-Mer in der Nähe von Marseille konnten die Supertanker direkt ins Kraftwerk einlaufen. Ähnlich war es in Le Havre am Ärmelkanal. Kohlekraftwerke gab es nur in Lothringen und in Gardanne bei Aix-en-Provence. Zwischen 1959 und 1972 entstanden in Frankreich nur neun kleinere gasgekühlte und graphitmoderierte Kernreaktoren, die mit Natururan auskamen. Im Jahre 1973, vor der Verkündung des ehrgeizigen Nuklearprogramms von Premierminister Pierre Messmer (unter Staatspräsident Georges Pompidou), erreichte der Kernenergieanteil an der französischen Elektrizitätserzeugung gerade einmal 8 Prozent.

Dann ging auf einmal alles schnell. Die Regierung Messmer wartete nicht auf Signale aus Brüssel, wo den nationalen Regierungen angesichts der ersten „Ölkrise“ nahegelegt wurde, auf die Kernenergie umzusteigen. Die französische Regierung gab ihren eigenen Reaktortyp auf und kaufte vom US-Konzern Westinghouse eine Lizenz zum Serienbau von Druckwasserreaktoren. Das erste Kernkraftwerk dieses Typs wurde beim elsässischen Fessenheim am Rhein in der Nähe von Freiburg in Angriff genommen. Danach folgte Bugey an der Rhône in der Nähe von Lyon. Deren Bau gestaltete sich zwar länger als geplant. Doch ging es wegen der Serienproduktion deutlich schneller voran als in Deutschland, wo nach der „Ölkrise“ unter Bundesforschungsminister Hans Matthöfer (SPD) ein ähnlich ehrgeiziges Nuklearprogramm beschlossen worden war. Dort traf der Plan allerdings sofort auf heftigen Widerstand von Bürgerinitiativen. Im Jahre 1980 nahmen sieben französische Kernkraftwerke ihren Betrieb auf, im Jahre 1981 sogar acht. 1983 kam schon fast die Hälfte des französischen Stroms aus Kernkraftwerken, 1990 zu etwa drei Vierteln.

Nennenswerter Widerstand regte sich in Frankreich erst, als sich bei den Kernkraftwerken bedeutende Überkapazitäten abzeichneten. Die Prognosen des Wirtschaftswachstum in den „Trente Glorieuses“ (den drei Jahrzehnten des „Wirtschaftswunders“ nach der Kolonialzeit) erwiesen sich als zu optimistisch, zumal sich das Wirtschaftswachstum in Frankreich mehr und mehr auf den Dienstleistungssektor konzentrierte, während der Beitrag der stromfressenden Schwerindustrie zum BIP zunächst stagnierte und später sogar deutlich schrumpfte. Gegen Ende der 1980er Jahre waren die Kernreaktoren von EDF nur zu etwa 60 Prozent ausgelastet. Der monopolistische Stromkonzern forcierte deshalb den Stromexport nach Italien und später auch nach Deutschland.

Schon 1997 bekam EDF einen Schuss vor den Bug, indem der französische Staatspräsident Lionel Jospin, der sozialistische bzw. trotzkistische Nachfolger Mitterands, zum Jahresende 1998 die endgültige Stilllegung des Prestige-Projekts des „Schnellen Brüters“ Superphénix bei Creys-Malville an der Rhône verfügte. An diesem mit großen Zukunftshoffnungen verbundenen Projekt (Nachfolger des kleineren Brut-Reaktors „Phénix“, der bis 2010 in Betrieb war) war nicht nur EDF, sondern auch die italienische ENEL und indirekt auch das deutsche RWE beteiligt. Der Reaktor erreichte nie seine Nennleistung von 1.200 Megawatt, weil er wegen Korrosionsproblemen im Natrium-Kühlsystem für längere Zeit ausfiel und nicht wieder voll hochgefahren werden konnte. Schon während der relativ langen Bauzeit des Reaktors kam es zu Massenprotesten von französischen, schweizerischen, italienischen, belgischen und deutschen Grünen und Kommunisten. Es gab etliche Sabotageversuche und in der Nacht zum 18. Januar 1982 sogar einen Angriff mit einem tragbaren sowjetischen Raketenwerfer. Zwei der abgefeuerten Geschosse explodierten, hinterließen aber nur geringen Schaden an dem noch im Bau befindlichen Kraftwerk. Im Mai 2003 bekannte sich Chaïm Nissin, ein Mitglied der Schweizer Grünen, zu dem Anschlag. Die Waffen waren vom Top-Terroristen Illich Ramirez Sánchez („Carlos“) von Ost-Berlin nach Belgien geschmuggelt worden. Lionel Jospin begründete den Stopp des Brüter-Projekts mit dessen ungünstigen Kosten-Nutzen-Verhältnisses. Es entstanden über 9 Milliarden Euro Kosten und kaum Gewinne, da das Kraftwerk während der Stillstände wegen der Notwendigkeit der Aufheizung des Natriums über längere Zeiträume mehr Energie verbrauchte als erzeugte.

Nach der endgültigen Schließung des Brüters von Creys-Malville bekam die französische Nuklearindustrie nie mehr Ruhe. Ähnlich wie ihre deutschen Genossen rückten die französischen Sozialisten von der Unterstützung der Kernenergie ab, als sie sich in der Opposition befanden. Als die Sozialisten im Juni 2012 mit dem Sieg François Hollandes in der Stichwahl gegen Nicolas Sarkozy wieder ans Ruder kamen, wurde jedoch kein einziges Kernkraftwerk abgeschaltet. Erst unter dem jetzigen Präsidenten Emmanuel Macron (im Juni 2020) wurde die im November 2011 von den Sozialisten und den Grünen erhobene Forderung, das Kernkraftwerk Fessenheim sofort stillzulegen, umgesetzt. Das Abkommen zwischen den Sozialisten und den Grünen sah darüber hinaus vor, im Falle eines linken Wahlsiegs im Jahre 2012 nicht weniger als 24 von damals 58 Kernreaktoren bis zum Jahre 2025 vom Netz zu nehmen.

Henri Proglio, der damalige Chef von EDF, erzählte in diesem August auf einem Seminar der Stiftung „Res publica“, dass die ahnungslosen Grünen überrascht waren, als die Sozialisten ihnen die Stilllegung von 24 Kernkraftwerken vorschlugen, denn sie wollten eigentlich nur die Abschaltung der zwei Reaktoren von Fessenheim, weil sie durch Google-Recherche im Internet erfahren hatten, dass das die ältesten noch laufenden Reaktoren in Frankreich waren. Die Grünen erfuhren über Google aber nicht, dass EDF gerade anderthalb Milliarden Euro in die Modernisierung dieses Kraftwerks investiert hatte und dass dieses von der französischen Autorité de sûreté nucléaire (ASN) gerade als sicherstes Kernkraftwerk Frankreichs eingestuft worden war. Im Endeffekt trugen die Grünen die maßlose Forderung der Sozialisten mit. Es kostete sie ja nichts. Seither beherrscht die Forderung nach einer Senkung des Anteils der Kernenergie an der Stromversorgung von 75 auf 50 Prozent wie ein religiöses Dogma den energiepolitischen Diskurs in Frankreich. Niemand weiß, woher dann beim gegebenen Anteil der Wasserkraft die fehlenden 25 Prozent der Grundlast kommen sollen.

Erst vor wenigen Wochen kam endlich Bewegung in die Debatte. Am 21. August 2023 verlängerte die ASN die Laufzeit des Reaktors Nr. 1 des KKW Tricastin in Südfrankreich um 10 Jahre, d.h. auf insgesamt 50 Jahre. Es wird erwartet, dass das nur ein Anfang ist. In den USA wurde die Laufzeit baugleicher Reaktoren schon auf 60 Jahre verlängert. Die ASN wird sich vermutlich etwas Zeit lassen mit weiteren Laufzeitverlängerungen. Denn das im letzten Jahr nach der Entdeckung von Spannungsrissen an Schweißnähten von Kühlleitungen von französischen Kernkraftwerken der 1500 MW-Klasse angelaufene umfassende Revisionsprogramm ist noch nicht abgeschlossen. Da neben dem Revisionsprogramm auch noch die wegen des Corona-Lockdowns ausgefallenen KKW-Wartungen nachgeholt werden mussten, standen im vergangenen Jahr zeitweise 26 von 56 französischen Kernreaktoren Monate lang still. Das bescherte EDF einen Jahresverlust von fast 18 Milliarden und einen Schuldenstand von fast 65 Milliarden Euro. (Wir haben darüber berichtet.) So führte anscheinend kein Weg mehr an der vollständigen Verstaatlichung der früher autonomen Aktiengesellschaft (mit staatlicher Aktienmehrheit) vorbei. Der ehemalige EDF-Chef Henri Proglio glaubt allerdings nicht, dass das Unternehmen damit gerettet ist. Ich würde mich nicht wundern, wenn Emmanuel Macron bei einer weiteren Zuspitzung der französischen Finanzlage versuchte, EDF zu zerpflücken, um Teile davon am internationalen Kapitalmarkt anzubieten. Das würde sicher einen Aufstand auslösen…

 

 

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