Kohle statt Gas, lautet die jüngste Devise selbst der Grünen. Energiepolitikern flattern die Nerven. selten gab es so viele Kehrtwenden und Meinungsumschwünge wie dieser Tage. Fest im Glauben. dünn im Wissen und fernab der Realitäten zeigt sich die deutsche Energiepolitik

von Frank Hennig

Noch im vergangenen Jahr galt Erdgas als die saubere Brücke in die grüne Wunderwelt. Aber nicht nur Annalena Baerbock wachte am 24. Februar in einer anderen Welt auf. Die jahrelang gepriesene Brückentechnik Erdgas war im Tal harter globaler Realitäten versunken. Die Ampelregierung wird nun mit einer mehrdimensionalen Krise konfrontiert.

Gleichwohl hält es die Ampel für geboten, weiter am „idealerweise“ stattfindenden Kohleausstieg 2030 festzuhalten. Zunächst aber wollen zumindest einige Grüne die Kohle stärker nutzen, um Putin allenfalls auch mit einem Energie-Embargo drohen zu können. Es sei zwar „extrem bitter“, aber um sich von russischen Lieferungen unabhängiger zu machen, müsse Deutschland „die Kohlekraftwerke intensiver laufen lassen“, erklärte zum Beispiel Anton Hofreiter in der Talkshow Markus Lanz im April.

Mittel- bis langfristig stellt man sich vor, dass der Kohlestrom dann durch Windmühlen und Solaranlagen ersetzt werden kann. So sollen ab 2025 jährlich zehn Gigawatt (GW) installierter Leistung im Bereich Wind onshore gebaut werden. Der bisherige Spitzenwert lag 2017 bei 5,6 GW. Offshore betrug der Zubau 2021genau null, bis 2030 sollen fast vier GW jährlich dazukommen.

Wie das realisiert werden soll, steht indes in den Sternen. Die Industrie schwächelt. So haben die Turmbauer in Magdeburg und Fürstenwalde den Betrieb eingestellt, der Stahl ist zu teuer. Auch die Rotorblattfertigung in Lauch­ hammer und Rostock gibt es nicht mehr. Arbeitskosten und vor allem die Energiepreise sind im internationalen Wettbewerb nicht mehr darstellbar. Dazu passt die Bewertung der Wirtschaftsberatung EY, dass ausländische Investoren das Interesse an Deutsch­land verlören, während Frankreich und Großbritannien deutlich zulegten. Teure Energie, Bürokratie und immer weniger Fachpersonal seien die Gründe.

Kein Wunder, dass die Bestellungen für neue Windkraftanlagen angesichts dieser Schwierigkeiten zurückgehen. Die Ausschreibungsrunde im Mai er­brachte nur Gebote für 931 Megawatt (MW) bei einem Ausschreibungsvolu­men von 1320 MW.

Mittel- bis langfristig stellt man sich vor, dass der Kohlestrom dann durch Wind­ mühlen und Solaranlagen ersetzt werden kann

Das Klimaministerium erwägt nun staatliche Ausfallbürgschaften, um Betreiber-Insolvenzen zu vermeiden.„Die Anlagenbauer könnten so drauflosproduzieren“, sagt Oliver Krischer, bis vor kurzem einer der drei Parlamentarischen Staatssekretäre im Ministerium von Robert Habeck, jetzt Umweltminister in NRW Ein Traum wird wahr für die Branche.

Die Teile der Windkraftanlagen kommen künftig also ganz überwiegend aus dem Ausland, in Fragen der Abhängigkeit tauschen wir Russland gegen China aus. Immerhin entfallen dadurch hierzulande Produktion s-Emissionen. Wie groß die Rohstoff- und Materialmengen für den geplanten Zubau an Wind- und Solarstromanlagen sind und wo sie herkommen sollen, darüber hat sich offensichtlich noch niemand Gedanken gemacht.

Grüne Zwischenwelt

Die Aufforderung Robert Habecks nach dem Beginn des Ukraine-Krieges, nun „ohne Denkverbote zu denken“ – ein Eingeständnis, dass es vorher nicht so war -, führte zur unmittelbaren Reaktion seiner Parteifreundin Steffi Lemke (einer ausgebildeten Zootechnikerin). Kernkraft sei zu gefährlich, hielt die Umweltministerin dem Vizeka nzler das alte grüne Mantra entgegen. Dem alten Denken ist auch Habecks Staatssekretär Patrick Graichen noch verhaftet. Er fordert kommunale Unternehmen auf, schon jetzt den Rückbau der Gasnetze zu planen , denn 2045 seien alle Heizungen strombasiert.

Unterdessen läuft in Brandenburg das Projekt „Zukunftsnetz Nordwest“ zur Errichtung zweier Gas-Hochdruck­ leitungen. Zum einen soll das Heizkraftwerk Reuter-West in Berlin-Siemensstadt von Steinkohle auf Gas umgestellt werden, und zweitens sollen Gebäudeölheizungen durch Gasheizungen ersetzt werden – perspektivisch natürlich durch grünen Wasserstoff. Dass in Nordrhein-Westfalen gerade die Gashochdruckleitung ZEELINK gebaut wird, um den Übergang vom (künftig entfallenden) holländischen niederkalorischen L-Gas auf das höherwertige russische H-Gas zu realisieren. hat Graichen wohl auch nicht mitbekommen. 216 Kilometer soll ZEELINK lang werden, 100000 Tonnen Rohre werden dafür verbaut werden.

Die Grünen purzeln von der Erdgasbrücke. Da sie den Strom aus Erneuerbaren nicht herbeizaubern können, soll einstweilen Kohle, „kurzfristig“ sogar viel Kohle, genutzt werden. Die Sicherheitsbereitschaft der Braunkohlekraft­ werke, die 2023 ausgelaufen wäre, wird jetzt durch ein „Ersatzkraftwerke-Bereithaltungsgesetz“ abgelöst, flankiert von einem „Gasreduktionsgesetz“, um Gas nicht mehr für die Verstromung einsetzen zu müssen.

Kohle gegen Windstille, Kohle gegen Dunkelheit, Kohle statt Kernkraft, Kohle statt Gas. Aber ist es wirklich sinn­ voll, Kohlestrom für E-Mobilität und Wärmepumpen einzusetzen? Während andere Parteien zunehmend orientierungslos erscheinen, gehört den Grünen der Luftraum über der regenbogenfarbenen Parallelwelt.

Die FDP beschloss auf ihrem Parteitag im April 2022 immerhin eine Forderung nach Modifizierung der Ausstiegspläne bei Kernkraft und Kohle. Die FDP in Schleswig-Holstein will prüfen, ob das Kernkraftwerk Brokdorf wieder angefahren werden könnte. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) setzte sich zwar auf der Minis­ terpräsidentenkonferenz im Juni für eine längere Laufzeit der Kernkraftwerke ein. Sein Umweltminister Günther (Grüne) konterkarierte diese Aussage aber gleich wieder. In einer kruden Begründung verweist er auf Aussagen des IPCC, ohne die Empfehlung dieses Gremiums pro Kernkraft zu erwähnen.

Unterdessen arbeitet die Bürokratie unbeirrt weiter. Im November 2024 wird mit dem Kraftwerk Scholven Block B erstmals ein Kohleblock zwangsweise ohne Entschädigung stillgelegt. Mit großer Sicherheit wird er dann in die Netzreserve überführt werden. Warum legt man dann zwangsweise still?

Freudig begleiten die sogenannten Qualitätsmedien die Absicht der G7-Staaten, möglichst noch schneller aus der Kohle auszusteigen. Die zweite Seite der Medaille wird bewusst verdeckt. Diese zeigt, dass fünf der sieben Länder die Kernkraft weiter nutzen und überwiegend weiter ausbauen. Italien verfügt nur über vier Kohlekraftwerke, der Ausstieg dürfte ohne große Verwerfungen machbar sein. Dass Deutschland als einziges Land der G7 – und weltweit – zugleich aus Kernkraft und Kohle aussteigt, bleibt unerwähnt.

Mehr Kohle für den Staat

Ein verringertes Angebot an Strommarkt lässt die Preise steigen. Das Klimaministerium plant nun, ab 2023 auch eine C02-Bepreisung für die Müllverbrennung einzuführen. Da für die thermische Verwertung der nicht mehr recyclebaren Reste keine Alternative besteht, werden die Entsorgungspreise steigen.„Dem Klima“ wird es nicht helfen.

Der Weg zur Klimaneutralität werde Deutschland bis zu sechs Billionen Euro kosten, schätzten Experten des Beratungsunternehmens McKinsey bereits vor der jüngsten Preisrally. Das lässt die Kosten der Deutschen Einheit (knapp zwei Billionen Euro) in einem milden Licht erscheinen. Sondervermögen und Staatsbürgschaften werden dabei helfen. Und vielleicht bleibt ja eine schmale Hängebrücke fürs Gas. Aber erst einmal geht’s um die Kohle. •

 

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