Edgar L. Gärtner

Vor kurzem erregte dieser von Tichy übernommener Beitrag von Frank Hennig über den Materialaufwand für Windkraftanlagen meine Aufmerksamkeit. Denn er erinnerte mich an die Zeit vor mehr als 20 Jahren, in der die Debatte über ökologieverträglichere Formen des Wirtschaftens noch nicht auf das Spurengas CO2 verengt worden war.

Frank Henning vergleicht im zitierten Beitrag den Materialaufwand einer Windkraftanlage (WKA) vom Typ Enercon E-82 mit 3,2 Megawatt Nennleistung (130 Meter Nabenhöhe) mit dem Gewicht von Diesel-Aggregaten vergleichbarer Leistung. Eine solche WKA liefert bei geschätzten 2.000 Vollaststunden einen zufallsabhängigen Jahresertrag von 6,4 Gigawattstunden (GWh). Diese Leistung erfordert einen Materialaufwand von insgesamt 2.150 Tonnen. Zwei MAN V10-Dieselmotoren mit je 18 Litern Hubraum, 500 Kilowatt Dauerleistung und 8.000 Betriebsstunden würden im gleichen Zeitraum bedarfsgerecht regelbar etwa 8 GWh erzeugen, aber nur drei Tonnen auf die Waage bringen. Das Missverhältnis erschiene noch extremer, würde zusätzlich berücksichtigt, welche Massen insgesamt bewegt werden müssen, um die Konstruktionsmaterialien herzustellen. Denn dann fielen die riesigen Abraummengen mit toxischen Bestandteilen ins Gewicht, die bei der Gewinnung seltener Erden wie vor allem von Neodym für die Permanent-Magneten der WKA-Dynamos anfallen.

Das erinnert mich an das MIPS-Konzept, das gegen Ende der 1990er Jahre die Runde machte. MIPS bedeutet Material-Input pro Serviceeinheit. Das ist ein Indikator für die Umweltbelastung beliebiger menschlicher Tätigkeiten, der von Prof. Friedrich Schmidt-Bleek als Vizepräsident und Direktor der Abteilung Stoffströme und Strukturwandel des Wuppertal Instituts unter der Präsidentschaft Ernst Ulrich von Weizsäckers entwickelt wurde. Der Physiko-Chemiker Schmidt-Bleek hatte sich zuvor am deutschen Umweltbundesamt und bei der OECD in Paris als Erfinder der modernen Chemikaliengesetzgebung einen Namen gemacht. Seinen Spitznamen „Bio“ bekam der 1932 in Bandung auf Java/Indonesien geborene Friedrich Schmidt-Bleek, weil seine Schwester und seine indonesischen Spielkameraden seinen deutschen Vornamen nicht richtig auszusprechen vermochten. Bio, der auch künstlerisch begabt war, hatte sich bis ins hohe Alter eine kindliche Kreativität und Begeisterungsfähigkeit bewahrt. Als er im Juni 2019 im Alter von 86 Jahren in Berlin starb, gab es allerdings nur wenige würdigende Nachrufe.

Dabei war Schmidt-Bleeks erstmals 1994 erschienenes Buch „Wieviel Umwelt braucht der Mensch? MIPS. Das Maß für ökologisches Wirtschaften“ in der Öko-Szene einhellig als genial begrüßt worden, weil es ermöglichte, verschiedenste Umweltbelastungen mit einem einzigen Indikator zu bewerten. Dabei sollen einfach sämtliche Materialien (einschließlich Abfall), die für die Herstellung eines Gegenstandes bewegt werden müssen, aufaddiert werden. Diese Stoffmenge ist der „ökologische Rucksack“. Dieser ist zum Beispiel bei einem Goldring so schwer wie ein Kleinbus, da für die Gewinnung des seltenen Edelmetalls riesige Materialmengen bewegt werden müssen. Wird z.B. ein Pkw mit einem Edelmetall-Katalysator ausgerüstet, verdoppelt sich das Gewicht seines ökologischen Rucksacks. Dieser bezieht sich allerdings nicht auf die Ruhemasse eines Produkts, sondern auf das Gewicht der mit diesem im Laufe seines Lebenszyklus erzielten Dienstleitungseinheiten. Bezugspunkt bei einem Windrad wäre also die im Laufe dessen 20-jähriger Abschreibungsfrist erzielbare elektrische Arbeitsleistung im Vergleich zu konkurrierenden Techniken der Elektrizitätserzeugung.

Die Fokussierung auf die erzielbare Dienstleitung statt auf die Ruhemasse von Produkten sollte es nach Schmidt-Bleek in nur einer Generation erlauben, unseren erreichten materiellen Wohlstand mit nur einem Zehntel des Rohstoff-Aufwandes zu erzeugen. Er prägte das Schlagwort “Dematerialisierung“ (das nichts mit der von Papst Benedikt XVI. geforderten „Entweltlichung“ zu tun hat). Um über die Wege, dorthin zu gelangen, zu diskutieren, gründete Schmidt-Bleek schon im Jahre 1994, d.h. noch bevor er 1997 in der Provence seinen Ruhestand antrat, im Flecken Carnoules nordöstlich von Toulon den „Factor 10 Club“, zu dem auch ich eingeladen wurde. Bio Schmidt-Bleek, selbst alles andere als ein asketischer Eiferer, sondern Bonvivant, versammelte in seiner nach und nach zur Villa mit Pool ausgebauten Hütte jedes Jahr im Spätsommer eine illustre Schar von „Ökos“ zu einem mehrtägigen Seminar mit gutem Essen und viel Rosé- und Rotwein. Dazu gehörten neben Wissenschaftlern und Politikern auch Industrielle wie Claude Fussler, damals Vizepräsident von Dow Chemicals Europe, oder der deutsche „Textilkönig“ Klaus Steilmann. (Ich selbst arbeitete damals u.a. für den deutschen Chemieverband VCI.)

Im Spätsommer 2001, während des letzten Faktor-10-Seminars, dem ich beiwohnte, kam die Nachricht, dass Schmidt-Bleek zusammen mit seinem früheren Chef (und Rivalen) Ernst Ulrich von Weizsäcker für das Konzept der Dematerialisierung den mit umgerechnet etwa einer Million Euro dotierten japanischen Takeda Award zugesprochen worden war. Die beiden gaben ein unwürdiges Schauspiel, als sie sich vor den versammelten Seminarteilnehmern darüber stritten, wem der größere Teil dieser „Beute“ zustehen sollte. Ich bekam den etwas makabren Auftrag, einen Artikel mit einem Foto der sich friedlich in den Armen liegenden Preisträger in den „VDI-Nachrichten“ (Düsseldorf) zu platzieren. Da Digital-Kameras damals noch keine ausreichend scharfen Bilder machten, arbeitete ich mit einer analogen Spiegelreflex-Kamera mit Dia-Film und stand vor dem Problem, das geschossene Foto unverzüglich einscannen und per E-Mail nach Düsseldorf schicken zu müssen. Meinen Scanner hatte ich leider nicht dabei. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass ein Fotogeschäft in einem Nachbarort Dias auf Disketten ziehen könne. Auf dem Weg dorthin hörte ich im Autoradio erste Meldungen über Flugzeugeinschläge ins New Yorker World Trade Center. Als ich im Nachbarort ankam, waren auf den Bildschirmen bereits die brennenden Twin Towers zu sehen. Mit dieser Form der „Dematerialisierung“ hatte bis dahin kaum jemand gerechnet.

Für mich begann damals ein neuer Lebensabschnitt, denn ich ging auf Distanz zur Öko-Schickeria, deren Scheinheiligkeit ich nicht mehr ertragen wollte. Neben dem Schrecken der einstürzenden Twin Towers gab dafür die Art, wie Wortführer des „Factor-10-Club“ wie vor allem der Niederländer Prof. Wouter van Dieren sowie Ernst Ulrich von Weizsäcker (beide auch Mitglied des „Club of Rome“) mit dem damals gerade erschienen ersten Bestseller des dänischen Ex-Greenpeace-Manns Bjørn Lomborg unter dem Titel „The Skeptical Environmentalist (deutsch: „Apocalypse No!“) umgingen. Beide setzten alles daran, die „Ökos“ vom Lesen dieser seriösen statistischen Bestandsaufnahme des ökologischen Zustandes unseres Planeten abzuhalten, indem sie Lomborg als korrumpierten Rosinenpicker hinstellten.

Dabei hatte Schmidt-Bleek in seinem oben zitierten grundlegenden Buch von 1994 eindringlich auf folgendes hingewiesen: „Ergebnisse, an denen kein Zweifel mehr erlaubt ist, darf es in der Wissenschaft nicht geben, wenn Wissenschaft nicht zur Ideologie mutieren soll: und nichts wäre schlimmer, als wenn es keinen Forscher mehr gäbe, der den Kollegen seines Faches öffentlich widerspräche – auch und gerade in politisch so aufsehenerregenden Gebieten wie der Umwelt- und Klimaforschung.“ Zwar hat auch Schmidt-Bleeks MIPS-Konzept m. E. totalitäres Potenzial. Doch zeigte es sich bald, dass es quer zum grünen Mainstream lag. Dort galten die „Treibhausgase“ Kohlenstoffdioxid und Methan zunehmend als alleiniger Maßstab der Umweltbelastung. „Bio“ hingegen konnte nicht akzeptieren, dass man die Landschaft mit Zigtausenden von Ungetümen aus Beton und Stahl verunstaltet, deren Materialbedarf sich auf Zig Millionen Tonnen summiert, nur um einige Tonnen des (zu Unrecht verteufelten) CO2 einzusparen.

Im Jahre 2014 veröffentlichte Bio unter dem Titel „Grüne Lügen“ eine umfassende Abrechnung mit grün gefärbter Geschäftemacherei. Darin finden sich Sätze wie diese: „Die Energiewende trägt nicht zur Entschärfung von Umweltproblemen bei, weil sie anstelle von Ursachen nur Symptome bekämpft. Sie trägt nicht einmal maßgeblich zur Verlangsamung des Klimawandels bei! Und zwar deshalb, weil sie sich nahezu ausschließlich auf technische Energie konzentriert, und hier auf den Ausstoß von CO2. Die Ursachen für den Klimawandel liegen jedoch nicht allein in der Verwendung technischer Energie und der damit verbundenen Emission von CO2, sondern auch und in allererster Linie im Verbrauch natürlichen Materials.“ Und weiter: „Wenn aber der Verbrauch von Ressourcen ebenso zum Klimawandel beiträgt wie die CO2-Emissionen, wenn er zudem andere, schwerwiegende Umweltprobleme erzeugt, so bedeutet dies, dass 19 die Energiewende diese Probleme nicht löst, sondern sogar noch verschärft. Denn viele als grün gepriesene Technologien erfordern einen extrem hohen Materialeinsatz.“ Danach wurde es still um Bio und seine Ideen. Denn die politisch korrekte deutsche Öko-Szene konnte ihm das nicht verzeihen. Eine unheilbare Krebserkrankung zwang ihn schließlich, die provenzalische Idylle zu verlassen und Zuflucht bei einem seiner Söhne, einem bekannten Internisten, in Berlin zu suchen. Dort starb er im Juni 2019 im Alter von immerhin 86 Jahren.

 

 

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