Richard Feynman war ein amerikanischer Physiker und Nobelpreisträger. Er war dafür berühmt, komplizierte Dinge einfach zu machen, aber nicht zu einfach. Auf fachlichem Gebiet war er zwangsläufig ein Querdenker, so wie jeder große Forscher. Aber auch in politischen Fragen traute er der eigenen Urteilskraft mehr als dem Mainstream. Ein konkretes Ereignis machte ihn dann über Nacht in der breiten Öffentlichkeit berühmt.

von Hans Hoffmann-Reinecke

Ein freundliches Genie

Feynman lebte von 1918-1988. Er erhielt 1965 den Nobelpreis für die Formulierung der Quanten-Elektrodynamik – einem „Merger“ von Spezieller Relativitätstheorie und Quantenmechanik. In einer Umfrage des Physics World magazine nimmt er den 7. Platz unter den 130 bedeutendsten Physikern aller Zeiten ein – in enger Nachbarschaft zu Einstein, Newton, Maxwell und Galilei.

Auf gesellschaftlichem Parkett war er eher ein Maverick, was in den Titeln seiner Autobiographien anklingt: „Surely You’re Joking, Mr. Feynman!“ und „What Do You Care What Other People Think“. Er war aber stets ein freundlicher und humorvoller Außenseiter und gern gesehener Partygast.

Seine Popularität führte dazu, dass er in die „Rogers Commission“ zur Untersuchung der Ursachen des Space-Shuttle Absturzes vom 18. Januar 1986 berufen wurde. Präsident Reagan und die NASA hatten die unausgesprochene Erwartung, dass dieses Gremium zu einem versöhnlichen Urteil käme, etwa im Sinne: „Wenn die Menschheit an die Grenzen des Machbaren stößt, dann sind Opfer unter den Pionieren des Fortschritts unvermeidlich. Unsere Gedanken werden immer…“

Mit Richard Feynman hatte man dafür den falschen Mann an Bord.

Die Challenger Katastrophe

Ein Mann kam spät nach Hause, und seine Frau fragte ihn, wie es im Büro gewesen sei. „Nichts Besonderes“, antwortete der; „außer, dass wir morgen sieben Astronauten umbringen werden.“

Er arbeitete als Ingenieur bei der Firma Morton Thiokol, dem Lieferanten der Booster-Raketen für das US-Spaceshuttle. Die Entscheider von NASA und das Topmanagement seiner eigenen Firma hatten sich geeinigt, den Start der Raumfähre Challenger am nächsten Morgen wie geplant durchzuführen. Sie hatten so entschieden, obwohl der Ingenieur vehementen Widerspruch eingelegt hatte.

Er hatte davor gewarnt, dass der in der Nacht zu erwartende Frost ein inakzeptables Risiko für die Mission darstellte. Die Kälte würde dazu führen, dass die Dichtungen, welche die einzelnen Segmente der Rakete nahtlos miteinander verbinden sollen, ihre Elastizität verlieren und letztlich brechen werden. Als Folge davon würden Flammen durch die entstandenen Lecks schlagen und den in unmittelbarer Nähe angebrachten Treibstofftank des Shuttles zum Explodieren bringen.

Der Ingenieur hatte nur allzu recht. Am nächsten Morgen explodierte das Shuttle kurz nach dem Start. Alle Astronauten an Bord kamen ums Leben. Die Entscheider hatten die „strategische Sicht“, die politischen Zusammenhänge vor Augen gehabt. In diesem großen Bild war der Ingenieur mit seinen Dichtungsringen nur ein kleines Rädchen. Da gab es wichtigere PR-Bedenken: Was sagt die Bevölkerung, wenn wir den Start nochmals verschieben? Wird die Regierung das Budget kürzen, wenn wir niemals pünktlich sind? Die Bevölkerung wartet doch schon seit Wochen darauf, Christa McAuliffe, diese sympathische Lehrerin und Teil der Besatzung endlich im All zu sehen! Und Präsident Ronald Reagan hatte schon eine Rede zum Launch vorbereitet.

Angesichts dieser gewichtigen Argumente traten die Dichtungsringe in den Hintergrund, weil die Entscheider deren wirkliche Bedeutung nicht verstanden.

Eine Kommission der Stars

Die Wirklichkeit aber kümmerte sich nicht um die große Politik. Die Dichtungsringe brachen, die Rakete explodierte, und Ronald Reagan musste schließlich eine andere Rede halten als vorgesehen.

Das war also die Sachlage, mit der die Rogers Commission konfrontiert war. Sie sollte nicht nur das technische Problem finden, sondern auch die Ursachen für die tragische Fehlentscheidung durch das NASA-Management. Dafür hatte man eine Reihe von Celebrities an Bord geholt, unter ihnen Neil Armstrong, Sally Ride, die erste Amerikanerin im Weltraum und Chuck Yeager, der als erster Pilot die Schallmauer durchbrochen hatte – und eben Richard Feynman.

Beruflich in den abstraktesten Theorien zu Hause, ließ der es sich nicht nehmen, in den Montagehallen von NASA und Thiokol mit den Technikern über Schrauben und Dichtungen zu diskutieren, und vielleicht auch ein Teil so einer Dichtung der Feststoffrakete mitzunehmen. Dieses pragmatische Vorgehen machte ihn zum Außenseiter in dem noblen Gremium.

In einer Pressekonferenz desavouierte Feynman dann die Kommission in aller Öffentlichkeit. Man diskutierte heftig hin und her, ob die Temperaturen beim Start von Challenger denn tatsächlich weit genug unter null waren, um die Dichtungsringe so spröde zu machen, dass sie brechen und eine Explosion auslösen würden. Feynman hatte sich unterdessen ein Glas mit Eiswasser aus der Kantine bringen lassen, in das er ein Stück von so einem O-Ring tauchte. Im richtigen Moment nahm er dann recht auffällig das Teil aus dem Glas und zerbrach es vor aller Augen in seiner Hand. Die Temperatur konnte jetzt nicht unter null Grad liegen – sonst wäre das Wasser nicht flüssig gewesen – und das Material war offensichtlich zerbrochen. Für die Presse war das natürlich ein Leckerbissen, bei den übrigen Mitgliedern der Kommission, und insbesondere bei ihrem Leiter, dem Juristen und Karrierepolitiker William Rogers, gewann er damit keine Sympathien.

NASA – nicht mehr das was sie einmal war

Feynman merkte bald, dass es innerhalb NASA zwischen den Ansichten der Konstrukteure und der Entscheidungsträger ganz eklatante Diskrepanzen gab. Das zeigte sich deutlich bei der Einschätzung der Risiken eines Crashs. Feynman war auf Grund seiner Beobachtungen auf eine Wahrscheinlichkeit in der Gegend von 1:100 gekommen, während der Leiter des Shuttle Programms von einem Risiko 1:100.000 ausging. Anders ausgedrückt: seiner Meinung nach könnte man 250 Jahre lang täglich ein Shuttle starten und es würde wahrscheinlich nur einen einzigen Unfall geben.

Auf Feynmans Frage, wie er denn zu dieser Zahl gelangt sei, antwortete der NASA Top-Manager mit der Rhetorik eines Politikers: „Wenn es nicht so wäre, dann würden wir keine Menschen ins Shuttle setzen.“

Diese Antwort charakterisiert die Dekadenz der NASA seit ihrem phänomenalen Erfolg der ersten Mondlandung. Aus einem technologisch durchdrungenen Betrieb mit dem Motto „Failure is not an Option“ war eine Organisation geworden, in der Denken und Handeln zunehmend durch politischen Opportunismus bestimmt wurden.

Feynman gecancelt

Im Bericht, den die Rogers-Commission dann herausgab fehlte Feynmans Beitrag zunächst. Er wurde erst auf sein Drängen eingefügt, allerdings nur als „Anhang“ und nicht als Teil des Ergebnisses.

Seine Ausführungen schlossen mit diesem ernüchternden Statement:

„Damit eine Technologie Erfolg haben kann, muss die Wirklichkeit Priorität vor Public Relations haben, denn die Natur kann man nicht zum Narren halten.“ (For a successful technology, reality must take precedence over public relations, for Nature cannot be fooled.)

Statt Feynmans Text in den Anhang zu verbannen hätte man seine Risikoabschätzung von 1: 100 in fett auf die Titelseite des Berichts drucken müssen. Die großzügige Risiko-Einschätzung von 1:100.000 durch das NASA Management stellte sich abermals als Wunschdenken heraus. Keine hundert Flüge nach Challenger verunglückte erneut ein Shuttle: Im Februar 2003 zerbrach die Columbia beim Eintritt in die Erdatmosphäre und riss die siebenköpfige Besatzung in den Tod. Feynmans Statistik hatte sich auf tragische Weise bestätigt.

Es hat einen hohen Preis, wenn Querdenker gecancelt werden und wenn intelligente Logik von trägem Opportunismus überrollt wird – das ist heute so wie damals.

Dieser Artikel erschien zuerst im Blog des Autors Think-Again. Sein Bestseller „Grün und Dumm“ ist bei Amazon erhältlich.

 

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