Michael Limburg, EIKE,sprach mit dem Frankfurter Energieexperten Fritz Schreiner über den Neuaufguss des alten Plans.  
Limburg: Was sagt der Koalitionsvertrag zu Klimaschutz und Energiewende aus?
Schreiner:Die neue Regierungskoalition bleibt im Klimaschutz beim alten Endziel für 2050.Die von Menschen verursachten Treibhausgase (Kohlendioxid, Methan, Lachgas und sog. F-gase) sollen bis dahin praktisch verschwinden (Treibhausgasneutralität) – gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Kohle, Erdöl, Erdgas (Dekarbonisierung). Ein kaum realisierbarer, sehr teurer und riskanter Plan.
Zwischenzeitlich will die neue Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) den bis 2020 nicht mehr zu vermeidenden Rückstand  bei der Reduzierung von Treibhausgasen wieder wettmachen.  Deshalb setzt sie die Zwischenziele für 2030 ein gutes Stück höher an als bisher. Sie will zusätzlich in den Sektoren Stromerzeugung, Verkehr, Industrie und Haushalte durch gesetzlichen Druck mehr Engagement durchsetzen. Nach ihrer Meinung muss ein Klimaschutz-Schrittmacher ein „erhöhtes Ambitionsniveau“ an den Tag legen.
Limburg: Wie soll das gehen? Können sie Beispiele nennen?
Schreiner:Hier drei Beispiele aus dem Sektor Energie. Aus jedem Beispiel kann man erkennen, dass die Risiken größerwerden, wenn man ein höheres Tempogehen will.

  • Beispiel 1: Ausstieg aus der Stromerzeugung mit Braun- und Steinkohlekraftwerken

„Schnell weg mit den dreckigen CO2-Schleudern (Kohlekraftwerken)“, heißt die Losung im Jargon der Klimaaktivisten.  Ein Endtermin für den Kohle-Ausstieg soll von einer Planungs-Kommission mit dem klangvollen Titel „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung (WSB)“ ausgearbeitet werden.
An der Nettostromerzeugung zur öffentlichen Versorgung  waren 2017 Braunkohle-KW mit Anteilen von 24,3 %  und Steinkohle-KW mit 14,8 % beteiligt. Auf diese 39 % Kohlestrom soll Deutschland möglichst schnell verzichten – wie auch auf die 13 % treibhausgasfreien Atomstrom bis 2022. Als Folge gehört auch der Ausstieg aus dem Abbau der heimischen Braunkohle im Rheinland, in Mitteldeutschland und in der Lausitz dazu. Nach Branchenangaben sind bis zu 80.000 von der Kohle abhängige Arbeitsplätze betroffen. Für die betroffenen Regionen soll ein Fonds in Höhe von 1,5 Milliarden Euro eingerichtet werden „zur Bewältigung der sozialen Dimension dieses Wandels“. Die drei betroffenen Regionen sind sehr unterschiedlich strukturiert, so dass jeweils passende Schließungspläne entwickelt werden müssen. Gemessen an den Erfahrungen aus dem historischen Ausstieg aus der Steinkohle im Ruhrgebiet erscheint der Fonds zu knapp bemessen zu sein. Während China und Indien Hunderte von neuen Kohlekraftwerken bauen, geht die deutsche Politik mit einem schnellen Kohleausstieg hohe technische, soziale und beschäftigungspolitische Risiken ein.

  • Beispiel 2: Anteil des Ökostroms bis 2030 auf 65 % hochschrauben

210 TWh (Terawattstunden) Ökostrom wurden 2017 erzeugt. Das war ein Anteil von 38 % an der Nettostromerzeugung für die öffentliche Versorgung, die knapp 570 TWh betragen hat. Gleichzeitig  nahmen die Verbraucher 134 TWh aus Braunkohle und 82 TWh aus (importierter) Steinkohle ab. Dabei fielen CO2-Emissionen von insgesamt 240Mio t an, die baldmöglichst (?) vermieden werden sollen.
Wenn man bis 2030den gewünschten Öko-Anteil auf 65 % hochschrauben will, benötigt man +150 TWh Ökostrom mehr als 2017. Das ist etwa so viel, wie die heutigen rund 30.000 Windenergieanlagen mit ihren Netzanschlüssen  auf den von ihnen belegten Nutzungsflächen  erzeugen. Bei dieser Abschätzung wird unterstellt, dass durch die Elektrifizierung in den Sektoren Verkehr und Haustechnik und durch eine zu erwartende wachsende Bevölkerung der Gesamt-Strombedarf konstant bleibt. Rechnerisch würde man dann 165 Mio t CO2-Emissionen vermeiden.
Die noch verbleibende Lücke von 35 % oder 190 TWh müsste durch einen Mix von mehr Gaskraftwerken (heute 50 TWh), Kohlekraftwerken und importiertem Strom ausgefüllt werden. Ein Mix, dessen Zusammensetzung sich durch die Anforderungen an die Versorgungssicherheit ergibt.  Da es bis 2030 keine großen Langzeit-Stromspeicher geben wird, verbietet sich ein radikales „Aus“ für Kohlekraftwerke, da ihre für Dunkelflauten benötigte Back-up-Funktion dann fehlen würde und das Risiko eines Netzzusammenbruchs deutlich ansteigt.

  • Beispiel 3: Netzausbau und Netzstabilität

Die Erzeugung und Übertragung von Strom muss jederzeit synchron an den Bedarf der Verbraucher (die Last) angepasst sein. Das Netz kann keine Energie speichern. Eine alte Weisheit. Wenn zum Beispiel Kernkraftwerke und Kohlekraftwerke im Süden Deutschlands abgeschaltet werden, muss Strom aus den Windanlagen in Norddeutschland zu den süddeutschen Verbrauchern transportiert werden – vorausgesetzt, dass im Norden ausreichend Wind weht und die „Nord-Süd-Stromautobahn“ endlich fertigestellt ist. In 2017 sind 1,3 Milliarden Euro für das Aufrechterhalten der Netzstabilität angefallen. Mit mehr Ökostromerzeugern an neuen Standorten in einer veränderten regionalen Zusammensetzung werden die Maßnahmen zum Anpassen, Verändern und Stabilisieren des Netzes umfangreicher, schwieriger und teurer.  Für ein stabiles Netz fehlen immer noch die bereits erwähnten großvolumigen Langzeit-Stromspeicher. Welche Speicher-Technologie in der Zukunft auch immer zum Einsatz kommen wird, sie wird erst nach 2030 verfügbar sein. Das Versorgungsriko nimmt zu, wenn die Netzanpassung  dem beschleunigten Zubau von Ökostrom-Erzeugungsanlagen bei gleichzeitigem Ausstieg aus konventionellen Kraftwerken hinterher hinkt. Ein Blackout in Deutschland hätte Auswirkungen in ganz Europa zur Folge.
Limburg: Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?
Schreiner:Der deutsche Anteil an den weltweiten Treibhausgasemissionen beträgt 2,2 %. China führt die Rangliste der Emittenten mit einem Anteil von 28,2 % an, gefolgt von den USA mit 16 %. Während die USA im vergangenen Jahr weniger (!) Treibhausgase emittiert haben, ist dies zum Beispiel China und Indien nicht gelungen. Trotz oft gehörter gegenteiliger Bekundungen ist wirtschaftliches Wachstum nicht von den Treibhausgasemissionen zu entkoppeln. Wer wächst, der emittiert auch mehr.
Ein Exportweltmeister Deutschland kann sich keine Treibhausgasneutralität leisten. Würden die exportierten Waren im Ausland produziert, dann würden dort die Emissionen anfallen – wahrscheinlich höhere. Das deutsche BIP wäre dann aber kleiner. Wer kann sich denn so etwas wünschen?

Limburg: Was erwarten sie von der WSB-Kommission zum Jahresende?

Schreiner: Die WSB-Kommission ist mit 42 Mitgliedern, davon 24 Experten mit sehr unterschiedlichen Interessen, umfangreich besetzt – vielleicht zu umfangreich. Nach dem ökologisch-ökonomischen Profil der Experten könnte ein ideologisch geprägtes Konzept eher herauskommen als ein an verfügbaren technischen Voraussetzungen, Wirtschaftlichkeit und überschaubarem Risikoinhalt orientierter ausgewogener Plan, der Fehler der Vergangenheit korrigiert und sich mehr an der EU ausrichtet. Man wird sehen.
Deutschland will sich bei der nächsten Weltklimakonferenz im Dezember 2018 in Kattowitz mit seinem neuen Umweltschutzplan als „Welt-Klimaschutz-Pionier“ profilieren. Neben der Zusage geringerer Treibhausgas-Emissionen muss sich Deutschland auch über die Höhe der den „armen“ Ländern versprochenen Finanzmittel für die Adaptation an Klimaveränderungen äußern.
Jochen Flasbarth, Staatssekretär im Bundesumweltministerium, bläst zum Sturm: „Der Prozess ist auf dem richtigen Weg, er muss aber noch deutlich an Geschwindigkeit zunehmen, damit wir in  Kattowitz zu einem Abschluss (?) kommen.“ Hoffentlich prescht Svenja Schulze in Kattowitz nicht mit Zusagen vor und überlässt es anschließend der WSB-Kommission, die von ihr dort abgegebenen Statements nachträglich zu bestätigen. Ein Beispiel, wie so etwas geht, kennt man vom Atomenergie-Ausstiegsplan, der von der Ethik-Kommission „Sichere Energieversorgung“ nachträglich gutgeheißen wurde.„Klimakanzlerin“ Angela Merkel hat der neu eingesetzten Planungskommission mit auf den Weg gegeben, dass sie höhere Anstrengungen im Klimaschutz als eine „Jahrhundertaufgabe“ betrachte. Damit hat sie eine steile Vorlage gegeben.
 
Limburg:Vielen Dank Herr Schreiner für ihre Einschätzungen. Warten wir ab, was die WSB-Kommission im Dezember abliefert.
 
Über Fritz Schreiner
Dipl.-Ing. Fritz Schreiner gehört zu den renommierten unabhängigen Energie-Experten in Deutschland. Der gebürtige Frankfurter hat an der TH Darmstadt sein Studium der Elektrotechnik absolviert. Viele Jahre arbeitete er als Vorstandsmitglied in Diensten des börsennotierten Frankfurter Messtechnik-Spezialisten Hartmann & Braun. Als Technik-Direktor war er danach für den Mannesmann-Konzern für die Planung und Kontrolle der F&E-Projekte und der Sachanlageinvestitionen tätig. Er berät Unternehmen der Mess-, Automatisierungs- und Elektrotechnik.

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