Im Streit um den Industriestrompreis geht es weder um die Rettung der Industrie noch um die Bewahrung des Wohlstands, sondern um die Rettung der ökologischen Klimapolitik vor den Bürgern.

von Alexander Horn

Inzwischen scheinen führende SPD-Politiker erkannt zu haben, dass in Deutschland die Deindustrialisierung droht. Auf dem Landesparteitag der nordrhein-westfälischen SPD erklärte Parteichef Lars Klingbeil, dass der Strompreis in Deutschland „zu hoch“ sei und es daher einen staatlich gedeckelten Industriestrompreis geben müsse. Seine Partei würde niemals akzeptieren, dass die Industrie aus Deutschland verschwinde. Damit schwenken die Genossen nun auf die Linie vieler Industrieverbände wie auch der Gewerkschaften und vor allem der Grünen ein. Diese, insbesondere auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, warnen vor einem regelrechten Kollaps der Industrie, der von den energieintensiven Industrien in Deutschland auszugehen drohe.

Habeck sieht daher die unabdingbare Notwendigkeit, den Strompreis für energieintensive Industrien sehr zügig bei sechs Cent pro Kilowattstunde (kWh) zu deckeln, denn sonst würden die Unternehmen zwar weiterhin investieren, „aber nicht mehr in Deutschland“.

Wie prekär die Grünen die wirtschaftliche Lage offenbar einschätzen, zeigt sich in der Geschlossenheit, mit der die Partei hinter dem im Mai von Habeck vorgestellten Eckpunktepapier steht. So sollen ausgerechnet diejenigen Unternehmen, die als besonders ‚schmutzig‘ gelten, da sie für den Großteil der CO2-Emissionen der Wirtschaft verantwortlich sind, vor dem Niedergang bewahrt werden. Es sei „wichtig, energieintensive Unternehmen zu entlasten“, findet die Bundesvorsitzende der Grünen, Ricarda Lang. Die dazu erforderlichen Subventionen sollten als Teil einer „neuen Investitionsagenda für Deutschland“ fließen, wozu man die ursprünglich zur Bewältigung der Corona-Krise vom Bundestag genehmigten Mittel des Wirtschaftsstabilisierungsfonds kurzerhand zweckentfremden solle.

Luftschloss statt Brücke

Um die bei den Bürgern inzwischen aufkommenden Ahnung, dass der maßgeblich von den Grünen geprägte klima- und energiepolitischen Kurs der letzten Jahrzehnte für die nun zu beobachtende Deindustrialisierung verantwortlich sein könnte, möglichst im Keim zu ersticken, behaupten die Protagonisten dieser ökologischen Klimapolitik unisono, dass die hohen Energiepreise lediglich ein Übergangsproblem seien. Dem von der CDU/CSU bis hin zu den Linken verbreiteten Narrativ zufolge rühren die nun immer deutlicher werdenden Probleme der Unternehmen, die die Erwerbstätigen mit Arbeitsplatzverlusten und Reallohneinbußen bezahlen, aus der viel zu schleppend voranschreitenden Transformation in Richtung Klimaneutralität.

Deswegen sei die Beschleunigung dieser Klima- und Energiepolitik, also insbesondere der Ausbau von Wind- und Solarenergie, mit der neuen „Deutschlandgeschwindigkeit“ umso dringender. Nach den Worten von Habeck sollen die von ihm vorgeschlagenen Energiesubventionen nur „eine Brücke“ schlagen, die – der gebetsmühlenhaft von Parteien, Wirtschaft- und Arbeitnehmervertretern und Wissenschaftlern wiederholten These zufolge – „dann in eine Zukunft mit niedrigen erneuerbaren Strompreisen und ohne Subventionen“ führen werde, so Habeck.

Diese Argumentation, wonach die schleppende Umsetzung der ökologischen Klimapolitik ursächlich für die in Deutschland hohen Energie- und vor allem Strompreise sei, machen sich auch diejenigen zu eigen, die die Subventionierung der Unternehmen über den Industriestrompreis ablehnen. So stellen sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wie auch die FDP gegen den Industriestrompreis. Scholz zufolge gehe es um „das Ziel, dass die Strompreise runter müssen“, wozu man jedoch nicht diese Subventionen benötige. Stattdessen brauche es einen noch „schnelleren Ausbau von Windkraft und Solarenergie“.

Brücke in die Deindustrialisierung

Dass die erneuerbaren Energien spottbillig sind und deren zügiger Ausbau sowie der Aufbau der zugehörigen Wasserstoffwirtschaft zu sagenhaft niedrigen Energiekosten führen würden, ist jedoch reine Fiktion. Das lässt sich längst an der Strompreisentwicklung erkennen. Denn während erneuerbare Energie außerhalb der Stromversorgung keine nennenswerte Rolle spielt und dort die Energiepreise wegen der erst in den letzten Jahren in Gang gekommenen CO2-Besteuerung kaum gestiegen sind, sind die Strompreise regelrecht explodiert. So zahlen private Verbraucher gegenwärtig für Strom etwa 40 Cent pro Kilowattstunde (kWh), für Gas jedoch nur etwa 12 Cent pro kWh. Verantwortlich für die vergleichsweise hohen Strompreise ist der inzwischen auf knapp ein Drittel des deutschen Bruttostromverbrauchs angestiegene Anteil des hochsubventionierten Wind- und Solarstroms. Dessen weiterer Ausbau wird billige fossile Energieträger wie vor allem Kohle und Erdgas, die noch immer den Löwenanteil des Stroms liefern, mehr und mehr verdrängen und zu weiter steigenden Energiepreisen führen.

Bereits vor dem Beginn des Ukraine-Kriegs zahlten Unternehmen in Deutschland, bedingt durch die seit mehr als 20 Jahren zunehmende Nutzung von Wind- und Solarstrom, einen durchschnittlichen Strompreis von 14,90 Cent pro Kilowattstunde (kWh) – private Verbraucher 32,62 Cent. Der Ukraine-Krieg hat an diesem Niveau wenig geändert. Im zweiten Halbjahr 2022 lagen die Strompreise nach Angaben des Statistischen Bundesamts bei durchschnittlich 20,74 Cent beziehungsweise 34,96 Cent pro kWh.

Damit liegen die deutschen Industriestrompreise im internationalen Vergleich auf einem Spitzenniveau. In Deutschland zahlen energieintensive Unternehmen etwa 8 Cent pro Kilowattstunde (kWh) und damit mehr als den doppelten Strompreis als Wettbewerber in den in den USA oder in China. Bei weniger energieintensiven Betrieben sind die Unterschiede im Vergleich zu bedeutenden Industrieländern noch gravierender.

Bis zur geplanten vollständigen Deckung des Strombedarfs durch erneuerbare Energien kommt ein weiterer gigantischer Kostentreiber hinzu, der bislang noch völlig unbedeutend ist. Denn Energie muss den Bedürfnissen moderner Gesellschaften entsprechend bedarfsgerecht verfügbar sein. Dazu muss der von den Launen der Natur abhängige Wind- und Solarstrom durch Zwischenspeicherung transformiert werden. Noch muss diese Transformation nicht erfolgen, denn bis heute liefern im europäischen Stromnetz vor allem Kohle- und Atomkraftwerke den zum Ausgleich von Dunkelflauten erforderlichen Strom. Hinzu kommen Gaskraftwerke, deren Betrieb zwar teurer ist, da Wind- und Solarstrom Vorrang genießen und sie nur hochgefahren werden, wenn Wind- und Solarstrom nicht ausreichend zur Verfügung steht. Sie werden jedoch benötigt, um die Volatilität der Erneuerbaren auszugleichen.

Durch den beabsichtigten kompletten Ersatz dieser konventionellen Kapazitäten fallen nicht nur vergleichsweise günstige Stromerzeuger weg. Zudem müssen erneuerbare Energien zukünftig in immer größerem Umfang transformiert werden, so dass sie auch während wochenlanger Dunkelflauten bedarfsgerecht Strom liefern. Eine Möglichkeit, um dies zu bewerkstelligen, besteht darin, den Wind- und Solarstrom mittels Hydrolyse in Wasserstoff umzuwandeln, diesen zu speichern, um ihn dann bedarfsgerecht in Wasserstoffturbinen zur Stromerzeugung zu nutzen. Aufgrund physikalischer Wirkungsgrade gehen bei dieser Transformation mehr als drei Viertel der ursprünglich erzeugten Wind- und Solarenergie verloren. Dadurch wird ein Vielfaches an erneuerbare Energie benötigt, was sich entsprechend im Preis niederschlägt. Zusätzlich wird das Preisniveau dadurch nach oben getrieben, dass Anlagen zur Hydrolyse, Wasserstoffspeicherung und Wasserstoffverbrennung aufgebaut und betrieben werden müssen, um diese Energietransformation zu ermöglichen.

Angst vor den Bürgern

Diese Aussichten treiben den etablierten Parteien den Angstschweiß auf die Stirn. Denn die kostentreibenden Folgen der ökologischen Klimapolitik, die mit Hilfe teurer Energieeffizienzvorgaben auf eine drastische Senkung des Energieverbrauchs setzt, um den verbleibenden Bedarf vollständig mit Hilfe der – nur begrenzt verfügbaren und extrem teuren – erneuerbaren Energien zu decken, werden mit der voranschreitenden Umsetzung immer deutlicher.

Längst mussten die etablierten Parteien erkennen, dass sie mit ihrer Klimapolitik den Unternehmen und den Bürgern die weltweit höchsten Strompreise beschert haben, obwohl hierzulande erst gut fünf Prozent des Primärenergieverbrauchs durch Wind- und Sonnenenergie gedeckt wird. Auch mit Hilfe gigantischer staatlicher Förderprogramme wie etwa der ab Juli 2022 erfolgten Streichung des EEG-Zuschlags, der die Strompreise mit zuletzt jährlich etwa 30 Milliarden Euro belastet hatte, konnte dies nicht verhindert werden. Und nun stehen mit dem beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren und ihrer zukünftig notwendigen bedarfsgerechten Bereitstellung jahrzehntelange und zudem erhebliche Kostensteigerungen bevor. Diese werden die längst in Gang gekommene Deindustrialisierung und die Kaufkraftverluste der Bürger vorantreiben und sogar beschleunigen. Die Protagonisten dieser Klimapolitik erkennen nun, dass die steigenden Energiekosten nicht nur mitverantwortlich sind für die sich auf lange Sicht abzeichnende wohlstandsvernichtende Stagflation der Wirtschaft. Sie bedrohen die Industrie mit einer langanhaltenden Schrumpfung bis hin zu einem von den energieintensiven Industrien ausgehenden zügigen Absturz.

Inzwischen gestehen führende Ökonomen öffentlich ein, dass sich die Deindustrialisierung unter den Prämissen der ökologischen Klimapolitik nicht verhindern lässt. Nun hat sich sowohl die Mehrheit der Ökonomen im einflussreichen Sachverständigenrat, der die Bundesregierung in wirtschaftspolitischen Fragen berät, als auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium gegen Habecks gedeckelten Industriestrompreis gewandt. Die Begründung des Wissenschaftlichen Beirats: Es sei ungewiss, „inwieweit Deutschland seinen Stromverbrauch in Zukunft durch eigene erneuerbare Energien zu niedrigen Preisen decken“ könne. Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrats begründet ihre ablehnende Haltung damit, dass auf Unternehmen gesetzt werde müsse, die auch bei hohen Strompreisen im globalen Wettbewerb mithalten können.

Noch deutlicher wurde der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Moritz Schularick: „Der Industriestrompreis ist ein Fehler. Wir sollten das Geld nicht in die energieintensive Industrie stecken, sie wird auf Dauer ohnehin verschwinden.“ Früher oder später werden demnach in den energieintensiven Branchen, darunter Stahl-, Chemie- und Papierindustrie, eine Million relativ gut bezahlter Industriearbeitsplätze und ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung in Deutschland verlorengehen.

Die Rettung der Klimapolitik

In der Diskussion um den Industriestrompreis stehen sich nun zwei Lager gegenüber. Sie eint der Konsens über die Richtigkeit der ökologischen Klimapolitik, die sie mit vereinten Kräften seit Jahrzehnten vorangetrieben haben. Um diese Klimapolitik zu retten, propagiert das eine Lager – angeführt von Habeck – die Subventionierung der Industrie, so dass sich die Deindustrialisierung nicht abrupt, sondern schleichend vollzieht. So will es vermeiden, dass die Bürger dieser Klimapolitik nicht das Vertrauen entziehen. Das zweite Lager, unter politischer Führung von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) –, fürchtet, dass die hohen Dauersubventionen für energieintensive Betriebe die verbleibenden Unternehmen und die privaten Verbraucher sehr zügig überlasten werden. Denn sie müssten nicht nur die Subventionen finanzieren, sondern zudem mit steigenden Energiepreisen zurechtkommen, was in der Bevölkerung die Akzeptanz der ökologischen Klimapolitik erheblich belasten würde. Sie sehen die Schließung von energieintensiven Unternehmen, die bei steigenden Energiepreisen nicht mehr wettbewerbsfähig sind, als notwendiges und vor allem kleineres Übel an, da Dauersubventionen nicht durchzuhalten wären.

In der Auseinandersetzung um den Industriestrompreis geht es weder um die Rettung der Industrie noch um die Bewahrung des Wohlstands. Im Zentrum steht nicht etwa die Sorge, dass die über Jahrzehnte weiter steigenden Energiepreise zu Deindustrialisierung und Wohlstandserosion führen werden, sondern dass dies zu abrupt geschieht und dadurch die Klimapolitik in Frage gestellt wird. Um Industrie und Wohlstand in Deutschland zu retten, ist es jedoch unabdingbar, eine Klimapolitik in Frage zu stellen, die einseitig darauf setzt, den Klimawandel auf Kosten des Wohlstands zu verhindern, anstatt den Klimawandel durch steigenden Wohlstand beherrschbar zu machen.

Der Beitrag erschien zuerst bei TE hier

 

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