Wie die Deutschen die eigene Betroffenheit von der Energiewende verkennen

von Theobald Tiger*

Seit dem 24. Februar 2022 ist die Angst vor einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine bittere Realität. Niemand, wirklich niemand mit Herz und Verstand kann diesen Krieg wollen. Vielen Deutschen gilt dieses Datum deshalb als Zeitenwende im Umgang mit dem großen Nachbarn im Osten Europas. Damit einhergehend wird auf vielen Ebenen nun intensiv über den Umgang mit dieser Situation diskutiert und von unterschiedlichen Seiten werden nachhaltige und vor allem langfristige Konsequenzen gefordert. Vonseiten der Politik gilt es vor diesem Hintergrund mittlerweile weitgehend als Konsens, die bestehenden, als einseitig empfundenen Abhängigkeiten von Russland zu reduzieren bzw. vollständig zu beenden. Das politische Zauberwort dabei: europaweites Embargo.

Das heißt im Moment für die Deutschen übersetzt, unter anderem vorerst kein Import von russischer Kohle, russischem Holz und russischem Öl mehr. Um das jeweilige Surrogat wird politisch noch intensiv gerungen, teilweise aber auch schon erste Festlegungen beispielsweise mit Katar über die Lieferung von Flüssiggas getroffen. Angesichts fehlender Alternativen stellt sich die deutsche Bundesregierung bislang jedoch noch gegen ein allumfassendes Embargo, die deutsche Bevölkerung, glaubt man den Umfragen, ist uneinheitlich in dieser Frage und die deutsche Industrie warnt vor den Folgen. Und so näher der Winter kommt, umso deutlicher kann man in der Politik nun das Szenario Blackout hören.

Mit einem Schlag wird deutlich, dass auch strategische Abhängigkeiten ökonomischer Natur problematisch sein können. Auf einen Schlag wird deutlich, dass Deutschland, die eigene Versorgungssicherheit vor lauter Energiewende nicht mehr ausreichend im Blick hatte. Aber ist es deshalb wirklich sinnvoll nun von einer Abhängigkeit (Russland) in die nächste (Katar) zu gleiten? Zumindest ökonomisch sinnvoll ist es jedenfalls bislang nicht, was die Börsenpreise für Erdgas im Vergleich zum Vorkrisenniveau auch nach der Kooperationsankündigung mit Katar im Augenblick zeigen. Deutschland verbraucht etwa 1.000 Terawattstunden Gas im Jahr. Den größten Anteil davon, etwas mehr als ein Drittel nutzt die Industrie, dicht gefolgt von den Haushalten, die ebenfalls knapp ein Drittel in Anspruch nehmen und mit etwas Abstand folgt dann Gas in der Stromerzeugung.

Sofern energiewirtschaftliche Unabhängigkeit tatsächlich das primäre politische Zielkriterium sein sollte, dann lässt sich dies durchaus erreichen, aber nur zu einem hohen Preis und nicht ohne ernsthaft über Alternativen nachzudenken. Erdgas zum Beispiel hat am deutschen Primärenergieverbrauch einen Anteil von etwa 25 Prozent. Das ist enorm viel, wenn man sich vor Augen führt, dass der ⁠Primärenergieverbrauch⁠ den Energiegehalt aller im Inland eingesetzten Energieträger repräsentiert und somit sämtliche Lebensbereiche bzw. die gesamte Volkswirtschaft darüber repräsentiert wird. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang außerdem, dass von den drei wichtigsten fossilen Brennstoffen Erdgas gegenüber Kohle und Erdöl den niedrigsten spezifischen CO2-Emissionsfaktoren aufweist.[1]

Damit gilt Erdgas eigentlich als die perfekte Brücke auf dem Weg in Richtung Klimaneutralität. Dennoch ist in ein paar Jahren ein Ausstieg aus dem Erdgas durchaus denkbar, ein kurzfristiger Prozess kann es allerdings niemals werden. So nimmt es auch nicht Wunder, dass die Europäische Kommission im Rahmen der von wenigen Monaten erlassenen sogenannten Taxonomie-Verordnung (wichtiges klimapolitisches Steuerungsinstrument der EU) Erdgas als Energieträger einstuft, der den Energiebedarf in der EU in der Übergangsphase zuverlässig abdeckt.[2]

Zudem wird die Politik, meint sie es ernst mit dem Primat der energiewirtschaftlichen Unabhängigkeit nicht umhinkommen einzugestehen, dass der nahezu parallele Ausstieg aus Kernenergie und Kohleverstromung die Deutschen erst in diese Abhängigkeit gerade von Russland gebracht hat. Ferner gilt es dann anzuerkennen, dass der große Traum von der deutschen Klimaneutralität bis 2045 mit dem gleichzeitigen Wunsch nach Unabhängigkeit vollständig unrealistisch wird. Darüber öffentlich zu sprechen, den Bürgern reinen Wein einzuschenken, gehört eben auch zur Energiewende und zu einer ehrlichen politischen Diskussion. So wünschenswert es auch sein mag, den Weg zu einer klimaneutralen, bezahlbaren und sicheren Energieversorgung über den schnelleren Ausbau der Erneuerbaren Energien und/oder die Steigerung der Energieeffizienz zu erreichen, es ist auf dem aktuellen Stand der Technik eine Phantasie.

Lässt sich die gebotene Reduktion der Abhängigkeit von Russland dennoch in einem glaubwürdigen Transformationspfad realisieren? Mittlerweile arbeitet die deutsche Bundesregierung neben dem forcierten Ausbau der Erneuerbaren Energien mit Hochdruck an einer LNG-, also Flüssiggasstrategie. Dabei fehlt es den Deutschen momentan noch an vielem, was eine geeignete Infrastruktur dafür voraussetzt. Abgesehen davon, dass LNG-Terminal-Kapazitäten erst im Entstehen sind, muss das verflüssigte Gas auf der Welt erst in ausreichender Menge und zu bezahlbaren Kosten beschafft werden. Im Augenblick zumindest ist Flüssiggas noch erkennbar teurer als das russische Pipelinegas bisher.

Doch was ist mit den Alternativen, im Sinne einer Reduktion der Nachfrage oder Substitution von Erdgas? Ein populärer Denkansatz besteht im Augenblick in der Reduktion der Nachfrage durch Verbrauchsreduktion der Haushalte.[3] Allerdings wird – wie bereits angesprochen – ein erheblicher Teil des importierten Erdgases nicht in den Haushalten, sondern in der Industrie sowie in der Stromerzeugung verbraucht. Dazu korrespondierend existiert natürlich auch die politische Vorstellung die Wirtschaft könnte ihren Energiebedarf erkennbar drosseln. Die durchoptimierte deutsche Wirtschaft realisiert jedoch bereit heute jedes Promille an Effizienzsteigerung, da es Wettbewerbsvorteile bringt. Zur Wahrheit gehört nämlich auch, dass die im internationalen Wettbewerb stehenden deutschen Unternehmen bereits heute mit die höchsten spezifischen Energiekosten im Vergleich zu den konkurrierenden Volkswirtschaften tragen.

Der Wiedereinstieg in die fossile Verstromung ist eine weitere denkbare Alternative, allen voran natürlich Kohle und hier insbesondere Braunkohle, als wichtige nationale Ressource. Der daraus entstehende Konflikt mit den Klimaschutzzielen ist evident und ließe sich auch nicht über den europäischen Emissionshandel (wichtiges Klimaschutzinstrument der EU) lösen, da die festgelegten Emissionsobergrenzen nicht mehr zu halten wären. Einen CO2 armen durch einen CO2 reichen Energieträger zu ersetzen, um die gleiche Menge an Energie zu erzeugen, bedeutet automatisch eine höhere CO2-Last. Aus einem Mehr an Kohleverstromung resultiert also unmittelbar, dass die EU ihren selbstgesteckten (und bereits sehr ambitionierten) Pfad zur Klimaneutralität verlassen müsste. Zudem würde aus einer intensivierten Kohleverstromung eine zusätzliche Kostenbelastungen für die vom ETS erfassten Unternehmen folgen, was wiederum teilweise oder ganz auf deren Kunden übergewälzt wird.

Will Deutschland sich aus der energiewirtschaftlichen Abhängigkeit in der langen Perspektive befreien, ist das Denken in Alternativen unumgänglich. Hinzu kommt die Notwendigkeit, dabei vollkommen ergebnis- und technologieoffen zu denken. Denn den einen großen Wurf, kann es für Deutschland bei der Sicherstellung der eigenen Versorgungssicherheit nicht geben. Wahrscheinlich ist vielmehr die Kombination aus vielen Aspekten der Weg in die energiewirtschaftliche Zukunft Deutschlands. Gleichzeitig wird man nicht umhinkommen, auch unangenehme Themenstellungen wie längere Laufzeiten für Atomkraftwerke oder bisher ausgeschlossene Alternativen wie Fracking neu zu diskutieren.

Deutschland verfügt zum Beispiel über einen reichen Schatz an Braunkohle. Der bereits definierte Kohleausstieg ist allein eine politische Festlegung, zumal die Möglichkeit Kohlendioxid via CCS-Technologie abzuscheiden, wegen grundsätzlicher Bedenken bisher noch nicht zum Einsatz kam. Gleiches gilt für ungeförderte Erdgasvorkommen, die durch Fracking gehoben werden könnten. Sich gegen die Ausbeutung der eigenen Ressourcen zu stellen aber gleichzeitig Frackinggas aus anderen Ländern zu importieren, um die Gasversorgung im Land sicherzustellen, ist durchaus widersprüchlich. Wünschenswert wäre eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, was gesellschaftlich in der Abwägung zwischen energiewirtschaftlicher Unabhängigkeit, Bezahlbarkeit und Sicherheit gesellschaftlich konsensfähig ist. So oder so, es liegt kein leichter Weg vor uns.

Literatur

1 Vgl. Umweltbundesamt (2016); „CO2-Emissionsfaktoren für fossile Brennstoffe“; https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1968/publikationen/co2-emissionsfaktoren_fur_fossile_brennstoffe_korrektur.pdf;

2 Vgl. Europäisches Parlament, Taxonomie: Keine Einwände gegen Einstufung von Gas und Atomkraft als nachhaltig; https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20220701IPR34365/taxonomie-keine-einwande-gegen-einstufung-von-gas-und-atomkraft-als-nachhaltig;

3 Vgl. Zeit online (2022); Ex-Bundespräsident: „Auch einmal frieren für die Freiheit“; https://www.zeit.de/news/2022-03/10/ex-bundespraesident-auch-einmal-frieren-fuer-die-freiheit?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F;

  1. Vgl. Umweltbundesamt (2016); „CO2-Emissionsfaktoren für fossile Brennstoffe“; https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1968/publikationen/co2-emissionsfaktoren_fur_fossile_brennstoffe_korrektur.pdf;
  2. Vgl. Europäisches Parlament, Taxonomie: Keine Einwände gegen Einstufung von Gas und Atomkraft als nachhaltig; https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20220701IPR34365/taxonomie-keine-einwande-gegen-einstufung-von-gas-und-atomkraft-als-nachhaltig;
  3. Vgl. Zeit online (2022); Ex-Bundespräsident: „Auch einmal frieren für die Freiheit“; https://www.zeit.de/news/2022-03/10/ex-bundespraesident-auch-einmal-frieren-fuer-die-freiheit?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F;

 

  • Der Autor ist eine Experte aus der Energiebranche, sein Autorenname Theobald Tiger ist ein Pseudonym, der Autor ist der EIKE Redaktion in Person bekannt
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