von Hans Hofmann-Reinecke

Ein außergewöhnlicher Tag

Der 21. Juli 356 v. Chr. war ein außergewöhnlicher Tag im Kalender des klassischen Altertums. In Mazedonien erblickte Alexander der Große das Licht der Welt und in Ephesus wurde ein bedeutendes Bauwerk durch Flammen zerstört: der Tempel der Artemis, der Göttin der Jagd und des Lebens.

Seine perfekte Schönheit, die Harmonie der Gestaltung im Großen sowie im Detail, hatten dem Tempel einen Platz unter den sieben Weltwundern beschert. Baumeister aus Kreta, unter der Leitung des genialen Chersiphron, hatten vor 200 Jahren im Auftrag des Königs Krösus von Lydien dieses Wunderwerk aus Marmor errichtet. Zu Recht wurden diese Architekten auch noch nach ihrem Tode für die schöpferische Leistung gefeiert und verehrt. Ihr Werk hatte sie unsterblich gemacht.

Aber nicht für alle war dieses Ergebnis menschlicher Kreativität, dieses Symbol klassischer Schönheit ein Quell der Freude. Eine Person, die vielleicht selbst weder mit großer Schönheit, noch mit Intelligenz oder Kreativität gesegnet war, könnte auf den Ruhm der Meister neidisch sein – und genau solch ein Neider war ein gewisser Herostratos. Der hatte bislang in seinem Leben wenig Nützliches oder Schönes geschaffen und konnte auch nicht hoffen, jemals durch Leistung berühmt zu werden.

Dieses Ressentiment trieb ihn dann zu einer Tat, die ihn unsterblich machen sollte. Er ließ jenes Objekt perfekter Schönheit, dieses vollendete Zeugnis menschlicher Genialität und Schaffenskraft in Flammen aufgehen.

Die Stärken und Schwächen der Seele

Herostratos hatte also sein Ziel erreicht: Als Brandstifter des Artemis-Tempels zu Ephesus ging er in die Geschichte ein.

Die Psychologie des Menschen, die Stärken und Schwächen seiner Seele haben sich seit der Antike kaum verändert, und so könnte es durchaus sein, daß Nachfahren des Herostratos, seine Brüder und Schwestern im Geiste immer noch unter uns weilen. Da könnte es auch heute Personen geben, die vielleicht weder mit hoher Intelligenz noch Schaffenskraft gesegnet sind, die bislang in ihrem Leben weder Nützliches noch Schönes geschaffen haben. Und diese könnten voller Mißgunst auf Leistungen schauen, die geniale und tatkräftige Personen in der Vergangenheit zum Segen der Menschheit erbracht haben. Und in deren Seele könnte dann vielleicht derselbe zerstörerische Trieb erwachen, von dem auch Herostratos besessen war.

Aber was könnte in heutiger Zeit das Objekt solchen Hasses sein? Nun, seit der Steinzeit kannte der Mensch nur eine einzige Quelle für Wärme: das Feuer. Doch dann, im 20. Jahrhundert n. Chr. entdeckten kluge Wissenschaftler eine neue Energiequelle, die millionenfach stärker war als das Verbrennen von Holz oder Kohle: die Kernspaltung. Diese Entdeckung und die Genialität von Ingenieuren brachten dann ein Weltwunder hervor, welches sich mit den Bauwerken der Antike zweifellos messen kann: Die Kernkraft.

Und genau darauf richtet sich der Haß der modernen Herostraten.

Philippsburg, ein Ephesus der 21. Jahrhunderts

Im Gegensatz zu ihrem antiken Vorläufer, der ein Einzeltäter war und der für sein Verbrechen hingerichtet wurde, agieren die heutigen Herostraten in Gruppen, in großen Gruppen. Sie haben Macht und Einfluss errungen und sie brauchen, anders als Herostratos, keine Strafe zu befürchten.

Und so wurde dann am 18. Mai 2020 ein moderner Artemis-Tempel das Opfer ihres Hasses. Die Kühltürme des Kernkraftwerks Philippsburg wurden in einer Orgie der Schadenfreude in die Luft gesprengt, und die Energiequelle für Millionen Haushalte im Lande war damit vernichtet.

Die Strafe, welche die die modernen Herostraten jetzt ereilt ist vergleichsweise sanft: Energie sparen und kalt duschen. Aber nicht nur das: den Zusammenhang zwischen ihrem zerstörerischen Tun und der Stromknappheit zu erkennen, das würde ihre kognitive Leistungsfähigkeit ohnehin überfordern.

Dieser Artikel erschien zuerst im Blog des Autors Think-Again. Sein Bestseller „Grün und Dumm“ ist bei Amazon erhältlich.

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