Wird Frankreich sich vom europäischen Strommarkt zurückziehen?

Edgar L. Gärtner

Außer in Tschechien und in Ostdeutschland scheinen die exorbitanten Preissteigerungen für Strom und Gas, deren Beginn eindeutig vor dem 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Einmarsch in die Ukraine liegt, in Mitteleuropa noch keine nennenswerten Massenerhebungen provoziert zu haben. Anders ist das in unserem westlichen Nachbarland Frankreich. Noch zahlen die meisten Franzosen für die Kilowattstunde Strom nur 19 Eurocent. Die meisten Deutschen können davon nur träumen, denn sie zahlen schon heute ein mehrfaches davon. Vor einigen Monaten war der Strompreis für Endkunden in Frankreich sogar noch deutlich günstiger. Auch dort gab es also Preissteigerungen. Diese wurden von der Regierung allerdings durch Eingriffe in den Strom-Markt in Form einer Preisdeckelung zumindest kurzfristig gestoppt. Bei uns in Deutschland hingegen steigen die Preise ins Unermessliche. Der Autor dieser Zeilen erhielt vor kurzem von seinem Stromlieferanten die Mittelung, die Kilowattstunde werde ab dem 17. Oktober 1,26 Euro kosten. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Dennoch hält sich die Aufregung darüber bislang bei uns in Deutschland, abgesehen vom Osten, in Grenzen.

Deutlich stärkere Proteste gegen die Verteuerung bahnen sich in unserem Nachbarland Frankreich an. Viele Franzosen regen sich darüber auf, dass ihre Regierungen unter den Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron ihr (zu Recht oder zu Unrecht) als „Volkseigentum“ betrachtetes früheres Staatsmonopol Électricité de France (EDF) an den Rand des Ruins gebracht haben, indem sie gedankenlos willkürliche Vorgaben der EU für den Strommarkt umsetzten. Als besonders ärgerlich gilt die Tatsache, das auch in Frankreich der Strompreis im Rahmen des Merrit Order Systems indirekt vom teuren Gas und nicht allein von dem in Frankreich dominierenden Strom aus längst abgeschriebenen Kernkraftwerken bestimmt wird. So entsteht Druck, sich vom europäischen Strommarkt abzukoppeln, obwohl das inzwischen technisch schwierig geworden ist.

Am Ursprung der zu Unrecht als „Liberalisierung“ gefeierten Öffnung des europäischen Strommarktes stand das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 13. März 2001 im Rechtsstreit zwischen der PreussenElektra AG und der Schleswag AG über die Europarechtskonformität des deutschen Stromeinspeisegesetzes. Das Gericht in Luxemburg entschied, dass die Regelung, wonach Preussenelektra den in ihrem Versorgungsgebiet erzeugten Strom aus „erneuerbaren“ Energiequellen zu Mindestpreisen abnehmen muss, keine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 92 (jetzt 87) Abs. 1 EG darstellt. Das Gericht ging dabei unausgesprochen davon aus, dass Elektrizität eine Ware wie Zucker oder Joghurt ist. Es orientierte sich formal an den Vorgaben des langjährigen sozialistischen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors, der schon Ende 1992 die Schaffung eines einheitlichen EU-Binnenmerktes für Güter und Dienstleistungen vorgeschlagen hatte. Am 26. Juni 2003 erließen EU-Parlament und Rat eine dem entsprechende Direktive über die Öffnung des europäischen Strommarktes.

Man hätte diesen einheitlichen Markt mit einigen Abstrichen, was die Anerkennung der Existenz natürlicher Monopole und ihrer Kostenvorteile anbelangt, vielleicht auch bei der Elektrizitätsversorgung haben können. Doch im Jahre 2009 hat die im Jahre 2005 neu gewählte deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in der EU durchgesetzt, dass den teuren „erneuerbaren“ Energien ein privilegierter Zugang zum Markt gewährt werden muss. Somit wurde das oben zitierte EuGH-Urteil maßgebend für die Gestaltung des europäischen Strommarktes. Dieser kann nicht funktionieren, solange den teuersten Energien Privilegien eingeräumt werden.

Das zeigt sich nicht zuletzt im Versuch etablierter Politiker, die EU-Vorgaben auf den von der Kernenergie dominierten französischen Strommarkt zu übertragen, um sich auch in Frankreich den langsam aufkommenden Grünen anzubiedern. Am 7. Dezember 2010 wurde das Gesetz über die neue Organisation des Elektrizitätsmarktes (bekannt als „Loi Nome“) verabschiedet. Danach ist EDF verpflichtet, ein Viertel seines in Kernkraftwerken erzeugten Stromes gemäß der Verordnung ARENH (Accès réglementé à l‘électricité nucléaire historique) zum Festpreis von € 42,-/MWh an alternative (Grüne) Stromverkäufer abzugeben, obwohl dessen Marktpreis inzwischen um mehrere Hundert Euro höher ist. Diese Regelung hat sicher dazu beigetragen, dass EDF inzwischen mit über 40 Milliarden Euro verschuldet ist. Da zurzeit noch immer fast die Hälfte der 56 Kernreaktoren von EDF wegen Reparatur- und Wartungsarbeiten stillliegt (sie sollten ursprünglich ab September 2022 sukzessive wieder ans Netz gehen), könnten die Schulden nach Schätzungen von Fachleuten bis zum Ende des Jahres bis auf 60 Milliarden Euro anwachsen, da EDF u.a. in Deutschland teuren Gas-Strom zukaufen muss, um das nationale Stromnetz im kühlen Herbst vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

Am 19. Juli 2022 hat der französische Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire plötzlich angekündigt, der Staat werde den bereits zu 84 Prozent im Staatsbesitz befindlichen Konzern EDF zu 100 Prozent nationalisieren. Er sagte der Minderheit privater Kleinaktionäre einen Preis von 12 Euro je Aktie und den Zeichnern konvertibler Anleihen € 15,64/Stück zu. Insgesamt stellt der französische Staat für den Rückkauf 10 Milliarden Euro zur Verfügung. Im Jahre 2005 war die EDF-Aktie für 32 Euro in die Börse eingeführt worden. Die Kleinaktionäre, die damals wohl dachten, einen sicheren Ort für die Platzierung ihrer Ersparnisse gefunden zu haben, können sich nun bei ihrem Staat bedanken.

Wer nur ein wenig Ahnung von Wirtschaft hat, wird sich unwillkürlich fragen, warum jemand, der schon 84 Prozent eines Konzerns besitzt, unbedingt 100 Prozent haben möchte. Denn mit 84 Prozent des Kapitals kann er im Konzern bereits schalten und walten wie er will. Der französische Staat hätte (in den Augen von Menschen mit gesundem Verstand) wohl besser daran getan, die 10 Milliarden in eine Erhöhung des Eigenkapitals der hoch verschuldeten EDF und/oder die Verbesserung der Versorgungssicherheit zu investieren. Vermutlich steckt also eine andere Absicht hinter der Renationalisierung von EDF. Bruno Le Maire rechtfertigt das umstrittene Vorhaben damit, es gehe darum, die „energetische Unabhängigkeit Frankreichs“ durch das neue Nuklearprogramm des Präsidenten Emmanuel Macron und den weiteren Ausbau der „erneuerbaren“ Energien zu stärken. Danach sollen 6 bis 14 neue KKW des Typs EPR gebaut und gleichzeitig die Entwicklung von kleinen modularen Kernreaktoren vorangetrieben werden. Die französische Regierung zieht damit offenbar die Konsequenz aus dem begonnenen wirtschaftlichen Absturz Deutschlands infolge des Stopps russischer Gaslieferungen und aus dem damit einhergehenden Ende der engen deutsch-französischen Partnerschaft in der Europapolitik. Warum hat sie dann aber die Schließung des elsässischen KKW Fessenheim auf Drängen der deutschen Grünen akzeptiert? Woher sollen in der absehbaren tiefen Wirtschaftskrise die Finanzmittel für das ehrgeizige Programm kommen?

Ein Vorteil der Nationalisierung läge wohl in der Abschottung der französischen Energiepolitik vor dem Urteil dem Urteil der internationalen Finanzmärkte. Noch wichtiger für Emmanuel Macron und seine Regierung dürfte etwas anderes sein: Die Franzosen werden seit dem vergangenen Sommer – anders als die Deutschen – durch systematisches Propaganda-Trommelfeuer in den Massenmedien auf die Rationierung der Energieversorgung im kommenden Winter vorbereitet. Es gibt bereits detaillierte Pläne zur zeitweisen Fernabschaltung der Warmwasserboiler in den Privathaushalten mithilfe der inzwischen überall verpflichtend eingebauten digitalen Stromzäher (in Frankreich „Linky“ genannt). Emmanuel Macron und seine Minister haben sich offenbar in den Kopf gesetzt, die Ziele des in Frankreich als nationale Errungenschaft geltenden Pariser Klima-Abkommens von 2015 auf Teufel komm raus umzusetzen. (In Deutschland ist hingegen vom Pariser Abkommen wegen der erzwungenen Rückkehr zur Kohle-Verfeuerung kam noch die Rede.) Aktuell bedient sich die Pariser Regierung dabei offenbar des aus dem Ruder laufenden Streiks der eigentlich privilegierten Raffinerie-Beschäftigten. Tausende französischer Tankstellen sind aktuell (14.10) bereits mangels Treibstoff-Nachschubs geschlossen. Statt auf eine Besänftigung des Tarifstreits hinzuarbeiten, goss Premierministerin Elisabeth Borne mit ihrem Versuch, mit Hilfe autoritärer Dienstverpflichtungen direkt in den Tarifkonflikt einzugreifen, noch Öl ins Feuer. Jetzt droht ein Generalstreik. Die linken Gewerkschaften CGT und FO blockieren bereits die Wiederinbetriebnahme in Stand gesetzter Kernkraftwerke. Auch die Eisenbahner haben Streiks angekündigt… Wie das enden wird, ist zurzeit nicht absehbar. Als sicher kann jedoch gelten, dass Frankreich in der Energie- und Klimapolitik weniger Rücksicht auf deutsche Befindlichkeiten nehmen wird.

 

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