Grundsätzlich könnte die Energie eine Friedensbrücke sein

Edgar L. Gärtner

Da es ein europäisches Staatsvolk nicht gibt, ist die Europäische Union ein Gebilde, das nur durch zwischenstaatliche Verträge (und mehr und mehr durch finanzielle Erpressung) zusammengehalten wird. Leider werden die Grundlagen-Verträge der europäischen Einigung immer seltener eingehalten, was die regierende EU-Kommission zu einem anomischen Dingsbums macht, das die augustinische Bezeichnung „Räuberbande“ tendenziell zum Euphemismus macht. Die abnehmende Treue der Westeuropäer gegenüber feierlich eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen führt jetzt im Streit um russisches Erdgas und die Souveränität der Ukraine an den Rand eines heißen Krieges.

Nach der Implosion des Sowjetreiches im Jahre 1991 schien die Marschrichtung zunächst klar. Kaum war der Kalte Krieg zu Ende, setzten sich Technokraten und Diplomaten aus West und Ost an den Verhandlungstisch, um den Energie-Charta-Vertrag (ECT) auszuhandeln. Dieser wurde im Jahre 1994 in Lissabon unterzeichnet und trat 1998 in Kraft. (Ich habe hier darüber berichtet.) Dieses weitreichende Vertragswerk mit einem permanenten Sekretariat in Brüssel sollte es erleichtern, die Energiewirtschaft der Ex-Sowjetrepubliken und der osteuropäischen Staaten in die europäischen und globalen Märkte zu integrieren. Um Investoren in Länder mit noch unsicherer Rechtslage zu locken, gewährt der Vertrag Auslandsinvestitionen in Kraftwerke und anderen Energie-Infrastrukturen einen besonderen Schutz. Bis 20 Jahre nach seinem eventuellen Austritt aus dem Vertrag kann ein Staat von privaten Energieproduzenten mithilfe nicht öffentlich tagender Schiedsgerichte noch zu hohen Schadensersatzzahlungen verpflichtet werden.

Doch der Europäische Gerichtshof (EuGH) erklärte am 2. September 2021 die Energiecharta für unwirksam. Sie widerspreche dem Pariser Klimaabkommen und dem „Green Deal“ der EU, lautet die Urteilsbegründung. Initiiert wurde der Gang zum EuGH von Julia Steinberger und Yamina Saheb, zwei Lead-Autorinnen des 6. Sachstandsberichts des IPCC. Auch in Europa setzt sich nun also der Trend durch, den verlässlichen Rechtsstaat Schritt für Schritt durch den launischen Maßnahmenstaat abzulösen. Nach deutschem Vorbild: Keine Verfassung, die diesen Namen verdient, aber ein Staatsschutz, der sich „Verfassungsschutz“ nennt, und ein Verfassungsgericht, das die Rechtslage so auslegt, wie es der Regierung gerade in den Kram passt. Die Chance einer längerfristigen fruchtbaren und friedensstiftenden Zusammenarbeit zwischen Westeuropa und Russland bei der Energie- und Rohstoffversorgung wird dabei vertan.

Russland hat den ECT-Vertrag bis heute nicht ratifiziert und wird ihn wahrscheinlich auch nicht mehr benötigen. Ursprünglich machten sich Wladimir Putin und seine Getreuen Hoffnungen auf jährlich etwa 20 Milliarden Dollar westliche Investitionen in Technologien der Förderung und des Transports von Erdgas und Rohöl. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) kam ihnen entgegen, indem er gemeinsam mit seinen französischen und niederländischen Amtskollegen das Projekt der Pipeline Nord Stream 1 vorschlug (das war ursprünglich keine Idee der Russen). Die Pipeline war gewissermaßen als Ersatz für das stillgelegte Kernkraftwerk Greifswald gedacht. Manuela Schwesig, (SPD), die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, weiß das sicher noch. Denn damals, zu Zeiten der ersten rot-grünen Regierungskoalition in Berlin, zeichnete es sich schon ab, dass Deutschland nach dem Atom-Ausstieg zum Ausgleich der unstet arbeitenden Windkraftanlagen (WKA) immer größere Erdgasmengen für den Betrieb der als Backup der WKA gedachten Gaskraftwerke benötigen würde. Auch Nord Stream 2 wurde auf deutschen Wunsch in Angriff genommen. Der russische Gaskonzern Gazprom hat inzwischen mehr Interesse an Pipelines Richtung China und hat schon zwei davon in Betrieb genommen.

Insofern erscheint es abwegig, Putin mit dem Stopp von Nord Stream 2 drohen zu wollen. Und das erklärt auch wohl, neben Problemen des europäischen Rechts, das Lavieren von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Dagegen liegt die Verhinderung von Nord Stream 2 eindeutig im längerfristigen geopolitischen Interesse der USA. Sie widersetzen sich deshalb der Umsetzung von Minsk 2. Das nährt den Verdacht, dass die Zuspitzung der Konfrontation in der Ukraine zu einem beträchtlichen Teil auf die Wühlarbeit von US-Diensten zurückgeht. Der US-Stratege Zbigniew Brzeziński sprach in seinem beachtenswerten Buch „The Grand Chessboard – American Primary and its Geostrategic Imperatives“ (deutsch „Die einzige Weltmacht“) schon gegen Ende der 1990er Jahre von einem „Gebot, keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen.“ Dagegen sah er die USA und China als „natürliche Verbündete.“ Das wird heute kaum noch jemand behaupten wollen.

Es ist nicht nur der Stammtisch, der heute fordert, die politische Strategie Westeuropas müsse demgegenüber darauf abzielen, die sich anbahnende Rückkehr Russlands zur solidarischen Zusammenarbeit mit der VR China in Form eines neuen Ostblocks zu verhindern. Das fordern zum Beispiel auch der noch immer einflussreiche ehemalige französische Industriekapitän Loïk Le Floch-Prigent und sein Freund Samuel Furfari, der erstgenannte früherer Chef des französischen Öl- und Gaskonzerns Elf-Aquitaine, der zweite ehemaliger Top-Beamter der EU-Generaldirektion Energie, der jetzt Geopolitik lehrt. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron scheint ein offenes Ohr für diese Argumente zu haben. Auf der Botschafterkonferenz Ende August 2019 plädierte er eindringlich für eine engere technologische Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland. Er regte an, eine neue europäische Sicherheitsarchitektur auf der Grundlage verlässlicher Energieversorgung aufzubauen. Macron hat diese Position vermutlich auch in der aktuellen Pendel-Diplomatie um den Ukraine-Konflikt beibehalten. Er knüpfte dabei bewusst an Initiativen der EWG-Gründerväter Robert Schumann und Konrad Adenauer an.

Mit ihrem illusionären Versuch, mithilfe des „Green Deal“ bis zur Jahrhundertmitte auf alle fossilen Energieträger verzichten zu können, wählt die EU-Kommission auf Druck Berlins stattdessen eine „Geopolitik des Kindergartens“ (so Samuel Furfari). Denn Wind und Solar, die in den Augen der grünen Kinder einzig als „gut“ durchgehen, eignen sich nicht als Friedensbrücke. Demgegenüber eignen sich die viel geschmähten „fossilen“ Energieträger Erdgas und Rohöl, auf denen Russland sitzt, vor allem deshalb als solides Friedenspfand, weil sie mindestens noch bis zum Ende dieses Jahrhunderts (und darüber hinaus) dringend gebraucht werden. Zumal Russland auch während des Kalten Krieges seine vertraglichen Lieferverpflichtungen immer zuverlässig erfüllt hat. Der rasche Anstieg der Öl- und Gaspreise nach den Corona-Lockdowns zeigt an, dass die Nachfrage nach diesen Energieträgern unelastisch ist. Dass hohe Energiepreise die Verbraucher zur Sparsamkeit antreiben, stimmt zwar. Doch bleibt ein absoluter Rückgang des Energiebedarfs bis auf weiteres ein unerfüllbarer grüner Traum.

Mit ihrer Zustimmung zu den illusorischen Forderungen der deutschen Grünen und dem Verbot der Erdgas-Prospektion in ganz Westeuropa hat die EU-Kommission unter Frau von der Leyen Deutschland und die ganze EU erpressbar gemacht. Der durchaus zweckrational agierende Machtpolitiker Wladimir Putin nützt das aus. Und er wäre dumm, wenn er das nicht täte. Moralische Appelle, die in der großen Politik ohnehin nichts zu suchen haben, werden ihn kaum beeindrucken. Wer das Buch des seligen russischen Star-Mathematikers und Lenin-Preisträgers Igor R. Schafarewitsch „Der Todestrieb in der Geschichte“ nicht gelesen hat, wird kaum verstehen, was in der Europäischen Union derzeit abgeht: Der „Green Deal“ der EU ist ein Selbstmordprogramm.

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht automatisch der der EIKE Redaktion

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