Die Skandinavier sind vom Klima so einiges gewohnt. Die Temperaturdifferenzen übers Jahr sind deutlich größer als in Mitteleuropa, heiße Sommer mit viel Licht wechseln schnell in lange, dunkle und kalte Winter. Das erfordert ein solides Energiesystem, das relativ wenige Menschen auf großer Fläche sicher versorgt. Viel Bergland gibt ein großes Potenzial an Wasserkraft, die die umsichtigen und pragmatischen Nordländer seit mehr als hundert Jahren auch zur Stromgewinnung nutzen.
Norwegen ist heute der sechstgrößte Wasserkraftproduzent der Welt. Die Stauseen bieten ein Speichervermögen von 82 Terawattstunden (Deutschlands Pumpspeicherwerke: 0,045 Terawattstunden). Das Land mit nur fünf Millionen Einwohnern hat sich ein ausgeklügeltes System seiner Versorgung gebaut und kann sich seinen Ökostromanteil von 90 bis 98 Prozent Wasserkraft vor allem dadurch sichern, dass es seine Wasserspeicher intersaisonal nutzt. Von Frühjahr bis Herbst wird Wasser aufgestaut, um im Winter, wenn es nicht regnet und Flüsse gefroren sind, die Speicher bedarfsgerecht abzulassen. Immerhin die Hälfte der 82 Terawattstunden Speichervermögen wird als Wintervorrat beansprucht. Das System ist mit geringstem Aufwand regelbar.
Das weckt deutsche Begehrlichkeiten, den exzessiv auftretenden deutschen Zappelstrom durch Stromaustausch mit Norwegen glatt gebügelt zu bekommen, wofür der Begriff „Superbatterie“geprägt wurde. Oft ist von norwegischen Pumpspeicherwerken die Rede. Aber schon das ist falsch, denn von den etwa 1.250 dortigen Wasserkraftwerken verfügen nur drei über die Möglichkeit, Wasser auch wieder in ein oberes Becken zu pumpen. Nutzen kann man die Funktion der Staukraftwerke als virtuelle Speicher, die Wasser aufstauen und länger speichern können, wenn zum Beispiel deutscher Windstrom das europäische Netz aufbläst. Diese Superbatterie wird von unseren Wendebegeisterten als wichtiges Element der zukünftigen Versorgung gesehen. Nun sind deutsche Wünsche nicht unbedingt die gleichen wie norwegische. Genau das Prinzip intersaisonaler Speicher bräuchte Deutschland, um den Solarstromüberschuss aus dem Sommer in den Winter zu retten, was Professor Sinn in diesem Vortraganschaulich zeigt. Der Beitrag ist etwas länger – aber es lohnt sich. Natürlich ist der deutsche Speicherbedarf im Vergleich zum dünn besiedelten Norwegen gigantisch.
Die Norweger bauten ihr System, um sich zu versorgen und die Kuppelstellen zu den Nachbarländern, um die Versorgungssicherheit zu erhöhen. Eines werden die Norweger mit Sicherheit nicht tun: Sich auf deutschen Windstrom stützen oder sich ihr System von außen in Schwanken bringen lassen. Wenn es dabei aber Geld zu verdienen gibt, werden sie es schon in kontrollierter Weise tun. Stromhandel kann ein einträgliches Geschäft sein, vor allem wenn es in Deutschland negative Strompreise gibt. Dann sorgt zwischengespeicherter deutscher Strom für eine ordentliche Gewinnspanne, die Österreich und die Schweiz heute schon nutzen. Allerdings gibt es hydrologische Restriktionen. Wenn die Stauseen voll sind, kann man nicht weiter anstauen. Dann könnte aber Wasser über den Bypass ungenutzt abgelassen werden, wenn deutscher Strom verschenkt wird samt Geld dazu.

Dann würden deutschen Kunden verhinderten norwegischen Ökostrom bezahlen.

In diesem Sommer käme überwiegend gar kein Strom aus Norwegen, denn nach einem sehr trockenen Frühjahr und Sommer sind die Speicherseen in Norwegen ziemlich leer. Waldbrände greifen um sich und Strom muss sogar importiertwerden, vor allem aus Schweden. Dort sind die Speicher zwar auch weitgehend leer, aber es bleibt die für Skandinavien wichtige stabile Säule der schwedischen Kernkraft. Wir erinnern uns, dass aus dem nach Tschernobyl getroffenen Ausstiegsbeschluss ausgestiegen wurde und sogar Neubauten wieder erlaubt sind. 2040 wollen die Schweden eine CO2-freie Stromerzeugung haben und sie werden es Dank Wasser- und Kernkraft auch schaffen.
Die reichlich 6 Gigawatt installierte schwedische Windkraft ist derzeit „nicht hilfreich“, um ein geflügeltes Kanzlerinnenwort zu gebrauchen. Sehen wir uns die Lastlage in Schweden am Montag, dem 16. Juli 2018 um 12 Uhr an:

Über 5 Gigawatt Wasserkraft fahren den Tagesgang (das heißt, sie sichern die Regelleistung) ab, die Windkraft dümpelt mit 350 Megawatt so vor sich hin (knapp sechs Prozent der installierten Leistung). Die Kernkraft (über acht Gigawatt) sichert die Grundlast und es bleibt noch was übrig für den Export nach Norwegen, Dänemark und Finnland (1,5 Gigawatt).
Deutscher Wind hätte zu diesem Zeitpunkt auch wenig helfen können: 660 Megawatt (1,16 Prozent der installierten Leistung).

Kernkraft ohne Abgas

Um mit sicherer und sauberer Energie die Versorgung in den nördlichen Breitengraden zukunftsfest zu machen,  baut Finnland seinen Atomanteil aus. Im September 2019 soll endlich nach vielen Bauverzögerungen Olkiluoto-3 in den Dauerbetrieb gehen, der erste EPR (European Pressurized Water Reactor) der Generation III+. Ein Block gleicher Bauart ging am 29. Juni 2018 erstmalig im chinesischen Taishan-1 in Betrieb, womit China nunmehr 40 Kernkraftwerke betreibt. Neu sind beim III+ technische Lösungen zur Abführung der Nachzerfallswärme im Störungsfall und gegen eine eventuelle Kernschmelze sowie ein höherer Wirkungsgrad.
In Skandinavien betrachtet man die Kernenergie als Ökoenergie auf Grund der weitgehenden Emissionsfreiheit. Seit Anfang 2016 läuft der Bau eines weiteren finnischen Blockes, Hanhikivi-1. Um den Leserfragen vorzugreifen: Ein finnisches Endlager in Onkalo ist genehmigt und soll 2023 in Betrieb gehen, das schwedische Endlagerprojekt bei Forsmark liegt derzeit der Regierung zur Genehmigung vor und soll ab 2024 genutzt werden. Natürlich finden sich dazu kaum Meldungen in den deutschen Qualitätsmedien. Die Vermeidung von Treibhausgasemissionen durch Kernkraft ist ein deutschnationales Tabuthema.
Die Frage der Leitungskapazitäten trägt zur Ernüchterung unserer Zukunftsvisionen bei. Bisher ist nur eine Leitung von Norwegen in die Niederlande in Betrieb (Kapazität: 0,7 Gigawatt). Mit „NorLink“ und „NorGer“ kommen 2019/2020 noch zweimal 1,4 Gigawatt dazu. Die Kosten liegen pro Leitung bei über einer Milliarde Euro, aber das wird den energiewendegestählten deutschen Verbraucher nicht schrecken.
Neben den Seekabeln wäre aber auch der Ausbau des norwegischen Netzes nötig, denn viele kleinere Wasserkraftanlagen dienen der regionalen Versorgung im Norden und sind für die Integration ins europäische Netz schlecht angebunden. Ob sich das rechnet, werden die Norweger erst mal prüfen.
Die drei genannten Leitungen werden nur zeitweise die Kapazitäten der noch laufenden Kernkraftwerke Brokdorf, Emsland und eines halben Grohnde ersetzen können.
Norwegen ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt und kommt ohne die EU ganz gut zurecht. Es wird sein Energiesystem und die internationale Zusammenarbeit an seinen Interessen ausrichten. Auch aus historischen Gründen wird man sich nicht einer diesmal energetischen deutschen Besatzungsmacht unterwerfen.
Der Beitrag erschien zuerst bei TICHYS Einblick hier

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