Kann man den Anstieg des Meeresspiegels der Nordsee durch eine vegetarische Ernährung positiv beeinflussen? 

Von Uta Böttcher.

In der niederländischen Stadt Haarlem wird ab 2024 keine Werbung für Fleisch mehr erlaubt sein. Denn man hat Großes vor: Der klimabedingte Anstieg des Meeresspiegels soll aufgehalten und die Überflutung der Stadt durch die Nordsee verhindert werden. Dazu könnte ein reduzierter Fleischkonsum beitragen, meint der Stadtrat Haarlems, angeführt von der GroenLinks-Partei. Angenommen wurde der Antrag auf Verbot der Fleischwerbung schon 2021, umgesetzt wird er wegen langfristiger Werbeverträge erst jetzt (siehe auch 1). Weniger Fleischkonsum gleich weniger Meeresanstieg vor Harlems Haustür? Kann das gelingen?

Betrachten wir das Ganze aus geologischer Sicht. Ganz aktuell gibt es die Meeresspiegel-Anstiegsraten beim Hamburger Bildungsserver der Behörde für Schule und Berufsbildung, die sich als zentrale Plattform für Lehrende und Lernende bezeichnet. Im Beitrag „Meeresspiegelanstieg in der Nordsee“ werden diese folgendermaßen kommentiert: Regional gibt es recht große Unterschiede in der aktuellen Meeresspiegelveränderung in der Nordsee (siehe auch 2). Regionale Unterschiede also. Wie bereits in einem früheren Beitrag von mir über die Fidschi-Inseln läuten wieder die Alarmglocken. Denn regionale Meeresspiegelanstiege haben meist auch regionale und keine globalen Ursachen. Gehen wir ein wenig ins Detail.

Der relative Meeresspiegelanstieg an der Nordsee, gemessen an Pegeln, sieht so aus:

Punkt 1: In Hirtshals im Norden Dänemarks sinkt der Pegel um -0,23 mm/Jahr.

Punkt 2: An der niederländischen Küste steigen die Pegel um 1,8 mm/Jahr

Punkt 3: An der deutschen Nordseeküste steigen die Pegel um 2 mm/Jahr.

Punkt 4: Der Pegel Cuxhaven steigt um 1,96 mm/Jahr.

Punkt 5: Der Pegel der ostfriesischen Insel Norderney steigt um 2,32 mm/Jahr.

Einmal sinkt der Meeresspiegel also, einmal steigt er. Seit mehr als 150 Jahren zeichnen wir diese Pegeldaten an der Nordseeküste auf. Das sind richtige harte Messdaten, erfasst über einen langen Zeitraum: Wir messen die Veränderung des Meeresspiegelniveaus im Verhältnis zum angrenzenden Land, genannt relativer Meeresspiegel.

Finnland gewinnt durch den Anstieg der Erdkruste rund 10 km² neues Land jährlich

In unserem speziellen Fall Nordseeküste/Skandinavien wissen wir, welche Teile der Erdkruste nacheiszeitlich gerade aufsteigen und welche absinken. Die Kippachse dieser isostatischen Ausgleichsbewegungen ist in der Grafik (Urheber Hidalgo auf Pixabay, bearbeit von U. Böttcher) als rote Linie eingezeichnet, die Zentren der Bewegung mit Plus- und Minuszeichen. Die fünf Messpunkte sind ebenfalls in die Grafik eingetragen. Wir sehen: Wo die Erdkruste wieder aufsteigt, sinkt der Pegelstand Jahr für Jahr, wo sie absinkt, steigt er.

Nun muss man wissen: Auf Skandinavien lag während der letzten Vereisung eine bis zu 3.000 Meter mächtige Eisdecke. Das Gewicht dieses Eispanzers führte zu einem Einsinken der Erdkruste mit Zentrum in Nordschweden. Die Ränder um die abgesenkte Erdkruste, also Norddeutschland, Dänemark, Belgien und die Niederlande, mussten zwangsweise in einer Ausgleichsbewegung aufsteigen.

Schmilzt das Eis wieder ab, bilden sich diese Verformungen der Erdkruste zurück, und es kommt zur Landhebung im Zentrum der Vereisung und Landsenkung in den äußeren Gebieten, sogenannten isostatischen Ausgleichsbewegungen. Den Aufstieg Skandinaviens können wir gut beobachten: Finnische Küstenstädte wie Pori und Vaasa mussten um einige Kilometer verlegt werden, damit ihre Häfen wieder am Wasser liegen. Noch heute hebt sich Skandinaviens Zentrum um rund 9 mm pro Jahr: Finnland gewinnt durch den Anstieg der Erdkruste rund 10 km² neues Land jährlich dazu (siehe auch 3).

Tektonisch bedingte Senkung der Erdkruste unter der Nordsee

In der letzten Kaltzeit, die vor 11.500 Jahren endete, lag der Meeresspiegel, bedingt durch das Festlandeis, weltweit um bis zu 120 Meter niedriger als heute. Mit dem Abschmelzen des Inlandeises erfolgte ein schneller Wasserspiegelanstieg. Im Gegensatz dazu ist die Ausgleichsbewegung der Erdkruste langsamer und dauert bis heute an. Dänemark, Norddeutschland, Belgien und die Niederlande sinken seitdem gemächlich wieder in ihre ursprüngliche Position zurück.

Dieses Absinken der Erdkruste ist leider wesentlich schwerer zu beobachten, weil es sich vor allem unter dem Meeresspiegel der Nordsee abspielt, und eine Messung der Senkungsraten mit erheblichem Aufwand verbunden ist. Nachweisen kann man die Senkungsraten aber mit Bohrungen bis zur obersten Torfschicht – die einst an der Erdoberfläche entstanden ist – deren organisches Material die Möglichkeit der Pollenanalyse und der absoluten Altersbestimmung mit der Radiokarbonmethode bietet. Kennt man die aktuelle Tiefe einer Schicht und ihr Alter, kann die Absenkungsrate ermitteln werden (siehe auch 4).

An der Nordseeküste Schleswig-Holsteins konnte auf diese Weise ein Meeresspiegelanstieg von bis zu 45,8 Metern in den letzten 9.000 Jahren nachgewiesen werden, verursacht gemeinsam durch das Absinken der Erdkruste, das Ansteigen des Meeresspiegels durch Eisschmelze, einer tektonisch bedingten Senkung der Erdkruste unter der Nordsee, die Setzung der Sedimente am Boden der Nordsee und der örtlich und zeitlich sich verändernden Gezeitenkurve (siehe auch 5). Wissenschaftlich ist es daher nicht möglich, den menschengemachten Klimawandel für den Meeresspiegelanstieg an der Nordsee verantwortlich zu machen, solange die lokalen Auswirkungen des nacheiszeitlichen Rückpralls und anderer tektonischer Bewegungen nicht geklärt sind (siehe auch 6).

Milch und Käse statt Weizen und Emmer

Dazu kommt noch eine Besonderheit Haarlems: Es liegt einige Kilometer in Richtung Nordseeküste westlich von Amsterdam. Beide Städte stehen quasi im Moor. Sie sind auf einem Untergrund aus Sand und Torfschichten gebaut. Damit Bauwerke auf diesem Baugrund nicht wegen ihres puren Gewichtes im Boden versinken, werden sie auf Pfählen errichtet, die früher aus Holz waren und heute aus Beton sind (siehe auch 7).

Etwa 26 Prozent der Niederlande liegen heute unterhalb des Meeresspiegels. Der Grund ist großenteils hausgemacht, nämlich durch die intensive Entwässerung der Torflandschaften entlang der Nordseeküste. Legt man Torf trocken, schrumpfen die Pflanzenfasern und verlieren an Mächtigkeit. Durch die intensive Wasserentnahme geht zusätzlich Auftriebskraft verloren und der trocknende Boden sinkt noch weiter in sich zusammen. Doch damit nicht genug: Weil es sich um Torf handelt, werden die Pflanzenfasern bei Luftkontakt langsam abgebaut, und der Untergrund rutscht weiter in die Tiefe. Die Torfoxidation ist heute für 70 Prozent des Absinkens der niederländischen Torfgebiete verantwortlich (siehe auch 8).

Aber alles hat auch seine Vorteile: Die Landabsenkung verursachte indirekt zwei Wahrzeichen der Niederlande: die Windmühlen und den Käse. In den Teilen des Landes, die unter den Meeresspiegel absanken, war die Drainage durch Entwässerungsgräben nicht mehr möglich. Windmühlen mussten als Pumpstationen dienen. Und weil die Felder für den Getreideanbau immer noch zu nass waren, dienten sie als Kuhweiden. Das Ergebnis: Milch und Käse statt Weizen und Emmer.

 

Uta Böttcher ist Diplom-Geologin, mit dem Fachbereich angewandte Geologie, speziell Hydrogeologie. 

 

Quellenangaben:

(1) https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/klimawandel-stadt-haarlem-will-als-erste-auf-der-welt-fleischreklame-verbieten/

(2) https://bildungsserver.hamburg.de/themenschwerpunkte/klimawandel-und-klimafolgen/europa-745632

(3) https://izw.baw.de/publikationen/die-kueste/0/KFKI_DieKueste_k087114_Schwarzer_A.pdf

(4) https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0277379107002053: Holocene relative sea-level change, isostatic subsidence and the radial viscosity structure of the mantle of northwest Europe (Belgium, the Netherlands, Germany, southern North Sea), von Annemiek Vink, Holger Steffen, Lutz Reinhardt, Georg Kaufmann, in Quaternary Science Reviews 26 (2007) 3249–3275

(5) https://henry.baw.de/items/4a598a47-9dd2-4b75-ba52-aed8ce80a5e1: Zur Geologie der deutschen Nordseeküste. Streif, Hansjörg; Köstner, Rolf (1978), in: Die Küste 32. Heide, Holstein: Boyens. S. 30–49

(6) https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-319-39745-0_1#keywords: North Sea Region Climate Change Assessment, 1.3 Geology and Topography of the North Sea, Kap. 1.3.1.2 Permian to Holocene

(7) https://www.medienwerkstatt-online.de/lws_wissen/vorlagen/showcard.php?id=5180: Amsterdam: Eine Stadt, die auf Pfählen gebaut ist

(8) https://www.nzz.ch/wissenschaft/subsidenz-wenn-der-erdboden-absinkt-ld.1789695: Die Meere steigen. Noch schneller aber sinkt das Land

 

Der Beitrag erschien zuerst bei ACHGUT hier

 

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