von Edgar L. Gärtner

In der 41. Kalenderwoche des Jahres 2023 konnten nicht nur die Franzosen, sondern auch viele Süddeutsche noch spätsommerliche Temperaturen genießen. Wir verdanken diese Gnade offenbar dem El Niño-Phänomen. Doch mit dem nahenden Winter wächst die Angst vor Energieknappheit beziehungsweise untragbaren Energiepreisen. Diese Angst bekommt durch den grausamen Überraschungsangriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel neue Nahrung. So war es kein Wunder, dass das Thema Energie in der historisch ersten zweitägigen deutsch-französischen Kabinettsklausur, zu der Bundeskanzler Olaf Scholz die Regierungsmitglieder der beiden Nachbarstaaten zum Wochenbeginn in seine Heimatstadt Hamburg eigeladen hatte, eine wichtige Rolle spielte. Greifbare Ergebnisse gab es allerdings nicht. Es gab keine Resolution oder sonstige gemeinsame Abschlusserklärung. Dafür aber zur Beruhigung des Publikums Lippenbekenntnisse zur deutsch-französischen Freundschaft wie diese: „Frankreich und Deutschland sind ein ganz wichtiges Paar für Europa.“ (Olaf Scholz) oder: „Wenn Frankreich und Deutschland sich nicht verstehen, ist ganz Europa blockiert.“ (Emmanuel Macron).

Emmanuel Macron hat am 25. September 2023 in einer Grundsatzrede zur ökologischen Planung angekündigt, die französische Regierung werde die Gestaltung der Strompreise selbst in die Hand nehmen und nicht warten, bis die Debatten in Brüssel und Straßburg über die Umgestaltung des europäischen Systems der Strompreisfindung nach dem Merit-Order-Prinzip zu einem Ergebnis gelangt sind. In diesem System bestimmen bekanntlich die hohen Produktionskosten der Gaskraftwerke die Endverbraucherpreise. Die französischen Stromkunden hätten demgegenüber Anspruch, in den Genuss der niedrigen Produktionskosten der Kernkraftwerke zu gelangen, die mit 70 Prozent zum französischen Strommix beitragen. Die Gestehungskosten von Nuklearstrom liegen derzeit in Frankreich zwischen 60 und 70 €/MWh. Noch in diesem Monat sollen die zukünftigen Preise für den französischen Strommarkt bekanntgegeben werden. Mutige Kommentatoren gehen bereits so weit, im ironischen Ton eine feindliche Übernahme der deutschen Stromkonzerne durch den französischen Staat anzuregen.

Die französische Energiewende-Ministerin Agnès Pannier-Runacher kündigte Ende September auf einer Kernenergie-Konferenz der OECD in Paris an, der Stromkonzern Électricité de France (EDF), dessen Aktien sich seit Anfang Juni 2023 wieder zu 100 Prozent in der Hand des französischen Staates befinden, werde von nun an jährlich mindestens 20 Milliarden Euro in die Erhaltung und den weiteren Ausbau der Kernenergie investieren. Der neue EDF-Chef Luc Rémont hatte den Investitionsbedarf seines Konzerns kürzlich auf jährlich 25 Milliarden Euro geschätzt. Die französische Regierung hat den Bau von mindestens sechs neuen Kernreaktoren vom Typ EPR2 in den kommenden 20 Jahren angekündigt. Bis 2050 sollen es nach Möglichkeit sogar 14 sein. Allein daraus ergebe sich ein jährlicher Investitionsbedarf von mindestens drei Milliarden Euro. Die Strompreise sollen so gestaltet werden, dass EDF in der Lage ist, diese Investitionen zu finanzieren. Gleichzeitig sollen die Stromkunden vor untragbaren Preisen geschützt werden.

Eine vom elsässischen Abgeordneten Raphaël Schellenberger (Les Républicains) geleitete Enquete-Kommission, die über sechs Monate lang kompetente Persönlichkeiten wie Yves Bréchet (ehemaliger Hochkommissar für Atomenergie), Henri Proglio (ehemaliger Chef von EDF) und Loïc Le-Floch Prigent (ehemaliger Chef des Mineralölkonzerns Elf) sowie auch die ehemaligen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy und François Hollande anhörte, sah diesen Plan eher skeptisch. Zwischen 1990 und 2010 seien Fehler gemacht worden, die heute nur schwer korrigiert werden könnten. Die erfolgreiche Umsetzung des Messmer-Plans des Ausbaus der Kernenergie habe die Illusion von Überkapazitäten erzeugt. Statt in die Modernisierung des Nuklear-Parks habe man dann massiv in die Entwicklung „erneuerbarer“ Zufallsenergien investiert. Währenddessen sei das nukleare Humankapital vernachlässigt worden. Das erkläre die Rückschläge beim Bau des ersten französischen EPR bei Flamanville in der Normandie, an dem 15 Jahre gebaut wurde. Es sei daher höchst zweifelhaft, ob es gelinge, bis 2050 alle zwei Jahre einen neuen EPR fertigzustellen (nach Philippe Charlez: „Les dessous d’une catastrophe énergétique“ (Editions Kiwi 2023).

 

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