Die Versorgung nur mit erneuerbarer Energie funktioniert nicht: Pünktlich zum Atomausstieg baut Deutschland neue Gaskraftwerke, die einspringen, wenn Wind und Sonne keinen Strom liefern. Das Gleiche steht wohl auch in der Schweiz bevor.

von Alex Reichmuth

Es hat eine gewisse Symbolik: Im südhessischen Biblis haben zwei Atomblöcke zuverlässig Strom produziert, bis sie 2011 nach dem Unfall von Fukushima auf Geheiss von Bundeskanzlerin Angela Merkel überstürzt vom Netz genommen wurden. Jetzt baut der Energiekonzern RWE, der einst die AKWs betrieb, auf dem Kraftwerksgelände ein Gaskraftwerk, das notfallmässig zum Einsatz kommen soll, wenn in Deutschland der Strom knapp wird.

Das Kraftwerk wird eine Leistung von 300 Megawatt haben, was knapp soviel ist, wie die beiden Blöcke des Atomkraftwerks Beznau je liefern. Es soll im nächsten Oktober bereitstehen. Bis Ende 2022 will Deutschland seine verbliebenen sechs AKWs stilllegen.

In Süddeutschland wird der Strom knapp

Das Gaskraftwerk in Biblis ist eines von vier Werken mit der Bezeichnung «Netzstabilitätsanlagen», die derzeit in Süddeutschland gebaut werden. Sie dienen einzig dazu, kritische Situationen, in denen zu wenig Strom ins Netz fliesst, zu überbrücken. Darum dürfen sie nicht am Strommarkt teilnehmen. Es handelt sich um Lückenbüsser-Kraftwerke, die nur zum Einsatz kommen, wenn Wind und Sonne witterungsbedingt nicht liefern können oder andere Kraftwerke ausfallen.

Denn nach dem Betriebsschluss der AKWs wird die Netzstabilität vor allem in Süddeutschland leiden. Kraftwerke, die wetterunabhängig zuverlässig Strom liefern, werden knapp. Zwar produzieren Windanlagen im Norden des Landes einiges an Elektrizität, doch kann diese wegen des stockenden Ausbaus der Stromnetze nur unzulänglich nach Süden geleitet werden. Es braucht darum eine vergleichsmässig geringe Störung, und schon droht der Blackout.

Die Rede ist von einer «Übergangsphase»

Bekannt ist, dass Deutschland seit Jahren unrentable Gas- und Kohlekraftwerke in Bereitschaft hält, um Stromengpässe zu überbrücken. Nach dem Atomausstieg sind jetzt aber sogar neue Gaskraftwerke nötig, um die Netzstabilität zu sichern. Die vier Kraftwerks-Standorte sind aufgrund von Ausschreibungen der zuständigen Übertragungsnetzbetreiber vergeben worden. Die Anlagen können innerhalb von einer halben Stunde hochgefahren werden.

«Die Energiewende ist ein langer Prozess, bei dem wir auch auf Übergangstechnologien zurückgreifen müssen.»

Franz Untersteller, Grüne, Umweltminister Baden-Württemberg

Vorgesehen ist, dass die neuen Gaskraftwerke zehn Jahre bereitstehen. Von einer «Übergangsphase» ist die Rede. Ob anschliessend wirklich darauf verzichtet werden kann, ist fraglich. Denn Deutschland will bald auch aus der Kohleverstromung aussteigen. Zuverlässige Bandenergie wird damit nochmals knapper.

«Schmerzlich, aber vertretbar»

Seit Oktober 2020 baut der Energiekonzern EnBW in Marbach in Baden-Württemberg ein weiteres der vier Lückenbüsser-Kraftwerke. Es handelt sich um ein Werk mit Gasturbinen, die aber mit Heizöl angetrieben werden. Franz Untersteller, grüner Umweltminister des Bundeslandes, vollzog den Spatenstich in Marbach eher lustlos: «Die Energiewende ist ein langer Prozess, bei dem wir auch auf Übergangstechnologien zurückgreifen müssen.» Der Einsatz von Heizöl sei zwar «schmerzlich, aber vertretbar».

Der Bau der vier Backup-Kraftwerke ist das Eingeständnis, dass die Stromversorgung nach dem Atomausstieg ohne fossile Kraftwerke nicht zu gewährleisten ist. Es scheint, dass sich Deutschland dafür schämt – denn es sind auffällig wenig Presseberichte über die «Netzstabilitätsanlagen» erschienen. Vor allem zu den Kosten dieser Werke sind kaum Informationen bekannt.

Schweigen zu den Kosten

Mit einiger Recherche lässt sich herausfinden, dass der Bau der vier Anlagen je etwas über 100 Millionen Euro kostet. Ansonsten herrscht zur Finanzierung Schweigen. Eine Anfrage bei EnBW endet ergebnislos: «Für den Betrieb der Anlage und deren Vergütung gibt es einen Vertrag mit dem Übertragungsnetzbetreiber, der der Vertraulichkeit unterliegt», schreibt das Unternehmen. Auch der Konzern RWE, der hinter dem Gaskraftwerk in Biblis steht, macht zu den Kosten und der Finanzierung keine Angaben.

Selbst Gaskraftwerke, die durchgehend in Betrieb sein dürfen, standen in den letzten Jahren oft still, weil ihre Produktion sich nicht rechnete.

Klar ist, dass sich die vier Reservekraftwerke bei weitem nicht gewinnbringend betreiben lassen. Selbst Gaskraftwerke, die durchgehend in Betrieb sein dürfen, standen in den letzten Jahren oft still, weil ihre Produktion sich nicht rechnete. Die Kosten für den Bau und die Bereithaltung der Reservewerke werden den Stromkunden in Rechnung gestellt. Diese müssen neben den Milliardenkosten für unrentablen Wind- und Solarstrom nun auch teure Backup-Anlagen berappen.

Der «Irrsinn von Irsching»

Geradezu absurd wird die neue Reservestrategie Deutschlands in Irsching in Bayern, wo das Energieunternehmen Uniper ebenfalls eines der vier «Netzstabilitätsanlagen» baut. Uniper betreibt dort schon seit rund zehn Jahren zwei hochmoderne Gaskraftwerke. Doch diese sind die meiste Zeit nicht am Netz, weil sich die Produktion nicht lohnt.

Schon lange drängt Uniper darauf, die beiden Gaskraftwerke stillzulegen. Doch die Bundesnetzagentur hat das untersagt, weil die Werke als Netzreserve gebraucht werden. Die Bereitschaft muss mit Netzentgelten entschädigt werden, bezahlt von den Stromkonsumenten. Jetzt wird in Irsching also ein weiteres Gaskraftwerk gebaut, das die meiste Zeit ausser Betrieb ist. Der «Irrsinn von Irsching» gehe weiter, schrieb das «Handelsblatt».

Bundesrat lässt den Bau von Gaskraftwerken abklären

Kraftwerke, die nur die Netzstabilität sichern und kaum je in Betrieb sind – das droht auch in der Schweiz. Denn hier dürfte es bereits in wenigen Jahren zu Engpässen bei der Stromversorgung kommen, vor allem im Winter.

Immerhin: Die Schweiz hat den Vorteil, über Speicherseen zu verfügen, in denen Wasser für Notlagen zurückbehalten werden kann. Der Bundesrat will die Kraftwerksbetreiber zu sogenannten strategischen Energiereserven verpflichten. Das müsste natürlich entsprechend abgegolten werden.

Nationalrat Stefan Müller-Altermatt (Die Mitte) sprach gegenüber dem «Tages-Anzeiger» von einem möglichen «Backup für die Winterstromlücke».

Schon bald aber könnten diese Reserven nicht mehr ausreichen. Vor allem nach dem Abschalten der vier verbleibenden Atomkraftwerke drohen in der Schweiz beträchtliche Stromlücken. Der Bundesrat hat darum die Elektrizitätskommission beauftragt, ein Konzept für Gaskraftwerke zu erarbeiten, um Mangellagen zu überbrücken.

6 Milliarden Franken für Backup-Kraftwerke

Auch die Mitte-Links-Koalition, die die Energiestrategie 2050 und damit den Atomausstieg durchgedrückt hat, hat offenbar kein Problem mehr mit Gaskraftwerken. Nationalrat Stefan Müller-Altermatt (Die Mitte) sprach gegenüber dem «Tages-Anzeiger» von einem möglichen «Backup für die Winterstromlücke». Auch laut SP-Fraktionschef Roger Nordmann braucht es notfalls Strom aus Gaskombikraftwerken, um den Winter zu überbrücken. Selbst im Klimaplan der Grünen sind Gasturbinen erwähnt, die vor allem in der kalten Jahreszeit Strom produzieren sollen.

Klar ist, dass solche Reservekraftwerke teuer zu stehen kommen. Die Taskforce «Elektrizität» der Gruppierung Kompass/Europa hat den Bau von sechs Gaskraftwerken vor, die während mindestens 35 Tagen im Jahr Strom liefern (siehe hier) vorgeschlagen. Dabei haben Energiekonzerne wie Axpo und BKW in den letzten Jahren selbst Pläne für Gaskraftwerke begraben, die durchgängig produzieren würden – aus Kostengründen. Die Taskforce rechnet mit satten 6 Milliarden Franken, die die Stromkunden über 15 Jahre zu bezahlen hätten.

Der Beitrag erschien zuerst im Schweizer Nebelspalter hier

 

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