Über die nukleare Renaissance in Frankreich und Europa

Edgar L. Gärtner

Die französischen Präsidentschaftswahlen im nächsten Frühjahr werden wohl nicht so ablaufen, wie sie der zurzeit bekannteste französische Romanautor Michel Houellebecq vor sieben Jahren in seinem Bestseller „Soumission“ (Unterwerfung) skizziert hat. (Wobei ich der Fairness halber darauf hinweisen muss, dass Houellebecq sich nie als Prophet verstanden hat.) Um den absehbaren Wahlsieg der rechtsnationalen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen zu verhindern, kommen in Houellebecqs Roman die Parteien der Linken und der gemäßigten Rechten überein, anstelle der Kandidatur des zentristischen Amtsinhabers die Kandidatur des hochintelligenten und charismatischen Muslimbruders Mohammed Ben Abbes zu unterstützen, der eine aufgeklärte und gemäßigte Version des Islam vertritt. Wie erwartet siegt Ben Abbes haushoch und setzt unverzüglich sein von der Scharia und der katholischen Soziallehre inspiriertes sozialpolitisches Programm um.

Dieses Szenario erscheint inzwischen als wenig realistisch, denn die Aussichten Marine Le Pens, an die Macht zu gelangen, haben sich inzwischen keineswegs verbessert. Im Gegenteil ist Marine Le Pen inzwischen in Gestalt des algerienstämmigen jüdischen Publizisten Eric Zemmour ein Konkurrent erwachsen, der ihr nicht nur an Intelligenz, sondern vermutlich auch an finanziellem Rückhalt haushoch überlegen ist. Zemmour, der bislang seine Kandidatur noch nicht offiziell angekündigt hat, füllt zurzeit in Frankreich die größten Säle mit Werbe-Auftritten für sein neuestes Buch mit dem Titel „La France n’a pas dit son dernier mot“ („Frankreich hat noch etwas zu sagen“). In den Meinungsumfragen hat er Marine Le Pen bereits überholt. Deshalb sieht es im Moment eher nach einem Duell Macron-Zemmour in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen aus. Aber noch ist Zemmour, wie gesagt, noch gar nicht erklärter Kandidat und es ist auch noch nicht ausgemacht, wie sich die gemäßigten Rechten (Republikaner), die ihren Präsidentschaftskandidaten auch noch nicht bestimmt haben, gegenüber Zemmour positionieren würden.

Bedenklich stimmt vor allem Zemmours einseitige Ausrichtung auf die Probleme der illegalen Masseneinwanderung und die Gefahr des Islamismus, während er andere Bedrohungen der Freiheit wie vor allem die vom Staat erpresserisch durchgesetzte Anti-Covid-Impfpflicht, die bis zur Unbezahlbarkeit gehende Verteuerung des Lebens einfacher Menschen durch die von der EU beschlossene Bepreisung des Lebenselixiers Kohlenstoffdioxid und die Enteignung der Sparer durch die Inflationspolitik der Europäischen Zentralbank offenbar als weniger problematisch ansieht. Gemeinsam ist aber allen potenziell aussichtsreichen Wettbewerbern Macrons die Betonung des nationalen Interesses an einer Reindustrialisierung Frankreichs, am Ausbau der Kernenergie und damit die Distanzierung vom deutschen Weg in die Sackgasse mit 100 Prozent „erneuerbarem“ Flatterstrom.

Das Ende der deutsch-französischen Harmonie

Auch Emmanuel Macron weiß, dass das Streben nach einem gemeinsamen deutsch-französischen Weg, was immer auch darunter zu verstehen sein mag, mit dem Ende der Ära Merkel hinfällig geworden ist. In Frankreich stehen die Zeichen aktuell auf wirtschaftlicher Expansion. Das nationale Statistikamt INSEE erwartet für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von 6,6 Prozent. Schon bevor ein Ende der „Pandemie“ in Sicht ist, hat die französische Wirtschaft die durch den „Lockdown“ verursachte Wachstumsdelle wieder wettgemacht. Führende französische Wirtschaftswissenschaftler, darunter Nobelpreisträger Jean Tirole, erwarten ein Jahrzehnt kräftigen Wirtschaftswachstums – ähnlich dem, das den Unruhen vom Mai 1968 folgte. Die französischen Privathaushalte haben, wie es scheint, während der „Pandemie“ mangels Kaufgelegenheiten erheblich mehr Geld zur Seite gelegt, als der Staat neue Schulden aufgenommen hat, um die Krise abzumildern. Diese Gelder sollen nun für Investitionen im nationalen Interesse mobilisiert werden. (Wieweit das realistisch ist, bleibt dahingestellt.)

Diesem Ziel dient wohl auch die Ankündigung des Investitionsplans „Frankreich 2030“ von 30 Milliarden Euro am 12. Oktober 2021 durch Emmanuel Macron. Der Plan sieht unter anderem den Bau von zwei Giga-Fabriken für die Herstellung von Wasserstoff mithilfe von preiswertem Atomstrom vor. Dieser gilt in Frankreich als „grün“, in Deutschland hingegen (noch) als „rot“. Frankreich soll durch die Umsetzung dieses Plans zum europäischen Marktführer für „grünen“ Wasserstoff werden. Hatte Macron kurz nach seinem Amtsantritt den mit ihm verbündeten Grünen noch versprochen, bis 2025 insgesamt 17 Kernreaktoren abzuschalten und den Anteil der Kernenergie am Strom-Mix von etwa 75 auf 50 Prozent zu senken, so ist nun stattdessen der Bau von sechs neuen Druckwasser-Reaktoren der vierten Generation im Gespräch. Daneben stellt das Programm erstmals eine Milliarde Euro für die Entwicklung von modularen Kleinreaktoren (SMR) zur Verfügung. Macron hat inzwischen die Regierungen weiterer 13 EU-Staaten um sich geschart, um die EU-offizielle Anerkennung der Kernenergie als „grün“ durchzusetzen. Wie man hört, hat er inzwischen sein Ziel fast erreicht.

RTE: Ausbau der Kernenergie ist der kostengünstigste Weg zu Net Zero

Am 25. Oktober 2021 veröffentlichte der französische Stromnetzbetreiber RTE seine lange erwartete Studie mit dem Titel „Futurs énergétiques 2050“ (Energiezukunft 2050). Diese Studie dient heute den Befürwortern eines Ausbaus der Kernenergie als gewichtiges Argument. Die Studie krankt allerdings daran, dass sie in ihrem Basis-Szenario – vermutlich unter dem Druck der in französischen Regierungskreisen einflussreichen deutschen Energiespar-Lobby – von einem unrealistisch niedrigen Strombedarf von lediglich 645 Terawattstunden (TWh) im Jahre 2050 ausgeht. Dieser läge damit nur um 35 Prozent über dem des Jahres 2019, d.h. vor der „Pandemie“. Vergleichbare Länder gehen hingegen von einem Strombedarfs-Zuwachs von 70 bis 80 Prozent aus. Die französischen Wissenschafts- und Technik-Akademien waren dem entsprechend von einem Strombedarf von 800 bis 900 TWh ausgegangen. RTE rechnet stattdessen mit einer großen Zunahme der Energieeffizienz. Diese lag jedoch in den vergangenen 20 Jahren immer unter jährlich einem Prozent und nichts weist zurzeit darauf hin, dass sich das in den kommenden 30 Jahren ändern könnte.

Immerhin gelangt auch die Hypothese „Réindustrialisation profonde“ der RTE-Studie zu einem Strombedarf von über 750 TWh. Frankreich brauche im Jahre 2050 eine Kernkraft-Kapazität von 50 Gigawatt, um das Ziel der tiefen Reindustrialisierung erreichen zu können. Das Ziel der Kohlenstoff-Neutralität der Stromversorgung sei mithilfe des Ausbaus der Kernkraft-Kapazität überdies mit jährlich schätzungsweise 59 Milliarden Euro deutlich günstiger zu erreichen als mit einem Strom-Mix, der von Wind und Sonne dominiert wird. Dieser würde jährlich schätzungsweise 77 Milliarden Euro verschlingen und obendrein einen erheblichen Ausbau des Stromnetzes erfordern. Ganz abgesehen von dem im Vergleich zur Kernkraft riesigen Flächenbedarf von Wind- und Solaranlagen.

Wenn Frankreich sich für den Ausbau der Kernenergie entscheidet, muss es saisonal überschüssige Elektrizität bei Bedarf kostengünstig exportieren können. Als Frankreich im März 2002 unter der Kohabitations-Regierung Chirac/Jospin seinen Strommarkt nach langem Widerstand endlich öffnete, einigte man sich auf dem EU-Gipfel von Barcelona auf zwischenstaatliche Netz-Verbindungen, deren Kapazität 10 Prozent der jeweiligen einzelstaatlichen Gesamtkapazität nicht überschreiten sollte. Bislang ist dieses Niveau nach Aussage des hier schon öfters zitierten Samuel Furfari, einem ehemaligen Spitzenbeamten der EU-Direktion Energie, nie erreicht worden. Im Gegenteil hat nach Ansicht Furfaris die von Angela Merkel wenige Jahre später beim damaligen EU-Präsidenten Barroso durchgesetzte verbindliche Förderung und vorrangige Einspeisung von Strom aus „erneuerbaren“ Energiequellen die Entwicklung eines einheitlichen europäischen Strommarktes im Keim erstickt. Die weitere Entwicklung des europäischen Strommarktes hänge nun davon ab, ob die Kernenergie, die in der EU mit 28 Prozent zum Gesamtaufkommen der Elektrizitätserzeugung beiträgt (gegenüber nur 7 Prozent durch Wind und Sonne zusammengenommen), in der EU-Taxonomie der Finanzanlagen als „nachhaltig“ anerkannt wird.

Darüber tobt zurzeit, angeführt von den deutschen Grünen, ein heftiger Streit im EU-Parlament und in anderen Instanzen der EU. Die Grünen haben schnell kapiert, dass die Anerkennung der Kernenergie als „nachhaltig“ das jähe Ende ihrer Wunschträume bedeutet. Der Grüne Europa-Abgeordnete Sven Giegold bringt es auf den Punkt: „Das wäre der Super-GAU für Europas Energiewende“, sagte Giegold. Die Folgen wären auf dem Feld der Finanzen schnell spürbar: „Das Ergebnis wäre eine Entwertung aller neuen Finanzprodukte, die den Green Deal in Europa voranbringen sollten.“ Stattdessen werde dann mehr öffentliches und auch privates Kapital in Richtung neuer Kernkraftwerke gelenkt. Da es für sie nun also sozusagen um die Wurst geht, treten die Grünen umso aggressiver auf. Man darf gespannt sein, wie sich das in den in Berlin laufenden Koalitionsverhandlungen niederschlägt.

Über die nukleare Renaissance in Frankreich und Europa

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