von Hans Hofmann-Reinecke

Seit einem Jahrzehnt begeht die Kernenergie in Deutschland einen langsamen, qualvollen Selbstmord, der im Geschachere um den Weiterbetrieb von zwei oder drei Reaktoren für die Winterzeit ein erbärmliches Ende fand. Anlass für das atomare Harakiri war angeblich die Havarie im japanischen Kernkraftwerk Fukusc hima.

Auch das Land Japan hatte damals all seine Kernkraftwerke abgeschaltet, allerdings nicht für immer. Inzwischen baut man dort die nukleare Stromversorgung systematisch wieder auf und plant die Konstruktion neuer, verbesserter Reaktoren.

Atomstrom in Japan

Der jährliche Stromverbrauch Japans beträgt ca. 1.000 Terawattstunden; bei 125 Millionen Einwohnern ergibt das einen jährlichen pro Kopf Verbrauch von 8.000 Kilowattstunden. Zum Vergleich die Zahlen für Deutschland: 570 TWh, 83 Mio Einwohner und 6.900 kWh pro Kopf und Jahr. Ein moderner Kernreaktor erzeugt jährlich um die 10 Terawattstunden, ältere deutlich weniger.

Der erste Atomstrom wurde in Japan 1966 ins Netz gespeist, Anfang 2011 war der Beitrag auf 30% gewachsen. Und man plante bis 2030 eine Steigerung auf 50%. Die Überlegung war, dass Japan seine starke Abhängigkeit von importierten Erdöl reduzieren müsste, um globalen Krisen weniger ausgesetzt zu sein.

Mit dem Desaster von Fukuschima änderte sich alles. In den 15 Monaten danach wurden schrittweise alle 50 Reaktoren im Lande vom Netzt genommen. Es herrschte eine starke Anti-Atom Stimmung und es wurden Forderungen laut, man solle die Atomkraftwerke für immer abgeschaltet lassen. Man beschuldigte die Regierung und die Betreiberfirma TEPCO, den Schutz der Bevölkerung beim Betrieb ihrer Kraftwerke sträflich vernachlässigt zu haben.

Energiewende auf Japanisch

Darauf reagierte die Regierung, indem sie eine unabhängige Behörde, die Nuclear Regulatory Authority ( NRA) beauftragte, die existierenden Kraftwerke einer strengen Sicherheitsprüfung zu unterziehen. Dabei sollten härtere Kriterien zur Anwendung kommen als zu prä-Fukuschima-Zeiten. 33 Reaktoren bestanden die Prüfung. Das Kraftwerk Fukuschima 1 mit ehemals 6 Reaktoren ist offensichtlich nicht darunter, aber auch nicht Fukushima 2, 12 km südlich gelegen, mit vier Reaktoren, in denen es keine Kernschmelze gab.

Von den 33 Kandidaten, die für gut befunden wurden, sind gegenwärtig zehn in Betrieb, die übrigen warten auf die Freigabe, um ihre Produktion wieder aufnehmen zu können. Angesichts des Kriegs in der Ukraine und den Problemen bei der Gasversorgung soll die Zulassung aber beschleunigt werden. Der Premierminister forderte, dass bis zum Winter neun weitere Kraftwerke ans Netz gehen sollen und dazu sieben im Sommer 2023. Dann wären also 10 + 9 + 7 =25 Reaktoren in Betrieb.

Während Deutschland seit Fukuschima seine Flotte an Kernkraftwerken systematisch vernichtet hat und pünktlich zum Winter 22/23 vor einem Riesen-Problem steht, hat Japan genau das Gegenteil getan.

Diese politische Meisterleistung ist nicht hoch genug einzuschätzen. Wir müssen und vor Augen halten, dass Japan nicht nur Schauplatz des Fukushima Desasters war, sondern dass dort vor nur zwei oder drei Generationen durch die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki über 100.000 Menschen auf fürchterliche Weise ums Leben kamen. In der Bevölkerung gibt es daher starke Ressentiments gegen alles nukleare und damit leichtes Spiel für die Atomkraftgegner. Aber bei Bevölkerung und Regierung siegte die Vernunft über die Propaganda; man gab grünen Populisten letztlich keine Chance. Was für ein Unterschied zu Deutschland!

Und die Zukunft?

Japan plant Kernkraft auch langfristig. Man hat sich dazu entschlossen, einen neuen Reaktortyp zu bauen, bei dem auch im Falle einer Kernschmelze die Umwelt nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Dazu verlegt man Teile der Anlage unter die Erdoberfläche. Der Maschine selbst aber ist ein konventioneller Druckwasser Reaktor. Mitsubishi Heavy Industries und Hitachi betreiben diese Entwicklung, die in den dreißiger Jahren abgeschlossen sein soll.

Vielleicht fragen Sie jetzt, warum Japan auf diese altmodischen Monster setzt, obwohl doch heute allenthalben die Rede von neuen Reaktor-Generationen ist, die angeblich sicherer sind, kaum radioaktiven Abfall produzieren und die, im Gegenteil, die langlebigen strahlenden Erbschaften der alten Reaktoren entweder als Brennstoff nutzen oder zumindest unschädlich machen.

Diese Modelle existieren heute in erster Linie auf dem Papier und der Weg vom Papier zum funktionierenden und produzierenden Giganten aus Stahl, Beton, Uran, Plutonium und 1.000° Celsius, dieser Weg ist mit Überraschungen gepflastert. Das Land Japan, in den Nachwehen von Fukuschima, wäre sicher der falscheste Ort und es wäre der falscheste Zeitpunkt, um dort jetzt nuklearen Überraschungen zu riskieren.

Es wäre nicht das erste Mal, dass solch ein Projekt Ärger macht. Vor einem halben Jahrhundert baute und betrieb man in Frankreich solch einen fortschrittliche Reaktortyp, einen „schnellen Brüter“, der mehr Brennstoff erbrüten als verbrauchen und dabei 1.200 Megawatt Elektrizität liefern sollte. Es war unvermeidlich, daß es hier zur einen oder anderen Panne kam, wenn auch die Bevölkerung niemals gefährdet wurde. Dennoch wurde das Vorhaben – genannt „Super Phoenix“ – 1997 abgebrochen.

Die große Frage

Japan und Deutschland blicken beide auf eine lange Geschichte mit sehr anspruchsvoller Kultur zurück. Beide Nationen sind oder waren parallel, über Jahrzehnte, Vorreiter in Naturwissenschaften und Technik. Warum kommen diese beiden Staaten zu völlig unterschiedlichen Strategien in derselben Situation? Warum entscheidet sich Deutschland für ein atomares Harakiri, während Japan eine proaktive, langfristige Politik verfolgt? Vielleicht gibt es ja Politologen oder Soziologen, die darauf eine Antwort haben.

Dieser Artikel erschien zuerst im Blog des Autors Think-Again. Sein Bestseller „Grün und Dumm“ ist bei Amazon erhältlich.

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