von Manfred Haferburg

In diesem Meinungsbeitrag will ich trotz aller Versuchung vermeiden, irgendwelche Mutmaßungen über die Motive der Protagonisten anzustellen. Es ist Krieg, und die Wahrheit liegt irgendwo blutend auf dem Schlachtfeld des Propagandatrommelfeuers.

Die Lage auf dem Energiesektor ist verzwickt genug. Deutschland schreitet unverdrossen auf dem Weg der Energiewende voran und schaltet weiterhin planmäßig funktionierende Kraftwerke ab, auch wenn nirgendwo ein Ersatz in Aussicht steht. Auch die 11 Milliarden teure Gaspipeline Nordstream II wurde zwar fertiggestellt, darf aber nicht in Betrieb genommen werden.

Durch die Energiewende hat sich Deutschland in eine hoffnungslose Energieabhängigkeit von Russland verstrickt. Es gibt auf der Welt nur wenige nennenswerte Energieträger: Fossilenergie (Kohle, Öl und Gas), Nuklearenergie und Umweltenergie (Wasserkraft, Wind, Sonne und Biomasse). Aus allen fossilen und nuklearen Energieträgern steigt Deutschland aus. Die Energieversorgung soll ausschließlich auf Umweltenergie umgestellt werden. Umweltgetriebene Energie erbringt aber bisher trotz gigantischer Anstrengungen gerade mal 5 Prozent des Primärenergieverbrauches des Landes. Man stelle sich Deutschland bildlich vor, wenn die restlichen 95 Prozent auch noch mit Wind, Sonne und Biogas erzeugt werden sollen – Wasserkraft ist geologisch kaum steigerbar.

Da bot sich billiges Russengas als „Übergangsenergie“ förmlich an. Die Energiewender überboten sich in jubelnden Zusicherungen, dass Putin zuverlässig für hundert neu zu bauende Gaskraftwerke billiges Gas liefern würde, bis die restlichen 95 Prozent Windräder und Solarpaneele installiert sind. Dieses Kartenhaus ist nun eingestürzt, und es wird sofort an die Errichtung neuer Kartenhäuser gegangen, vom Bückling vor den Scheichs in Katar bis zum Bau von schwimmenden LNG-Terminals ohne förmliche Baugenehmigung für US-Fracking-Gas.

Die abgeschalteten 14 Kernkraftwerke hätten so viel Energie liefern können, wie man jetzt auf Biegen und Brechen einsparen muss, um von russischen Gaslieferungen ein bisschen weniger abhängig zu sein. Nichtsdestotrotz will man auch die letzten drei Kernkraftwerke in neun Monaten verschrotten. Und Kohle darf nicht verstromt werden, das Abschalten geht auch hier munter weiter.

Das deutsche Gas-Fracking-Verbot besteht weiter

Nebenher wird von vielen Ahnungslosen in noch mehr Talkshows darüber gestritten, ob man nun sofort aus dem Russengas, dem Russenöl und der Russenkohle aussteigt. Die Aussteiger haben offenbar keinerlei Angst, dass in Deutschland ein Energienotstand ausbricht, der in einem Zusammenbruch der Gesellschaft münden könnte. Es sind komischerweise oft dieselben Leute, die sich noch vor drei Monaten vor lauter Corona-Angst in ihre Kettenhemden nässten.

Ich habe mich als Zuseher bei diesem absurden Theater gefragt, wer denn zuerst die Gaspipeline zudrehen wird – Putin oder Habeck? Die dritte Partei im Spiel hatte ich eher nicht auf dem Schirm – wie kurzsichtig von mir! Und jetzt passiert es gerade. Die Ukraine dreht den Durchleitungsgashahn für das Russengas zu.

Eher unter ferner liefen berichten deutsche Leitmedien darüber, dass nach Angriffen in der Region Luhansk die Ukraine die Durchleitung von russischem Gas seit gestern, am Mittwoch, dem 11. Mai 2022 um 7:00 Uhr MEZ, stoppt. Betroffen ist ein Drittel der nach Europa lieferbaren Höchstmenge. Dass diese Meldung nicht alle Nachrichten beherrscht, zeigt eher die katastrophale Unbedarftheit der Journalisten. Mir fällt dazu nur ein: Gott schütze Deutschland!

Warum kann man nun so plötzlich doch verzichten?

Wenn auch noch in diesem Zusammenhang die Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums verkündet:

Deutschland drohen auch bei Einschränkungen des Transits von russischem Gas durch die Ukraine derzeit keine Engpässe. Die Versorgungssicherheit in Deutschland ist aktuell weiter gewährleistet“,

gehen bei mir alle Warnlampen und Alarmsirenen gleichzeitig an. „Derzeit“ und „aktuell“? Da stellt sich nämlich die Frage, warum Deutschland bisher laut Aussage desselben Ministeriums nicht auf die Gaslieferungen verzichten konnte.

Mit der ukrainischen Abstellung fallen bis zu 32,6 Millionen Kubikmeter Gas pro Tag weg – das ist fast ein Drittel der täglich über die Ukraine nach Europa transportierbaren Höchstmenge. Der ukrainische Gasnetzbetreiber teilte am Dienstag mit, dass es aufgrund der russischen Besatzung unmöglich geworden sei, den Punkt Sochraniwka sowie die Verdichterstation Nowopskow zu kontrollieren. Der Betreiber berief sich auf einen Fall „höherer Gewalt“.

Russlands Energieriese Gazprom wiederum, der zuletzt täglich fast 100 Millionen Kubikmeter Gas durch die Ukraine in Richtung Europa gepumpt hatte, erklärte, man habe „keinerlei Bestätigungen über Umstände höherer Gewalt“ erhalten. Die Ukrainer hätten in den vergangenen Wochen ganz „ungestört“ in Sochraniwka gearbeitet.

Gazprom betonte einmal mehr, alle seine Verpflichtungen gegenüber europäischen Kunden erfüllen zu wollen. Doch die nun wegfallenden Lieferungen stattdessen über andere Routen umzuleiten, sei technisch nicht möglich, sagte Sprecher Sergej Kuprijanow der Agentur Interfax zufolge.

Ich weiß nicht, was von diesen Aussagen keine Propaganda enthält. Die Wahrheit liegt meines Erachtens nach immer noch irgendwo blutend auf dem Schlachtfeld.

Sieben Milliarden Euro an „Durchleitungsgebühr“

Die Ukraine sollte nämlich ein vitales finanzielles Interesse an kontinuierlichen Gaslieferungen haben – zahlte doch Deutschland jährlich über sieben Milliarden Euro an „Durchleitungsgebühr“ für das russische Gas an die Ukraine. Das sind etwa 20 Millionen Euro pro Tag.

Oder hat die ukrainische Politik jetzt ein mächtigeres Wirkpotenzial der Gasdurchleitung durch ihr Gebiet auf die Politiker der europäischen Länder und ihre Entscheidungen erkannt? Wissen die Ukrainer, dass derzeit kein deutscher Politiker ein Pferd hat, das schnell genug ist, um ihn mit einem vielsagenden Blick sagen zu lassen: „Genau für diesen Fall haben wir Nordstream II gebaut“?

Auch Russland sollte eigentlich ein vitales Interesse an der Kontinuität der Gaslieferungen nach Europa haben. Nach Aussage aller Falken-Experten, die für ein sofortiges Gasembargo in den deutschen Talkshows trommeln, finanziert Putin mit den täglichen Gaseinnahmen von 800 Millionen Euro seinen Krieg. Was macht er, wenn dieses Geld nicht mehr fließt? Geht er an die russischen Goldreserven? Will die Ukraine mit ihrer Aktion gar den Russen diesen Geldhahn zudrehen?

Fragen über Fragen. Da ich eingangs versprochen habe, keine Mutmaßungen anzustellen: Ich frage für einen Freund.

Die Rechnung geht nicht auf

Zu guter Letzt möchte ich noch vom ideologischen Purzelbaum eines deutschen Spitzenpolitikers berichten, mit dem ich seit Jahren unterschiedlicher Meinung über die Energiewende kommuniziere. Noch im September 2021 schrieb ich ihm:

Um Ihr Energiewende-Ziel zu erreichen, ergibt sich ein notwendiger Zubau Wind/Sonne pro Tag in den nächsten 10 Jahren: 

Wind Onshore: 10 neue Onshore-Windenergie-Anlagen pro Tag (zum Vergleich: In 2020 wurden pro Monat 35 Onshore-Anlagen zugebaut). 

Wind Offshore: alle 2 Tage eine neue Windenergie-Offshore-Anlage (Zum Vergleich: im ersten Halbjahr 2021 erfolgte kein Zubau von Offshore-Anlagen)

PV: 2 Millionen / 120 = 16.670 Anlagen pro Monat = 556 neue PV-Anlagen pro Tag“ (gekürzt) 

Darauf antwortete er mir: „Ich möchte mich für Ihre erneute Mail bedanken. Die Energiewende lässt sich, wenn wir erfolgreich sein wollen, nicht auf zwei oder drei Parameter reduzieren. Das Projekt ist komplex und erfordert sehr viel mehr Stellschrauben. Aber wir werden uns in dieser Frage gegenseitig einfach nicht überzeugen können“.

Derselbe Spitzenpolitiker forderte nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges den sofortigen Boykott russischer Energieträger. Als ich ihn auf die Folgen aufmerksam machte, antwortete er mir:

Wenn ich fordere, die Gas- und Ölimporte aus Russland sofort zu stoppen, dann bin ich mir bewusst, dass eine Kompensation durch erneuerbare Energien kurzfristig nicht zu erreichen ist. Aber es geht in dieser dramatischen Situation um nicht weniger als um Frieden und Freiheit in Europa. Derzeit spülen wir durch die Importe täglich annähernd eine Milliarde Euro in Putins Kriegskasse und konterkarieren damit unsere eigentlich wirkmächtigen Sanktionen gegen die russische Zentralbank.

Vorübergehend würde die Entscheidung eines Importstopps für Gas und Öl aus Russland nur zu Lasten anderer Ziele, des Klimaschutzes und des Endes der Kernenergie realisierbar sein. Aber die Menschen in der Ukraine, die für ihr Land, aber auch für den Frieden und für die Freiheit in Europa kämpfen, brauchen unsere Unterstützung jetzt. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren”.

Adé, Klimaschutz, adé, Kernenergieausstieg, der nur leider nicht mehr rückgängig zu machen ist. Offenbar sind die politischen Stellschrauben zur Beliebigkeit geraten. Mit der Drosselung der Gaslieferungen sind einige Stellschrauben gar abgebrochen. Als Ingenieur kenne ich das Schraubenprinzip: „nach fest kommt ab“. Mein Spitzenpolitiker ist medial in Deckung gegangen und antwortete leider nicht mehr auf meine letzte E-Mail, in der ich ihn auf ein entsprechendes Interview aufmerksam machte.

 

Manfred Haferburg ist Autor des autobiografischen Romans „Wohn-Haft“ (5 Sterne bei 188 Bewertungen). Er wuchs in Sachsen-Anhalt auf und studierte in Dresden. Er arbeitete im Kernkraftwerk Greifswald, einem der damals größten Atomkraftwerke der Welt. Durch seine sture Weigerung, in die SED einzutreten, fiel er der Staatssicherheit auf. Als er sich auch noch weigerte, Spitzel zu werden, erklärte ihn die Partei zum Staatsfeind. Von seinem besten Freund verraten, verlor Manfred erst seinen Beruf, dann seine Familie und zuletzt die Freiheit. Ein Irrweg durch die Gefängnisse des sozialistischen Lagers begann, der im berüchtigten Stasigefängnis Hohenschönhausen endete. Hier gehörte er zu den letzten Gefangenen, die von der Stasi entsorgt wurden. Manfred Haferburg lebt heute mit seiner Frau in Paris

Der Beitrag erschien zuerst bei ACHGUT hier

 

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