Die Schiefergas-Revolution versetzt den russischen Staatskapitalismus in Unruhe
Alle Mächtigen im Russland Putins haben sich zu einer heiligen Allianz zusammen geschlossen, um dieses Gespenst zu bannen: Präsident und Premierminister, Oligarchen und Bürokraten, trendige Umweltaktivisten und Politspione des Kreml. Mr. Putin hat Schiefer als zu teuer und die Umwelt ruinierend denunziert. Alexej Miller, Chef von Gazprom, hat die Revolution beschrieben als einen „Mythos“ und eine „Blase, die bald platzen wird“. „Wir sind skeptisch hinsichtlich Schiefergas“, sagt er. „Wir sehen für uns keinerlei Risiken“. Aber kürzlich ist die Haltung des regierenden Clans nuancierter geworden. Mr. Putin räumt inzwischen ein, dass es „wohl doch eine echte Schiefer-Revolution“ geben könnte und drängt die russischen Energieunternehmen, sich der „Herausforderung durch Schiefer“ zu stellen.
Die gleiche Ambivalenz konnte man auf dem internationalen Energieforum in St. Petersburg vom 20. bis 22. Juni finden. Das Forum projizierte das übliche Bild von Russland als einem Land, das aus der Kälte kam und der Gemeinschaft des globalen Business beigetreten ist. Fast 3700 Geschäftsleute und Funktionäre kamen zusammen, um die Art von Dingen zu diskutieren, die diese Leute immer auf Tagungen diskutieren: Reduktion der Korruption, neues Wachstum entfachen, den Handel zu befreien.
Es gab bei dem Treffen nicht eine einzige öffentliche Sitzung zum Thema Schiefer. Aber wie Banquos Geist schwebte es durch die Bankettsäle. Es tauchte auf in Unterhaltungen im Pepsi-Cola-Café und der Mercedes-Benz Star Bar, und zwar mit Phrasen wie „Game Changer“ und „störende Innovation“. Es war Thema einer Sitzung hinter verschlossenen Türen unter dem Vorsitz von Daniel Yergin, einem amerikanischen Energieberater. Teilgenommen haben auch die Chefs von einem Dutzend der weltgrößten Energieunternehmen. Alexander Novak, der Energieminister, sagte dem Auditorium, dass es Steuerreformen geben werde, um unkonventionelles Öl und Gas voranzubringen. Aber der in seine Anti-Schiefer-Haltung zurück fallende Mr. Putin sagte auf dem Forum, dass das nicht wettbewerbsfähig sei, „Schwärze“ im Trinkwasser und viele „Explosionen“ verursachen würde.
Die Schiefer-Revolution verändert das Gleichgewicht der Macht zwischen dem russischen Bären und seinen europäischen Verbrauchern. In der Vergangenheit war sich Russland seiner Wirtschaftskraft hinsichtlich Energie so sicher, dass es sich in der Lage wähnte, Kunden einschüchtern zu können: So wurde der Gasexport in die Ukraine während Vertragsverhandlungen in den Jahren 2006 und 2009 unterbunden. Aber die durch Schiefer angetriebene Transformation von Amerika von einem abnehmenden Energieverbraucher zum größten Gaserzeuger der Welt und ein potentieller großer Exporteur, drückt den Gaspreis auf dem Weltmarkt. Verflüssigtes Gas aus dem Nahen Osten, das Amerika nicht mehr haben will, wird jetzt den Europäern angeboten. Letzte Woche wurde ein Konsortium gewählt, das Gas aus Aserbeidschan nach Westeuropa pumpen soll, was die Abhängigkeit von russischen Lieferungen weiter reduziert. Die Europäer merken, dass sie Marktmacht haben: Bulgarien hat kürzlich in einem neuen Zehnjahresvertrag mit Russland einen Preisnachlass um 20% ausgehandelt. Andere sind auch auf dem Wege, sich aus ihrer Abhängigkeit von einem Land zu befreien, das Energie als Waffe der Außenpolitik benutzt hat. Polen und die Ukraine beabsichtigen, ihre eigene Versorgung mit Schiefergas zu entwickeln, auch aus ökonomischen Gründen.
Gazprom ist dieser Tage ein verwundeter Riese, und Schiefer ist eines der Dinge, das ihn am meisten geschmerzt hat. Im Jahr 2008 verfügte er über ein Marktkapital von 367 Milliarden Dollar, und Mr. Miller spekulierte, dass sein Unternehmen das erste Billionen-Dollar-Unternehmen der Welt werden würde. Jetzt liegt der Wert bei 78 Milliarden Dollar, und sein Geschäftsmodell – Geld in den Kreml zu pumpen für den Schutz vor Wettbewerb – sieht ruiniert aus.
Gazprom in Verlegenheit bringen
Agilere Unternehmen wie Statoil in Norwegen haben sich an die Gasschwemme angepasst, indem sie den Verbrauchern „Spotpreise“ anbieten an Stelle von Preisen, die sich am Ölpreis orientieren. Die Europäische Kommission erwägt, Gazprom zu zwingen, seine Pipelines zu verkaufen und Kartellstrafen bis zu 14 Milliarden Dollar zu zahlen. Und heimische Wettbewerber wie Novatek fragen, warum ein Unternehmen, das „verschlafen“ hat, sich immer noch an einem Monopol für Gasexporte erfreuen soll.
Der Aktienkurs von Novatek ist seit 2008 um 60% gestiegen, während der von Gazprom um drei Viertel gefallen ist. Man hat riesige Ambitionen einschließlich einer Partnerschaft mit Total in Frankreich, in Nordwest-Sibirien eine Gasverflüssigungs-Anlage zu bauen, um Gas nach Asien und Europa zu verschiffen. Novatek ist eine neue Art von Unternehmen, das sich aus einem Splitter entwickelt hat und nicht aus Resten der Sowjetunion, aber es ist nicht das erste. Gennadi Timtschenko, einer von Putins Verbündeten, hat seine Aktienbeteiligung im Jahr 2009 um 23% erhöht. Es erfreut sich auch der Unterstützung anderer Energiegiganten wie Rosneft, Russlands größtem Ölerzeuger, der plant, seine Anteile am heimischen Gasmarkt bis zum Jahr 2020 zu verdoppeln, teilweise auch mit Schiefer. Aber das Gazprom-Monopol bzgl. von Gasexporten los zu werden würde nichtsdestotrotz einen Schritt in die richtige Richtung markieren.
Einige Analysten weisen darauf hin, dass Russland sehr wohl in der Lage ist, den Energie-Aufruhr zu überstehen. Es verfügt selbst über eigene potentiell riesige Reserven an Schiefergas und –öl, was Putin zu erwähnen pflegt, wenn er denn mal in Schieferlaune gerät. Russland kann sowohl nach Westen als auch nach Osten schauen auf energiehungrige Märkte wie China. Vielleicht hat das Schiefergespenst wie so viele andere fiktive Geister noch rechtzeitig eine Warnung ausgesprochen: Wenn man die Profite weiterhin in fetter werdende Monopole investiert anstatt Innovationen voranzutreiben, wird man wahrscheinlich erniedrigt. Putin und Co. müssen ihre feindlichen Versuche aufgeben, den Schiefer-Geist zu bannen und stattdessen auf das hören, was er ihnen zu sagen versucht: was gut ist für Gazprom ist, ist nicht notwendigerweise auch gut für Russland.
Link: http://www.economist.com/news/business/21580131-shale-gas-revolution-unnerves-russian-state-capitalism-spooked-shale
Übersetzt von Chris Frey EIKE