Japans Unglück würde schwerer wiegen, wenn es weniger gefährliche Alternativen gäbe. Kernkraft ist Teil des Energiemixes.
Von George Monbiot, guardian.co.uk, 21.03.2011
Sie werden sich nicht wundern, wenn Sie hören, dass die Vorfälle in Japan meine Meinung zur Kernkraft verändert haben. Als Ergebnis des Fukushima-Unglücks kann ich nicht länger neutral in Sachen Kernkraft sein. Ich unterstütze jetzt diese Technologie.
Ein altes Schrottkraftwerk mit ungenügender Sicherheitsausrüstung ist von einem Monster-Erdbeben und einem Riesen-Tsunami getroffen worden. Die Stromversorgung fiel aus, damit auch das Kühlsystem. Die Reaktoren sind explodiert und geschmolzen. Das Unglück hat wie so häufig seinen Ursprung in schlechtem technischen Entwurf und Sparwut. Aber bislang hat noch niemand eine tödliche Strahlung abbekommen, so weit uns bekannt ist.
Viele Grüne haben die Gefahr von radioaktiver Verseuchung wild übertrieben. Um das besser beurteilen zu können, möge man die Grafik bei xkcd.com anschauen. (Siehe nebenstehendes Bild)
Sie zeigt, dass die durchschnittliche Gesamtdosis beim Three Mile Island – Unfall für Bewohner innerhalb der 10-Meilen-Zone um das Kraftwerk nur 1/625stel der jährlich erlaubten Menge für amerikanische strahlungsexponierte Arbeiter war. Das ist die Hälfte der niedrigsten Ein-Jahres-Dosis, die ein erhöhtes Krebsrisiko bewirkt. Das wiederum ist 1/80stel einer unausweichlich tödlichen Dosis. Ich will hier gar nicht beschwichtigen. Ich möchte die Dinge nur in den richtigen Zusammenhang stellen.
Wenn andere Energie-Erzeugungsarten keine Schäden verursachten, würden die Auswirkungen schwerwiegender sein. Aber Energie ist wie ein Arzneimittel: wenn es keine Nebenwirkungen hat, besteht das Risiko, dass es nicht hilft.
Wie die meisten Grünen, befürworte ich einen großräumigen Ausbau der Erneuerbaren. Ich kann mich aber auch mit den Beschwerden der Gegner der Erneuerbaren anfreunden. Es sind ja nicht nur die Windparks an Land, welche den Menschen Sorgen bereiten, auch die neuen Übertragungsnetze (Masten und Leitungen). In dem Maße, wie der Anteil der erneuerbaren Elektrizität ansteigt, werden mehr Stauseen benötigt, um die Lichter brennen zu lassen. Das bedeutet Stauseen im Gebirge: darüber freut sich niemand.
Auswirkungen und Kosten der Erneuerbaren steigen mit ihrem Anteil an der Stromversorgung, weil der Bedarf für Speicher und Ausfall-Reserve ansteigt. So kann es schon sein (Eine vergleichende Studie steht noch aus), dass bis zu einer gewissen Netzauslastung – 50% bis 70% vielleicht? – die Erneuerbaren eine geringere Kohlenstoff-Belastung haben als Kernenergie. Aber jenseits dieser Auslastung belastet die Kernenergie geringer als die Erneuerbaren.
Wie viele haben ich nach erneuerbarer Energie und deren Ausbau verlangt als Ersatz für die aus fossilen Kraftwerken kommende Elektrizität und für den Ersatz des Öls für den Transport der Energieträger und für den Ersatz des Gases als Brennstoff. Sollen wir nun auch verlangen, die existierende Kernkraft-Kapazität zu ersetzen? Je mehr Anteil wir den Erneuerbaren geben, desto größer wird die Auswirkung auf die Landschaft sein und desto härter die Aufgabe, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen.
Der Ausbau des Netzes zum Anschluss der Menschen und der Industrie an reiche, entfernte Quellen von Umwelt-Energie wird ja auch von den meisten Grünen zurückgewiesen, die sich über meinen Blog-Beitrag vergangene Woche beschwert hatten, in dem ich argumentierte, dass die Kernenergie sicherer als Kohle bleibt. Sie wollen, wie sie sagten, etwas ganz anderes: Wir sollen unseren Energieverbrauch senken und unsere Energie lokal erzeugen. Einige verlangen sogar den Abbau des Netzes. Diese bukolische Vision klingt herzallerliebst, bis man das Kleingedruckte zur Kenntnis nimmt.
In hohen Breiten wie bei uns ist die kleinräumige Energie-Erzeugung ein totaler Reinfall. Wenn man Solarenergie im Vereinigten Königreich erzeugen will, muss man besonders viel knappe Rohstoffe verschwenden. Solarenergie ist hoffnungslos ineffizient und kaum an den Bedarf angepasst. Windenergie in bevölkerungsdichten Gegenden ist weitgehend nutzlos. Einmal, weil wir unsere Siedlungen in windgeschützten Gegenden gebaut haben, zum Anderen, weil die von den Gebäuden erzeugten Verwirbelungen mit den Luftströmungen interferieren und den Mechanismus kaputt machen. Kleinteilige Wasserkraft mag ja für ein Bauernhaus in Wales in Ordnung gehen, aber in Birmingham nutzt sie nichts.
Und wie sollen wir unsere Textilfabriken, Ziegeleien, Hochöfen, elektrifizierte Eisenbahnen betreiben – ganz zu schweigen von den industriellen Fertigungsabläufen? Solarpaneele auf den Dächern? In dem Augenblick, wo man den Bedarf der gesamten Wirtschaft betrachtet, hört der Spaß mit der lokalen Energie-Erzeugung auf. Ein nationales (noch besser internationales) Netz ist die wesentliche Voraussetzung für eine größtenteils erneuerbare Energieversorgung.
Einige Grüne gehen noch weiter: warum soll man überhaupt erneuerbare Energien verschwenden, in dem man sie in Elektrizität wandelt? Warum nutzt man sie nicht ganz direkt? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich England vor der industriellen Revolution anschauen.
Das Dämmebauen und Aufstauen englischer Flüsse für Wassermühlen war kleinräumige erneuerbare Energieerzeugung, pittoresk und zerstörerisch. Durch die Absperrung der Flüsse und Verschlammung der Laichgründe wurden die riesigen Züge der Wanderfische beendet, die einst eines unserer großen Naturwunder waren und einen großen Teil von Britannien mit Nahrung versorgten – ausgerottet der Stör, so auch Neunaugen und Alsen, Seeforellen und der Lachs.
Das Treideln und Ziehen war eng mit der Ausrottung verbunden. Je mehr Land für die Zugtiere, für die Industrie und das Transportwesen reserviert wurde, desto weniger war für die Ernährung der Menschen verfügbar. Es war das Äquivalent im 17. Jh. zur heutigen Energiepflanzen-Krise. Das Gleiche galt für Brennstoffe zur Heizung. Wie E.A. Wrigley in seinem Buch "Energy and the English Industrial Revolution" feststellt, haben im Jahre 1800 die 11 Mio. Tonnen in England geförderter Kohle so viel Energie erzeugt, wie 11 Mio. Acre Wald (1/3 des Landes) (entspricht 44.500 qkm) erzeugt hätten.
Bevor Kohle weithin verfügbar wurde, hat man Holz nicht nur für das Heizen der Wohnungen benutzt sondern auch für industrielle Prozesse: Wenn die Hälfte von England mit Wald bedeckt gewesen wäre, hätten wir, – wie Wrigley zeigt, pro Jahr 1,25 Mio. Tonnen Eisenbrammen pro Jahr erzeugen können (ein Bruchteil dessen, was wir derzeit verbrauchen). Schon mit einer geringeren Bevölkerung als heute waren Industrie-Güter in der auf Grund und Boden beruhenden Wirtschaft ein Privileg der Elite. Tiefgestaffelte, grüne dezentralisierte Energie-Erzeugung, die auf den Produkten des Landes beruht, ist weit vernichtender für die Menschheit als eine Kernschmelze.
Die Energiequelle, auf welche die meisten Wirtschaftsräume zurückfallen würden, wenn sie die Kernenergie abschalten ist nicht Holz, Wasser, Wind oder Sonne, sondern es sind fossile Energieträger. In jeder Hinsicht (Klimawandel, Bergbau, lokale Umweltverschmutzung, Industrie-Unfälle und Tote, ja sogar Ausstoß von Radioaktivität) ist Kohle 100 mal schlimmer als die Kernkraft. Wegen der Ausdehnung der Schiefergaserzeugung holen die Auswirkungen von Erdgas rasch auf.
Ja, ich verfluche immer noch die Lügner der Betreiber der Kernkraft-Industrie. Ja, ich möchte gerne den gesamten Sektor abgeschaltet sehen, wenn es denn harmlose Alternativen gäbe. Aber es gibt keine ideale Lösung. Jegliche Energie-Erzeugung hat ein Preisschild. Auch der Verzicht darauf. Kernenergie ist gerade einem der härtesten denkbaren Tests ausgesetzt gewesen und die Auswirkungen auf die Menschen und die Erde ist gering. Die Krise von Fukushima hat mich zum Befürworter der Kernenergie gemacht!
Von George Monbiot, guardian.co.uk, 21.03.2011
Das Orginal finden Sie hier
Die Übersetzung besorgte Helmut Jäger EIKE
Einen aktuellen und sachlichen Überblick über die derzeitige Situation in Japan finden Sie hier (mit Dank an Leser U. Klasen und andere)
Gwyneth Cravens ist eine amerikanische Journalistin und Schriftstellerin, die fünf Romane veröffentlicht hat. 2007 erschien ihr Sachbuch „Power to Change the World: The Truth about Nuclear Energy“, mit dem sie in Amerika eine große Debatte auslöste. Die Schriftstellerin beschreibt in ihrem Buch, warum sie sich von einer Gegnerin zu einer Befürworterin der Atomenergie gewandelt hat.
Hannes Stein: Sind Sie für Umweltschutz?
Gwyneth Cravens: Ja, schon mein ganzes Leben. Ich bin in New Mexico aufgewachsen und gehörte schon als Kind der Umweltschutzbewegung an. Besonders lag mir dabei der Schutz der Wälder am Herzen.
Stein: Wenn Sie in Deutschland lebten, würden Sie dann die „Grünen“ wählen?
Cravens: Mir gefällt vieles, was die „Grünen“ tun. Hier in Amerika, wo ich mich besser auskenne, denke ich, dass Maßnahmen wie der „Clean Air Act“ – ein Bundesgesetz gegen die Luftverschmutzung – große Siege gewesen sind. All dies sind Errungenschaften der grünen Bewegung.
Stein: Sie sind also keine Konservative? Sie gehören nicht der republikanischen Partei an?
Cravens: Im Gegenteil. Meine Eltern waren Sozialisten – und ich bin das mehr oder weniger geblieben. Ich bin dafür, dass wir hier in Amerika eine allgemeine Krankenversicherung nach dem Vorbild von Frankreich und Deutschland einführen. Milliardäre sollen gefälligst Steuern zahlen – all das.
Stein: Doch obwohl Sie links sind, haben Sie ein Buch geschrieben, in dem Sie für Atomenergie plädieren: „Power to Save the World“. Warum?
Cravens: Als ich anfing, mein Buch zu schreiben, war ich gegen Atomenergie. Aber ich habe schon an der Schule gelernt, wie man wissenschaftlich forscht. Und als ich mit Wissenschaftlern sprach und sie mir ihre Beweise vorlegten, wurde mir klar, dass sie Recht hatten – und dass die Ideen, die mir von „Greenpeace“ und ähnlichen Organisationen vermittelt worden waren, einfach nicht stimmten.
Stein: Sind Sie eine bezahlte Propagandistin der Atomindustrie?
Cravens: Nein. Ich übe Kritik an der Atomindustrie. Sie hat mich nie bezahlt, ich bin Schriftstellerin und Journalistin und verdiene mein Geld mit dem Schreiben von Büchern und Zeitungsartikeln.
Stein: Die Ereignisse in Japan haben Sie nicht dazu veranlasst, Ihr Plädoyer für die Atomenergie noch einmal gründlich zu überdenken?
Cravens: Nein.
Stein: Ist das, was sich in Japan abspielt, ein GAU wie in Tschernobyl?
Cravens: Als der Reaktor in Tschernobyl brannte, hatte er praktisch keine Schutzhülle. 50 Tonnen oder mehr an radioaktivem Material wurde in die Atomsphäre geblasen und kam dann mit dem Regen wieder herunter. An dem Tag herrschte seltsames Wetter, der Wind wechselte drei oder vier Mal seine Richtung und verbreitete das Zeug über eine weite Fläche. Das ist das Schlimmste, was man sich überhaupt vorstellen kann – zumal Tschernobyl zwei Zwecken gleichzeitig diente: Dort wurde nicht nur Elektrizität, dort wurde auch Plutonium für Bomben produziert. Nach dem Unglück wurde kein Kaliumiodid an die Bevölkerung verteilt, weil die Regierung ihr nicht verraten wollte, dass etwas mit dem Kraftwerk nicht in Ordnung war. Sie hat am Anfang auch gar nichts gegen den Unfall unternommen, sondern die Sache immer weiter hinausgezögert.
Stein: Die Regierung hat den Leuten in der Umgebung des Reaktors damals, wenn ich mich richtig erinnere, nicht einmal geraten, sie sollten keine Milch trinken.
Cravens: Richtig, sie hat den Leuten gar nichts gesagt. Und was ist das Resultat dieses „größten anzunehmenden Unfalls“ in Tschernobyl? Insgesamt etwa 60 Tote. Zwei kamen bei der Explosion um, 49 starben, während sie versuchten, das Feuer zu löschen. Man glaubt, dass aufgrund der Katastrophe in Tschernobyl viele tausend Kinder Schilddrüsenkrebs bekamen. Schilddrüsenkrebs ist sehr gut heilbar, wenn man ihn rechtzeitig behandelt, aber die Ukraine war – jedenfalls damals – kein Ort mit einem sehr guten Gesundheitssystem. Darum starben – ich müsste jetzt nachschauen – acht oder neun Kinder. In Polen kam es überhaupt zu keinen Fällen von Schilddrüsenkrebs, dort nahmen die Leute einfach Kaliumjodid.
Stein: Was ist in Japan anders?
Cravens: Die Katastrophe dort begann am Freitag, dem 11. März, richtig? Sie dauert jetzt also schon beinahe eine Woche. Bis jetzt ist niemand gestorben. Ein Arbeiter in einem Reaktor ist krank geworden. Er ging irgendwohin, wo er nicht hätte hingehen sollen – wahrscheinlich aus sehr heldenhaften Gründen – und bekam eine zu hohe Strahlendosis ab. Unterdessen sind tausende Japaner ertrunken oder verschüttet worden. Tausende mehr haben ihr Dach über dem Kopf verloren. Sie frieren in Notunterkünften. Sie haben kein Wasser. Eine Ölraffinerie ist in die Luft geflogen. Ist dabei eigentlich jemand ums Leben gekommen? Ich weiß es nicht, davon hören wir nichts. Alle konzentrieren sich auf die Atomkraftwerke, weil dort – Möglichkeitsform – etwas passieren KÖNNTE.
Stein: Finden Sie die Vorsichtsmaßnahmen übertrieben?
Cravens: Nein. Die Japaner haben die Lehren aus Tschernobyl gezogen. Sie haben beschlossen, dass sie als Vorsichtsmaßnahme so schnell wie möglich die Menschen aus der Umgebung der Reaktoren evakuieren müssen. Viele Häuser rund um den Reaktor waren allerdings ohnehin schon zerstört. Und sie haben Kaliumjodid verteilt. Genau das hat aber die allgemeine Hysterie angeheizt. Ich bin gerade in Kalifornien – hier kaufen die Leute jetzt Jodtabletten! Dabei wird das radioaktive Jod längst zerfallen sein, ehe es über den Pazifik zu uns gelangen kann. Heute früh rief bei mir ein grüner Radiosender an, um mich zu interviewen, und alle waren in Panik. Ich sagte ihnen weiter, was mir ein Biologe erzählt hatte, der sich in Sachen Radioaktivität auskennt. Wenn man Kaliumjodid nimmt, ohne es wirklich zu benötigen, dann ist das schlecht für die Schilddrüse. Und nebenbei: Diese Tabletten sind schwach radioaktiv! Noch etwas: Die Japaner essen viel Fisch, nicht wahr? Also nehmen sie auf natürlichem Weg ohnehin viel Jod zu sich. Also werden ihre Schilddrüsen wahrscheinlich ohnehin nur wenig radioaktives Jod absorbieren. Rund um Tschernobyl herrschte dagegen Jodmangel, weil das dort eine sumpfige Gegend ist. Die sowjetischen Behörden hatten den Leuten eine Zeitlang Kaliumjodid verabreicht, dann aber damit aufgehört – wahrscheinlich, weil es zu teuer war.
Stein: In Japan ist kein Reaktor in die Luft geflogen, aber es wurde doch Radioaktivität freigesetzt?
Cravens: Es wurde Dampf abgelassen. Wenn sich in einem dieser Reaktoren der Druck aufbaut, muss man ein Ventil aufmachen. Dass dieser Dampf Cäsium und radioaktives Jod enthält, ist ein Zeichen dafür, dass der Reaktor in keinem guten Zustand ist, dass die Brennelemente verkommen. Der Dampf ist also verseucht. Darum warten die Leute ab, bis der Wind in Richtung Pazifik bläst.
Stein: Ist es nicht ziemlich ungesund, wenn all das Caesium und Strontium in die Fische hineinregnet?
Cravens: Die Konzentration müsste sehr hoch sein, damit sie irgendeinen Effekt hätte. Ist sie aber nicht. Die Radioaktivität geht offenbar manchmal hoch, aber nicht für sehr lange – für Minuten oder eine Stunde.
Stein: In zumindest einem der Reaktoren scheint die Schutzhülle aber geborsten zu sein – und es offenbar ist es schon zu einer Kernschmelze gekommen.
Cravens: Ich versuche gerade herauszufinden, was genau der Status ist. In Harrisburg 1979 kam es zu einer teilweisen Kernschmelze. Dabei passierte Folgendes: Ein Teil des Reaktorkerns schmolz auf den Boden des dicken Stahlgehäuses herunter – er verwandelte sich in eine Art Pfannkuchen auf dem Boden des Druckkessels. Ein anderer Teil sprühte wegen der Dampfentwicklung über die Innenseite, wie wenn man etwas verchromt. Die Brennstoffmasse drang dabei nur ungefähr 1,6 Zentimeter tief in das Reaktorgehäuse ein. Das Stahlgehäuse rund um den Reaktorkern ist 12 bis 15 Zentimeter dick – in Japan sind es, glaube ich, 15 Zentimeter. Da kommt man nicht so einfach durch. Mir scheint also, wenn davon gesprochen wird, das Reaktorgehäuse sei gebrochen, ist vom Gebäude die Rede. Leider habe ich kein klares Bild.
Stein: Von einem der Reaktoren musste sich die Löschmannschaft zurückziehen, weil die Radioaktivität zu hoch geworden war.
Cravens: Ich habe gehört, dass die Mannschaft sich zurückzog, weil ihre Haut Reaktionen zeigte. Wenn Sie mit Radioaktivität in Berührung kommen, sieht das aus wie Sonnenbrand. Es ist keine Dosis, die Menschen nicht vertragen könnten, aber man zog die eine Gruppe zurück, damit die nächste Gruppe drankommen konnte. Die Gruppe mit dem Sonnenbrand musste dann einen Tag aussetzen. Der Körper muss mit der Dosis, die er abgekriegt hat, sozusagen erst einmal verdauen, damit die Strahlung sich nicht akkumuliert. Die höchste Dosis, der sich ein Arbeiter in einem amerikanischen Atomkraftwerk aussetzen darf, sind 5000 Millirem pro Jahr. Es sieht im Moment so aus – gewiss bin ich mir meiner Sache natürlich nicht –, als würden die japanischen Löschmannschaften diese Dosis zwar manchmal überschreiten, im Großen und Ganzen aber darunter bleiben. In den nächsten Wochen werden wir mehr wissen.
Stein: Würden Sie eine Prognose wagen? Wie viele Menschen werden wegen der Reaktorunfälle in Japan ihr Leben verlieren?
Cravens: Im Moment würde ich sagen: niemand.
Stein: Niemand?
Cravens: In Harrisburg kam es zu einer Kernschmelze, und kein Mensch starb. Der geschmolzene Urankern wird sich nicht aus dem stählernen Reaktorgehäuse herauswinden, den Betonmantel durchdringen, der extra für ihn gegossen wurde, ein Taxi herbeiwinken und in die Innenstadt fahren.
Stein: Beim Googeln habe ich herausgefunden: Just zur Zeit des Reaktorunfalls von Harrisburg kam der Film „Das China-Syndrom“ ins Kino, mit Jane Fonda als Reporterin, in dem als Möglichkeit dargestellt wird, dass es zu einer Kernschmelze kommt und der Reaktorkern sich durch ein Loch immer tiefer in die Erde frisst…
Cravens: Es war unglaublich! Der Unfall passierte zwei Wochen später, und der Drehbuchautor sagte wirklich großartige Sachen: Der Reaktorkern wird schmelzen, er wird das Gehäuse zerstören, er wird in den Felsen unter dem Kraftwerk vordringen, tödlicher radioaktiver Dampf wird Pennsylvania verseuchen und Tausende werden sterben.
Stein: Hat sich je ein Wissenschaftler dazu geäußert?
Cravens: Es gibt kein „China-Syndrom“. In Harrisburg passierte eine ganz und gar langweilige Kernschmelze. Das Zeug blieb einfach in dem langweiligen Stahlgehäuse liegen. Es gab nicht mehr Todesfälle, keinen Anstieg der Krebsrate in der Umgebung, gar nichts! Studie nach Studie kam zu demselben Ergebnis. In Japan macht mir etwas anderes Sorgen: Die Arbeiter hatten dort vor dem Erdbeben einen Reaktor abgeschaltet. Die alten Brennstäbe hatten sie in einer Halle gelagert. Irgendwie sank der Wasserspiegel – vielleicht hatten sie das Zeug vergessen. Sei es aus Kummer über ihre Familien, sei es, dass manche Leute wegen der Naturkatastrophe nicht zur Arbeit kamen und ihre Mannschaft kleiner war als gewöhnlich. Wie auch immer: Diese alten Brennstäbe sind in die Luft geflogen, und alte Brennstäbe enthalten viel mehr Radioaktivität als neue. Und durch das Feuer sind giftige Stoffe in der Umgebung verteilt worden. Hier das Verrückte: Alte Brennstäbe werden in Japan oben auf dem Gebäude aufbewahrt. Das ist kein gutes Design. Hier in Amerika bewahrt man solche Brennstäbe im Keller auf.
Stein: Das Grundproblem ist aber das Wasser.
Cravens: Die Ingenieure haben Schwierigkeiten, die Reaktorkerne zu kühlen, weil die Notgeneratoren von der Tsunamiwelle überflutet wurden und ihren Geist aufgaben. Also mussten die Ingenieure sich nach einer neuen Energiequelle umsehen.
Stein: Könnte man Ihrer Meinung nach Atomkraftwerke mit einem größeren Grad an Sicherheit bauen?
Cravens: Aber ja doch. Hier in Amerika habe ich ein Atomkraftwerk besucht, in dem es Tanks voller Wasser für den Notfall gibt, die von Hand, ganz ohne Elektrizität, in den Reaktor geleitet werden – einfach, indem man einen Hahn aufdreht.
Stein: Die Deutschen sind in ihrer überwältigenden Mehrheit der Meinung, dass Atomkraft zu gefährlich sei, dass wir sie nicht beherrschen können. Irren sie sich?
Cravens: Sogar wenn man die ungefähr 60 Opfer einbezieht, die der Unfall in Tschernobyl gekostet hat, ist die Todesrate in der Atomindustrie immer noch die niedrigste pro Kilowattstunde Energie, die mit dieser Methode produziert wird. Wissen Sie, wie viele Amerikaner im vergangenen Jahr aufgrund von Explosionen gestorben sind, die mit Gaswerken zu tun hatten?
Stein: Keine Ahnung.
Cravens: 14. Brechende Staudämme haben im 20. Jahrhundert zehntausende Menschen getötet – vor allem in China. Insgesamt starben bei der Erzeugung von Energie aus fossilen Brennstoffen in Amerika bis vor kurzem 25.000 Menschen pro Jahr – heute ist die Todesrate etwas niedriger, weil wir bessere Filter einbauen. Aber es sind immer noch viel zu viele.
Stein: Warum brauchen wir Ihrer Meinung nach überhaupt Atomkraft?
Cravens: Die Verbrennung von fossiler Energie tötet jedes Jahr ungefähr drei Millionen Menschen auf der Welt. Sie ist nicht gut für uns. Wenn Sie in der Nähe von einem Kohlekraftwerk leben, kriegen Sie das 140fache an Radioaktivität von dem ab, als wenn Sie direkt neben einem Atomkraftwerk leben. Wenn Sie Ihren Herd mit Erdgas betreiben, kriegen Sie sogar das 900fache ab. Außerdem wird bei der Verbrennung von Erdgas Schwefeldioxid in die Luft geblasen. Das führt zu Herzproblemen und Lungenkrebs. Hinzu kommt die Klimakatastrophe – seit dem Beginn der industriellen Revolution wurde mehr und mehr CO2 in die Atmosphäre eingespeist, dadurch wärmt sich der Globus immer weiter auf. Eine andere Katastrophe, die sich vor unser aller Augen vorbereitet, ist, dass die Ozeane durch das Kohlendioxid immer saurer werden. Daran sterben Korallen und Plankton.
Stein: Ist die ökologische Alternative zu Kohle und Erdgas nicht die Wind- und Sonnenenergie?
Cravens: Ich bin absolut für Wind- und Sonnenenergie. Aber sie reichen nicht aus, wie Sie wohl wissen: Deutschland baut gerade mehr Kohlekraftwerke – die dann den Strom liefern, wenn die Sonne nicht scheint und Flaute herrscht. Atomkraft ist die einzig realistische Alternative zu den fossilen Brennstoffen.
Stein: Glauben Sie nicht, dass die Reaktorunfälle in Japan auf der ganzen Erde das Ende des Atomzeitalters bedeuten? Präsident Obama hat sich zwar gerade eben klar und deutlich für die Atomkraft ausgesprochen. Aber es wird in Zukunft auch hier schwieriger werden, Kernkraftwerke zu bauen. Und was ist mit China, mit Indien?
Cravens: Ein paar Kongressabgeordnete werden durchsetzen, dass die Sicherheitsauflagen strenger werden. Aber Amerika wird nicht aus der Atomkraft aussteigen. China auch nicht – die Chinesen haben gerade verkündet, dass sie ihre Sicherheitsstandards erhöhen. Sie wollen Atomkraftwerke bauen, die sie exportieren können. Ein angenehmer Nebeneffekt dieser Reaktorunfälle ist übrigens, dass jetzt mehr Journalisten als früher gezwungen werden, sich ernsthaft mit Atomenergie zu beschäftigen. Heute durften wir in der „New York Times“ einen Artikel lesen, der sehr nüchtern und aufklärend war.
Stein: Wie groß ist jener Flügel der amerikanischen Grünen, den Sie und Stewart Brand repräsentieren, also der Flügel, der nicht technikfeindlich, sondern technikfreundlich ist und dabei die Nuklearenergie ausdrücklich mitmeint?
Cravens: Ich habe gerade eben mit Stewart telefoniert – er sagte mir, dass viele Leute in der Ökobewegung so denken wie wir. Auch einflussreiche Leute. Sie trauen sich aber nicht, das offen zu sagen, weil sie fürchten, dass dann die Spendengelder ausbleiben
Das original erschien am 17.3.11 bei ACHGUT hier