So tödlich war die Tschernobyl-Panik
Das Reaktorunglück von 1986 führte zu einem weltweiten Rückschlag für die Kernenergie. In der Folge wurde wieder vermehrt auf fossile Stromerzeugung gesetzt. Die damit verbundene Luftverschmutzung hat mutmasslich Millionen von Menschen das Leben gekostet.
Von Peter Panther
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 hat die Welt nachhaltig verändert. Dieser Unfall stoppte den weiteren Ausbau der Kernenergie und führte dazu, dass viele Länder bei der Stromerzeugung verstärkt auf fossile Brennstoffe setzten. Diese Entscheidung hatte weitreichende Konsequenzen für die Gesundheit, wie amerikanische Wissenschaftler nun zeigen. Sie schätzen, dass aufgrund der erhöhten Luftverschmutzung durch den vermehrten Einsatz von Öl, Gas und Kohle seitdem 318 Millionen Lebensjahre verloren gegangen sind.
Am 26. April 1986 explodierte der Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion. Die Explosion war das Ergebnis eines fehlgeschlagenen Steuerungsexperiments. Die Sicherheitsvorkehrungen im Kraftwerk waren unzureichend – insbesondere fehlte ein Containment, das die radioaktive Strahlung hätte eindämmen können. Daraufhin wurden grosse Mengen radioaktiven Materials freigesetzt, das sich über weite Teile Europas verbreitete.
90 geplante Reaktoren nicht gebaut
Die Folgen des Unfalls waren gravierend: In den Wochen nach der Katastrophe starben Dutzende Arbeiter an akuter Strahlenkrankheit. Die Sowjetbehörden erklärten ein Gebiet von etwa 4000 Quadratkilometern zur Sperrzone, und hunderttausende Menschen wurden evakuiert. Die Region ist auch jetzt noch nicht wieder besiedelt. Die langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen der Strahlung sind bis heute Gegenstand intensiver Forschung und Debatten. Die vertrauenswürdigsten Schätzungen gehen dahin, dass in den belasteten Gebieten einige tausend Menschen durch die erhöhte radioaktive Belastung vorzeitig starben.
Die US-Ökonomen Alexey Makarin, Nancy Qian und Shaoda Wang, die an renommierten US-Universitäten (Massachusetts Institute of Technology, Northwestern University, University of Chicago) tätig sind, haben die Folgen des Reaktorunfalls aus einer neuen Perspektive betrachtet. In ihrer noch unveröffentlichten Studie mit dem Titel «Die politisch-ökonomischen Determinanten der Kernenergie: Erkenntnisse von Tschernobyl» analysieren sie die Auswirkungen des weltweiten Verzichts auf Kernkraft infolge von Tschernobyl. Sie zeigen auf, dass nach dem Unfall rund 90 geplante Reaktoren nicht gebaut wurden und dass viele Länder die Sicherheitsstandards für den Betrieb bestehender Kernkraftwerke verschärften.
Der Knick wegen «Tschernobyl»
Die erhöhten Sicherheitsstandards und die strengeren Genehmigungsverfahren führten zu längeren Bauzeiten und steigenden Kosten. Vor allem in demokratischen Ländern kam der Ausbau von Kernkraftwerken nahezu zum Stillstand. Die Forscher heben hervor, dass es bis 1986 einen kontinuierlichen Anstieg bei der Anzahl laufender Atomkraftwerke gab, der nach «Tschernobyl» abrupt endete.
Quelle: «The Political Economic Determinants of Nuclear Power: Evidence from Chernobyl»
Die fossile Industrie profitierte von der Krise der Atomkraft. Wie die Studienautoren zeigen, stieg in den USA und Grossbritannien die finanzielle Unterstützung von Politikern durch Lobbygruppen, die fossile Brennstoffe förderten, signifikant an. Besonders in den USA war diese Einflussnahme spürbar: Zeitungen, die viel Werbung für fossile Brennstoffe erhielten, veröffentlichten vermehrt Artikel gegen Kernenergie. Auch in Grossbritannien verstärkte sich die Anti-Atomkraft-Stimmung. Politiker, die von Bergbaugewerkschaften unterstützt wurden, sprachen sich häufiger gegen Kernkraftwerke aus.
Mindestens sieben Millionen Tote wegen Luftverschmutzung
Durch den vermehrten Einsatz von Kohle, Öl und Gas kam es nachweislich zu einer erheblichen Zunahme der Luftverschmutzung. Die Forscher schätzen, dass weltweit rund 318 Millionen Lebensjahre aufgrund der damit verbundenen Gesundheitsrisiken verloren gingen. Allein in den USA beläuft sich diese Zahl auf 141 Millionen Lebensjahre, in Grossbritannien auf 33 Millionen.
Man kann dies relativ einfach in Todesopfer umrechnen: Das globale Durchschnittsalter beträgt etwa 30 Jahre, und die mittlere Lebenserwartung liegt bei 73 Jahren. Basierend auf diesen Zahlen verliert jeder Mensch, der aufgrund der Luftverschmutzung stirbt, im Schnitt 43 Lebensjahre. In Bezug auf die 318 Millionen verlorenen Lebensjahre wären das mindestens sieben Millionen Tote. Das sind rund tausendmal mehr Menschen, als durch die direkte Strahlenbelastung infolge des Reaktorunfalls starben. Natürlich geht es bei den Todesopfern wegen Luftverschmutzung um grobe statistische Abschätzungen. Aber dasselbe gilt für die mutmasslichen Toten infolge der Tschernobyl-Strahlung.
Auch die Evakuierungen in Fukushima waren tödlich
Wer an den menschengemachten Klimawandel glaubt, dem sei auch noch das gesagt: Der vermehrte Einsatz fossiler Brennstoffe nach «Tschernobyl» führte mit Sicherheit auch zu einem erhöhten Ausstoss an Klimagasen. Auf diesen Aspekt geht die erwähnte Studie allerdings nicht ein. Vor kurzem ist jedoch ein norwegischer Forscher zum Schluss gekommen, dass Deutschland heute eine CO₂-freie Stromproduktion haben könnte, wenn das Land ab 2002 die Kernkraft weiter ausgebaut hätte, statt sie schrittweise aufzugeben.
Dass die Panik wegen Reaktorunglücken schlimmer sein kann als die dabei freigesetzte Strahlung, ist auch von den Evakuationen nach dem japanischen Unfall von Fukushima 2011 bekannt. Hier wurden nach dem Ereignis weit über 100’000 Anwohner in Sicherheit gebracht und umgesiedelt. Der dadurch ausgelöste Stress hatte tödliche Folgen: Gemäss wissenschaftlichen Erhebungen überlebten etwa 600 vorwiegend alte und geschwächte Menschen die Evakuierung nicht. Sie starben an medizinischer Unterversorgung oder Erschöpfung. Damit war die Umsiedlung ziemlich sicher tödlicher als die Gefahren durch die Strahlung, die man dadurch abwenden wollte.