Am Bedarf vorbei – Negative Strompreise – die Deformation des Marktes

Warum wird etwas produziert, wenn es absehbar kostenpflichtig entsorgt werden muss? Das ist höchst unvernünftig, aber inzwischen gelebte Praxis bei der deutschen Stromwende.

 

Von Frank Hennig

Bis zum 6. Juli dieses Jahres fielen an der Strombörse 303 Stunden mit negativen Preisen an, im ganzen Jahr 2023 waren es 325. Während die steigende Produktion von Ökostrom regelmäßig gefeiert wird, finden sich diese Zahlen in den sogenannten Qualitätsmedien nicht. In der Ökobranche wird der Eindruck erweckt, das sei ganz normales Marktgeschehen. Folgerichtig ist diese Reaktion auf das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, aber die dazu führenden Ursachen sind speziell und deutschnational, auch wenn die negativen Preise für Strom inzwischen zeitweise auch in Länder wie Holland und Belgien überschwappen.

Im Grunde ist es eine Deformation von Marktwirtschaft und nur möglich in einem System, in dem Produktion nicht mehr dem Bedarf folgt, sondern einem inzwischen fast unüberschaubarem System, das aus Verboten, Subventionierungen und kleinteiligen Markteingriffen besteht. Jeder Produzent, der Ware absehbar nicht absetzen kann, drosselt die Produktion oder stellt sie ein, notfalls wird Ware im Preis gesenkt oder verschenkt. Kein Bäcker kann Brötchen verschenken und den Abnehmern Geld dazu geben, das ihm nicht gehört, und dann einen garantierten Brötchenpreis vom Staat empfangen. Anders ist es bei Ökostromproduzenten, die permanent am Markt vorbei produzieren, ohne jeden Verlust, denn der Staat garantiert den Gewinn.

Eine gewisse Anzahl konventioneller Kraftwerke muss auch bei grüner Überproduktion weiterlaufen, sie liefern die Systemdienstleistungen (Frequenzhaltung, Spannungshaltung), sie müssen sekündlich die Schwankungen des naturbelassenen und unbehandelten Ökostroms ausbügeln.

Dies ist keineswegs eine vorübergehende Erscheinung. Mit dem weiteren exzessiven Ausbau der Photovoltaik (PV) nehmen die Erzeugungsschwankungen über den Tag in den hellen Monaten drastisch zu. Überangebot über die Mittagszeit und oftmals Notexport zu negativen Preisen kippt zum Sonnenuntergang in den Import zu deutlich positiven Preisen. Auch die vermehrt eingebauten Heimspeicher helfen dem System wenig. In den Abendstunden entlasten sie das Netz, am späten Vormittag des Folgetages jedoch, wenn sie wieder gefüllt sind, speisen die dazugehörigen PV-Anlagen wieder direkt ins Netz und führen zu einem schnellen Anstieg des PV-Strom-Anteils.

Die einheimischen Stromkunden haben von niedrigen oder negativen Börsenpreisen nichts, sie zahlen weiter nach ihrem Tarif. Nur Großkunden, die direkt an der Börse kaufen, können einen Vorteil haben. Sie können aber auch einen großen Nachteil haben.

Hopp oder top?

Denn es lauert auch ein Risiko. In den Morgenstunden des 26. Juni zwischen 6 und 7 Uhr lag der Börsenstrompreis bei 2.330 Euro pro Megawattstunde beziehungsweise 233 Cent pro Kilowattstunde. Ursache war ein technischer Fehler an der Börse am 25. Juni, der zu einer verzerrten Preisfindung bei den Day-ahead-Auktionen für den Folgetag führte. Es kam zum Decoupling, zur Entkopplung der nationalen Märkte, sodass kein grenzüberschreitender Handel durchgeführt werden konnte. Es trat de facto eine Situation ohne Ex- und Importe ein, bei der jedes Land auf sich gestellt war. In Frankreich fiel der Großhandelspreis auf 3 Cent pro Kilowattstunde. Für Deutschland war die Lage sehr ungünstig, in diesen frühen Morgenstunden lieferten die PV-Anlagen noch wenig, der Bedarf am Beginn eines Werktages indessen war hoch. So trieb die Mobilisierung aller Reserven den Preis. Schlagartig wurde klar, dass wir auf uns allein gestellt und ohne Stromimporte auf Dauer ein Desaster erleiden würden. Es zeigt auch, dass der bloße Zubau volatiler Stromeinspeiser und die Abwesenheit systemischen Denkens ein hohes Risiko haben entstehen lassen.

Das Stahlwerk Feralpi in Riesa, das seinen Strom offenbar zum großen Teil direkt auf dem Spot-Markt der Börse kauft, fuhr die Produktion komplett herunter, um desaströse Verluste zu vermeiden.

Ab 2025 sollen preisvariable, vom Börsenpreis abhängige Tarife auch für Haushaltskunden eingeführt werden. Das kann zu einer Glättung des Verbrauchs führen, wenn Kunden ihre stromintensiven Haushaltsgeräte preisabhängig betreiben. Wer aber nicht aufpasst, zahlt schnell drauf. Man kann sich vorstellen, was der weitere starke Ausbau der PV in dieser Hinsicht bringt: Stromproduktion meist am Bedarf vorbei und stark schwankende, insgesamt steigende Preise.

Die Nachbarländer machen mit den von uns verursachten negativen Preisen glänzende Geschäfte. Insbesondere die Betreiber von Pumpspeicherwerken (PSW) verdienen zweimal. Sie bekommen Geld dafür, Wasser den Berg hochzupumpen und nochmals, wenn sie nach Sonnenuntergang das Wasser zu Tal fließen lassen und im Turbinenbetrieb den Strom zu deutlich positiven Preisen zurückverkaufen. Wenn die Oberbecken voll sind und der negative Preis anhält, kann das Wasser auch über den Bypass nutzlos abgelassen und damit Geld verdient werden. Die Eigentümer sind oft Aktiengesellschaften und zu Gewinn verpflichtet.

Ähnlich handeln Konzerne, die direkt an der Börse den Strom kaufen. Auch sie werden animiert, nicht benötigte Anlagen einfach laufen zu lassen, um Strom zu verbrauchen und damit Geld zu verdienen. Das ist an ökonomischer wie ökologischer Perversion kaum zu überbieten.

Zur Kasse, bitte

Die Anlagenbetreiber, die den überflüssigen Strom, den man auch Strommüll nennen kann, erzeugen, verdienen ungerührt weiter. Wo kommt das Geld dafür her, wenn das Produkt auch noch kostenpflichtig entsorgt werden muss? Zum einen entstammt es der inzwischen steuerfinanzierten EEG-Umlage, die in der Höhe jeweils für 20 Jahre garantiert ist. Die Umlage für die Windkraft musste 2023 wieder auf 7,35 Cent pro Kilowattstunde angehoben werden, weil es zu wenige Bieter in den Ausschreibungsverfahren gab. Diese Vergütung steigt, wenn die Anlagen in Regionen niedriger Windgeschwindigkeit gebaut werden („Referenzertragsmodell“).

Das ist volkswirtschaftlich schädlich und Folge des Politikansatzes „… egal, was es kostet“. Diese Geldsumme aus Steuermitteln fällt in diesem Jahr höher aus als die vorgeschauten zirka 12 Milliarden Euro. Etwa 8 Milliarden Euro müssen aus dem klammen Haushalt zusätzlich mobilisiert werden. Das ins Ausland zusätzlich verschenkte Geld wird über die Netzentgelte von den Stromkunden abkassiert. Eingedenk der These, wir seien ein reiches Land und jeder könne noch etwas abgeben, resultiert daraus keinerlei mediale Erregung.

Ursache dieser Verwerfung ist die anarchische Regelung aus dem Ur-EEG (Erneuerbare-Energien-Gesetz) des Jahres 2000, die immer noch Bestand hat, wonach der Ökostrom immer abgenommen werden muss. Ist dies aus Gründen von Netzrestriktionen nicht möglich, werden die Betreiber für den sogenannten Phantomstrom, den technisch nicht ableitbaren, aber theoretisch erzeugbaren Strom, entschädigt. Auch dieses Geld wird über die Netzentgelte von den Kunden eingezogen.

Die EEG-Umlage, seinerzeit als Prämie für die Technologieeinführung gedacht, hat sich inzwischen verstetigt, sie wird uns dauerhaft erhalten bleiben. Grund ist die Selbstkannibalisierung der „Erneuerbaren“ aufgrund der Vielzahl der Anlagen. Weht viel Wind oder scheint gut die Sonne – oder beides – rauschen die Marktpreise in den Keller und sind so niedrig (oder negativ), dass die Betriebskosten nicht über den Marktpreis eingespielt werden können. Natürlich sind auf diese Weise „100-Prozent-Erneuerbar“ niemals möglich, aber das Interesse staatlichen Handelns gilt zunächst dem Wohlergehen der Erneuerbaren-Branche.

Ohne EEG-Umlage, Einspeisevorrang, kostenlosem Netzanschluss und die Vergütung von Phantomstrom würde in Deutschland kein Investor mehr auch nur ein einziges Windrad bauen.

Interessengeleitete Politik

Seitens der Regierung gab es bereits eine Mini-Reaktion auf negative Preise in Form einer EEG-Änderung von 2021, wonach Windkraftanlagen (nur Neuanlagen) nach sechs Stunden negativer Börsenpreise keine Umlage mehr erhalten. Die Branche war ob dieses eher kosmetischen Eingriffs not amused, obwohl nur Neuanlagen betroffen waren und viele Zeiträume negativer Preise kürzer als sechs Stunden sind. Man wurde auch kreativ und empfahl den betroffenen Betreibern, ihre Anlagen nach fünf Stunden selbst abzuschalten. Beim Wiederzuschalten beginnt die Sechs-Stunden-Frist von vorn.

Im Ergebnispapier der heldenhaft geführten Haushaltsverhandlungen der Ampel vom 5. Juli finden sich zarte Ansätze, wie man gegen negative Preise vorgehen könnte. Ab 2025 sollen Neuanlagen bei negativen Preisen keine Umlage mehr erhalten. Erwartbar die Reaktion des Bundesverbandes Erneuerbare Energie (BEE). Man befürwortet zwar die Maßnahmen insgesamt und fordert die „beherzte“ Umsetzung, warnt aber gleichzeitig vor „Experimenten“ und einem „harten Instrumentenwechsel“. Die geplante Abschaltung bei negativen Preisen sei ein „fatales Zeichen“. So spricht man gern wolkig und emotional, weil die Sachargumente schwach und die finanziellen Interessen groß sind.

Im Ergebnispapier sind einige Formulierungen zu finden, die sprachlos machen. Der weitere Ausbau der „Erneuerbaren“ sei zentrale Voraussetzung für langfristig bezahlbare, sichere und treibhausgasneutrale Energie. Dass seit mehr als 20 Jahren die Preise mit dem weiteren Ausbau der „Erneuerbaren“ steigen und wir immer mehr fossile Kraftwerke als Reserve vorhalten müssen, hat man offenbar nicht bemerkt. Eine leistungsfähige Wasserstoffwirtschaft sei zentraler Baustein für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Fakt ist, wir haben die Wasserstoffwirtschaft nicht, wissen nicht, wann wir sie haben werden und wissen auch nicht, was sie kosten wird.

Als Erklärung kann wohl nur ein gehöriger Realitätsverlust innerhalb der politischen Berliner Blase angeführt werden. Je größer die Entfernung zu den Realitäten, umso größer die Illusionen. Die Illusionen von heute sind die Enttäuschungen von morgen. Dann werden wieder Schuldige gesucht, die man im Dickicht organisierter Verantwortungslosigkeit wie immer nicht finden wird.

Die Frage, wie viel Unwissenheit und wie viel Absicht zugunsten der „Erneuerbaren“-Lobby dahinterstecken, wird nie zu klären sein. Der Fachkräftemangel in der höchsten Ebene in Verbindung mit der Verquickung zu den politisch wie finanziell einflussreichen Lobbyisten bringt einen solchen Kurs hervor. Und so wird die Produktion überflüssigen Stroms weitergehen. Wir werden in diesem Jahr einen neuen Höchstwert an Stunden negativer Preise an der Börse sehen, in 2025 dann wieder einen neuen Rekord.

Der Begriff der Wende wird immer treffender. Wir wenden uns ab von einem bezahlbaren, sicheren, umweltfreundlichen und treibhausgasarmen Energiesystem. Die Fossilen werden uns nach dem Ausstieg aus der Kernkraft erhalten bleiben. Die Welt sieht uns verwundert zu und keiner folgt uns.

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