Grünes Schrumpfen – die große Endzeitbeschleunigung
Eine kurze Geschichte
Das „grüne Schrumpfen“ und Rationierung sei nötig, um den Klimakollaps noch zu verhindern – diese Ideologie findet in Deutschland eifrige Fürsprecher. Ihre historischen Wurzeln reichen allerdings weit vor das Klimathema zurück. Die Überschriften der Apokalypse lauteten damals anders. Die Rettungsvorschläge blieben gleich – genauso wie die Figur des „guten Hirten“.
Von Alexander Wendt
Im Juli 2021 erschien in der taz ein Streitgespräch zwischen zwei Kontrahenten, die heute beide deutlich mehr Bekanntheit genießen als damals.Es handelte sich, wie bei den meisten formatierten Diskussionen in Deutschland, nicht um ein Gespräch unter Antipoden, sondern ziemlich Gleichgesinnten, die damals nur über den Weg zu einer, wie sie beide sagten, klimagerechten Gesellschaft konferierten. Auf der einen Seite argumentierte die taz-Wirtschaftsredakteurin Ulrike Herrmann, heute eine der bekanntesten Predigerinnen der autoritären Schrumpfungslehre. Auf der anderen Patrick Graichen, damals noch Chef der „Agora Energiewende“. Die innergrüne Debatte fand damals gewissermaßen hinter einem Vorhang statt, gedacht nur für das eigene Milieu. Ihre öffentliche Resonanz hielt sich damals in Grenzen. Deshalb sollte sie noch einmal aus dem Archiv ins Licht.
In dem Gespräch erledigt Herrmann eine Beruhigungsformel der Transformationsingenieure nach der anderen. Gleich am Anfang widerspricht sie der Behauptung, gerade der Verzicht auf fossile und nukleare Energieerzeugung, die Umstellung von Verkehr und Heizung auf Strom und der Industrie auf Wasserstoff setze neues Wachstum frei. „Grünes Wachstum“, so Herrmanns Befund, „ist nicht möglich“.
Sie rechnet auch vor, dass eine ausschließliche Energieerzeugung aus Wind, Sonne und Pflanzengas nicht zu der Industriegesellschaft passt, die in Deutschland noch existiert: „Wenn wir bis 2045 oder gar 2035 klimaneutral sein wollen, bleibt sehr wenig Zeit. Heute liegt der Anteil der Erneuerbaren am gesamten Energieverbrauch bei etwa 17 Prozent. Es ist völlig unklar, wie das in 30 Jahren auf 100 Prozent steigen soll.“
Graichen hält dagegen, das ginge durch „die Halbierung des Gesamtenergieverbrauchs“ sehr wohl. Was wiederum überhaupt nicht zu den Plänen der Gesamtelektrifizierung passt, an denen er später als Staatssekretär unter Robert Habeck arbeitete. Laut Habeck soll die deutsche Stromerzeugung von derzeit etwa 550 Terawattstunden bis 2030 auf etwa 750 Terawattstunden steigen. Das müsste sie auch, um den Strom für all die Wärmepumpen, Elektroautos und vor allem Wasserstofferzeugungsanlagen herzustellen. In seiner Argumentation widerspricht der Agora-Vertreter anderen Denkfiguren, die aus der gleichen ideologischen Produktion kommen. Und das nicht nur einmal. In einem Fall weist er sogar selbst auf eine erhebliche Lücke zwischen Plan und Wirklichkeit hin. „Die eigentliche Herausforderung“, meint er, „ist der Gebäudesektor, denn da muss der Energiebedarf wirklich halbiert werden. Und bisher ist noch nicht geklärt, wo all die Handwerker dafür herkommen sollen.“
Eine plausible Antwort bietet er nicht. Nach seinem vorübergehenden Wechsel in die Bundesregierung stellte er bekanntlich auch die Frage nicht mehr.
Als nächstes räumt Herrmann in dem Gespräch die Dauerwerbebehauptung beiseite, Wind- und Solarenergie wären im Vergleich zu allen anderen Erzeugungsarten unschlagbar günstig. „Man würde“, meint die taz-Mitarbeiterin zu Graichens Vorstellung von einer fantastischen Effizienzsteigerung, „dann damit nur die jetzige Produktion energieeffizienter angehen, das ist noch kein grünes Wachstum. Erneuerbare Energien sind außerdem teurer als die jetzige fossile Energie. Und der Kapitalismus braucht dringend billige Energie für sein Wirtschaftswachstum.“ Und weiter: „Aus meiner Sicht ist Energie alles. Ohne billige Energie hätte es den Kapitalismus nicht gegeben. Und Wachstum ohne billige Energie ist nicht möglich. […] Das Problem ist die Speicherung der Ökoenergie. Die Industriegesellschaft kann nicht stillstehen, sobald kein Wind weht und die Sonne nicht scheint. Mindestens zweimal im Jahr produzieren Wind- und Solarenergie mindestens zwei Tage lang fast gar nichts.“
Ressourcen sind im Westen und inzwischen fast weltweit nicht wirklich billig. Aber Herrmann trifft mit ihrer Feststellung den wesentlichen Punkt, dass die Höhe des Energiepreises darüber entscheidet, ob ein Land seinen Wohlstand halten kann. Und für andere Regionen, ob sie es schaffen, der Armut zu entkommen.
Herrmanns bemerkenswerter Schluss – und zwar der, der sich von der Argumentationsoberfläche grüner Regierungspolitik am deutlichsten unterscheidet – läuft darauf hinaus, dass eine westliche Bevölkerung unter den Bedingungen von Wahlen und freien Entscheidungen ein schrumpfungs- und Verarmungsprogramm nicht freiwillig mitmachen würde. „Niemand“, so ihre Argumentation, „sitzt in der Uckermark, wenn er nach Mallorca kann. Wenn man aber kein Energiegeld zahlt, können ärmere Leute nicht mehr fliegen – während es sich Reiche mühelos leisten können. Diese Ungerechtigkeit wäre in einer Demokratie nicht durchzuhalten: Wer nicht mehr fliegen darf, ist morgen bei der AfD. Bleibt also nur die Rationierung. Jeder bekommt einen Flug zugeteilt. Auch andere knappe Güter wird man rationieren müssen. So wird sich die Frage stellen, wer noch Auto fahren darf.“ Es wären ganz nebenbei noch ein paar andere Möglichkeiten nötig, etwa eine Art proklimatischer Schutzwall, der verhindert, dass Bürger und damit Steuerzahler massenhaft dorthin auswandern, wo eine Regierung sie nicht unter Totalkontrolle stellt. Graichens Handwerkerproblem würde sich damit erheblich verschärfen.
Natürlich wäre Herrmanns Gesellschaft eine Diktatur, noch nicht einmal eine weiche, sondern eine Ordnung, die sogar noch tiefer in das Privatleben jedes Einzelnen eingreift als die untergegangene Herrschaftsform im Ostblock. Anders als dort stünde auch kein gehaltloses Wohlstandsversprechen am Anfang, sondern gleich die Ankündigung von Enteignung, Überwachung und Strafe. Die in Deutschland und anderswo seit Generationen auftretende Figur des „guten Hirten“ (Karl Heinz Bohrer) mäße in Zukunft also den in Heloten verwandelten Bürgern jedes einzelne Gebrauchsgut zu. In dieser Welt müssten Helfer des Hirten natürlich mit dem CO2-Argument auch jeden Schwarzmarkt verfolgen, jede Schwarzheizung und jedes illegale Huhn auf dem Balkon. Aber bei aller Menschenfeindlichkeit lässt sich nicht abstreiten, dass Herrmann ein wirklich stringentes Modell entwirft, anders als Graichen, der den Staat zwar zum gleichen Endzweck umbauen möchte wie sie, bei Weg und Mitteln dorthin aber vage und widersprüchlich bleibt.
In ihrem Buch „Das Ende des Kapitalismus“ geht Herrmann ins Detail, beispielsweise, indem sie einen Einheitsspeiseplan entwirft, der „500 Gramm Obst und Gemüse, 232 Gramm Vollkorngetreide oder Reis, 13 Gramm Eier und 7 Gramm Schwein“ vorsieht. „Auf den ersten Blick“, schreibt sie, „mag dieser Speisezettel etwas mager wirken, aber die Deutschen wären viel gesünder, wenn sie ihre Essgewohnheiten umstellten. Rationierung klingt unschön. Aber vielleicht wäre das Leben sogar angenehmer als heute, denn Gerechtigkeit macht glücklich.“
Für Selbstgerechtigkeit trifft das auf jeden Fall zu, wie jedes Porträtfoto der taz-Autorin beweist.
In den siebziger und achtziger Jahren begründeten die westdeutschen Linken ihren Kampf gegen die Atomenergie mit dem Argument, die Kernkraftwerke mit Endlagern und dem nötigen Sicherheitsapparat führten zwangsläufig in den ‚Atomstaat‘ und damit zum Ende der Demokratie. Bekanntlich transformierte die Nukleartechnik weder Deutschland, Frankreich, Finnland noch andere Staaten in eine technokratische Diktatur. Die historische Pointe liegt darin, dass gerade ein Staat ohne Kernkraft, fossile Kraftwerke, Kraftstoffe und deshalb ohne ausreichend Energie sehr viel wahrscheinlicher auf genau diese Rutschbahn gerät, die im rationierten Glück durch Armut endet.
Auffälligerweise stehen die Kapitalismusverächter und Ressourcenzuteiler untereinander im harten Wettbewerb um Auflagen und Talkshowpräsenz. Neben Herrmann wirbt die Schrumpfpredigerin Maja Göpel für eine neue Ordnung durch Umverteilung; auf dem evangelischen Kirchentag ruft Heinrich Bedford-Strohm zur „schöpfungsgerechten Fortbewegung“ auf, wobei er vermutlich nicht seinen früheren Dienstwagen meint, einen BMW Plug-in Hybrid 745Le Drive, Listenpreis 106400 Euro. Jedenfalls nicht für alle. Entsprechende Verzichtsermahnungen gibt es bekanntlich auch in einer Art Dauerschleife von den öffentlich-rechtlichen Anstalten, die, ganz nebenbei, ab 2025 einen deutlich höheren Rundfunkbeitrag fordern.
Wenn eine Bewegung zwar bis jetzt noch keine Breite in der Bevölkerung gewinnt, aber sehr deutlich an Macht, dann rückt nach der Zustandsbeschreibung die Frage in den Mittelpunkt, wo die Wurzeln ihrer Ideologie liegen. So viel vorab: Sie reichen weit hinter die Klimadebatte zurück, sogar weit hinter den Club of Rome. In einer Hinsicht arbeiten Herrmann, Göpel und andere wirklich ressourcenschonend. Denn buchstäblich nicht ein Komma von dem, was sie vortragen, ist neu. Sie hantieren ausschließlich mit wiederaufbereiteter, bestenfalls neu abgemischter Importware, die nach 1945 entstand, und zwar fast ausschließlich in den Vereinigten Staaten.
Warum markiert gerade die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg den Beginn einer Denkschule, die Pascal Bruckner viele Jahrzehnte später – in kritischer Absicht wohlgemerkt – mit „sauver la terre, punir l’homme“ zusammenfasste, ‚die Erde retten, den Menschen bestrafen‘?
In der Wirtschaftsgeschichte gelten die Jahre zwischen 1914 und 1945 als Phase der großen globalen Unterbrechung. Nach dem steilen Produktivitätsanstieg ab 1880 flachte sich die Wachstumskurve bei Konsum, Ressourcenverbrauch und vielen anderen Kennzahlen in den Industrieländern in dieser Zeit von zwei Weltkriegen, Spanischer Grippe und Depression deutlich ab. Die Rüstungsindustrien stießen zwar bis dahin unvorstellbare Gütermengen aus, allerdings bestimmt zur möglichst schnellen wechselseitigen Vernichtung. Als nach 1945 die aufgebauten Industriekapazitäten für das zivile Leben produzierten, schoss das globale Sozialprodukt, der Konsum, der Energie- Wasser und Düngerverbrauch und das Bevölkerungswachstum steil in die Höhe. Das vor allem in den Industriestaaten, aber auch, wenn auch in sehr viel bescheidenerem Maß, in früher abhängigen Großregionen wie Indien. In dem Phänomen, das Umwelthistoriker später „The Great Acceleration“ nennen sollten, die ‚Große Beschleunigung‘, sah eine ganze Reihe von Theoretikern eine katastrophale Fehlentwicklung. Die Wohlstandszunahme in ihren westlichen Ländern machte ihnen Sorge, noch mehr aber die Aussicht, dass sich auch für ehemals unterworfene Länder die Chance öffnete, der Armut zu entkommen.
Als einer der ersten aus dieser Intellektuellenriege verfasste der amerikanische Umwelttheoretiker William Vogt 1948 das Manifest „Road to Survival“ („Der Weg des Überlebens“), in dem er den Untergang der Zivilisation vorhersagte, sollte es nicht gelingen, Bevölkerungs- und Wohlstandswachstum durch entschiedene Eingriffe zu bremsen. Und das nicht überall, sondern zunächst erst einmal dort, wo sich erste zarte Spuren des Armutsrückgangs zeigten. Vogt warf dem britischen Kolonialregime vor, die Lebensbedingungen auf dem indischen Subkontinent in unverantwortlicher Weise verbessert zu haben. „Vor der Pax Britannica“, schrieb er, „zählte Indien eine Bevölkerungszahl von weniger als 100 Millionen Menschen. Die Bevölkerungszahl wurde in Balance gehalten durch Krankheit, Hungersnot, Gewaltsame Auseinandersetzungen. In bemerkenswert kurzer Zeit gelang es den Briten, den gewaltsamen Auseinandersetzungen ein Ende zu setzen, Hungersnöte erheblich zu reduzieren, indem Bewässerungssysteme gebaut, Vorratsspeicher angelegt und Nahrungsmittel in schwerer Zeit importiert wurden. Während wirtschaftliche Konditionen und Hygieneverhältnisse verbessert wurden, blieben die Inder bei ihren Gewohnheiten und vermehrten sich mit der Verantwortungslosigkeit des Kabeljaus.“
In seinem enorm einflussreichen und vielfach übersetzten Buch stellte Vogt also nicht die zivilisatorischen Errungenschaften in den USA und anderswo im Westen in Frage. Er fand nur, dass außerhalb dieser Zone radikal schlechtere Bedingungen herrschen sollten. Anders sei es nicht möglich, das natürliche Gleichgewicht zu erhalten. Es ging nicht darum, um Pascal Bruckners Wort zu bemühen, alle Menschen zu bestrafen, sondern nur bestimmte, denen Vogt und kurze Zeit später andere Vordenker einen geringeren Wert zumaßen als ihnen selbst. Bei Willam Vogt handelte es sich um einen Pionier dieser Denkschule. Zum intellektuellen Star stieg etwas später der Biologe Paul Ehrlich mit seinem Buch „The Population Bomb“ („Die Bevölkerungsbombe“) auf, 1968 herausgegeben und mit einem starken Echo versehen durch den einflussreichen Sierra Club unter seinem damaligen Präsidenten David Brower. In dem Doomsday-Stil, der Jahrzehnte später auch die Klimadebatte bestimmen sollte, stellte Ehrlich fest, „die Schlacht, die gesamte Menschheit zu ernähren“, sei schon verloren. Es könnte nur noch um Notprogramme gehen, um das Allerschlimmste zu verhindern. Sein Rettungsvorschlag sah eine strikte Kontrolle des Bevölkerungs- und Wirtschaftswachswachstums durch Aufsicht, Verteilung und Rationierung vor. In seinem Buch und seinen späteren Äußerungen nahm er nicht nur die Entwicklungsländer in den Blick, sondern auch den Westen selbst.
Der Sierra Club, 1892 von John Muir als Naturschutzorganisation gegründet, wandelte sich vor allem unter Brower zu einer Organisation, die sich mehr und mehr der Gesellschaftspolitik widmete. Sie wand sich in seiner Amtszeit grundsätzlich gegen Kernkraft (später auch gegen größere Wasserkraftanlagen, gegen Fracking, gegen Kohleverstromung sowieso). Heute handelt es sich bei dem Sierra Club um ein politisch-wirtschaftliches Konglomerat; er vertreibt Solaranlagen, unterhält eine eigene Geldsammelorganisation zugunsten von Bewerbern der demokratischen Partei und konzentriert sich auf Wachstumskritik. Umweltschutz spielt eher aus Traditionsgründen noch eine kleinere Rolle. In seiner Entwicklung steht er idealtypisch für ein Muster, das sich so ähnlich fast überall in der westlichen Degrowth-Ideologie zeigt: Angehörige der (weißen) Ober- und Mittelschicht machen sich Gedanken darüber, wie sich Ärmere unter Berufung auf die Natur am besten vom Wohlstand fernhalten lassen.
Paul Ehrlich und ein anderer von David Brower unterstützter Theoretiker, der Autor und Physiker Amory Lovins kamen schon in den siebziger Jahren zu dem Schluss, den Ulrike Herrmann Jahrzehnte später nur wiederholte: dass Energie die Schlüsselrolle für eine Politik der Wachstumsbremsung spielt. Lovins entwickelte das Konzept des „soft path“, des „weichen Wegs“, für den er nur Solar- und Windenergie als zulässig erachtete – was faktisch, da er nie darlegte, wie die nötigen Energiemengen bei wetterabhängiger Erzeugung gespeichert werden sollten, auf die Vorstellung eine Niedrigenergiegesellschaft hinauslief. Den engen Zusammenhang zwischen einem knappen und nicht zu günstigen Energieangebot und einer Wohlstandsbegrenzung stellten beide selbst ausdrücklich her. „Es wäre fast schon desaströs“, so Lovins, „wenn wir eine billige, saubere, ausgiebige Energiequelle fänden, wenn man sich nur vorstellt, was wir damit anstellen würden.“ In “An Ecologist‘s Perspective on Nuclear Power“ schrieb Ehrlich 1975: „Die Menschen mit billigem Strom im Überfluss zu versorgen wäre tatsächlich so, als drückte man einem dummen Kind ein Maschinengewehr in die Hand.“ Nirgendwo außerhalb der USA erfuhr Lovins eine größere Anerkennung als in Deutschland, wo er 2016 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse erhielt, und zwar mit der ausdrücklichen Würdigung, er habe das intellektuelle Fundament für die deutsche Energiewende gelegt. Das trifft auch zu. Kein anderes Industrieland der Welt folgte bisher seiner Empfehlung, eine Volkswirtschaft nur auf Solar- und Windenergie umzustellen.
Ganz allmählich verschob sich die Begründung dafür, warum Wohlstand im Interesse höherer Ziele so dringend begrenzt werden mussten. Als Ehrlichs „Bevölkerungsbombe“ 1968 erschien, bremste Chinas Führung schon nach und nach das Bevölkerungswachstum mit ihrer Zweikind-Politik. In den westlichen Ländern ging die Geburtenraten nach Einführung der Pille zurück. Die eben noch als unausweichlich beschriebene Überbevölkerungskatastrophe rückte also allmählich aus dem Zentrum des apokalyptischen Denkens, um Platz für eine mit ganz ähnlicher Rhetorik beschworenen neue Endzeitvorstellung zu schaffen, dem bevorstehenden Ende fast aller natürlicher Ressourcen. Diese Idee hob der „Club of Rome“ ab 1972 auf die internationale Debattenbühne. Nach den damaligen Berechnungen, durchgeführt vom MIT (Massachusetts Institute of Technology), würden die Goldvorräte höchstens bis 1981 reichen, Quecksilber bis 1985, 1992 das letzte Fass Erdöl gefördert, 1994 unweigerlich der letzte Kubikmeter Gas, 1993 das letzte Kilo Kupfererz.
Die Rezepte dagegen glichen grundsätzlich denen gegen die Bevölkerungsbombe, nämlich Kontrolle, Wohlstandsbegrenzung, außerdem, und das noch ausgeprägter als bei Ehrlich, Rationierung und Verteilung durch eine Elite, die am besten wusste, wem weltweit wieviel Rohstoffe zustanden. Als sich sämtliche Voraussagen vom schnellen Ende der Rohstoffe als falsch herausstellten, stieg ab den neunziger Jahren die dritte große Endzeiterzählung im „Zeitalter der Beschleunigung“ auf: die Lehre vom unmittelbar bevorstehenden Klimakollaps durch Kohlendioxidemissionen. Die Maßnahmen lauteten auch hier: möglichst strenge Gesellschaftslenkung, Wachstums- und Wohlstandsrestriktionen. Je weiter sich das Denkgebäude entwickelte, desto lauter erhob sich die generelle Forderung, den Kapitalismus als Kern des Übels abzuschaffen, wenigstens aber den Schwellenländern nicht den gleichen Zugang zum Wohlstand zu erlauben. Hier führt ein sehr direkter Weg vom Brundtland-Report der Vereinten Nationen von 1987, der die Kernkraft für Entwicklungsländer als riskant und problematisch beschrieb, bis zu dem Auftritt von Luisa Neubauer, die am Rand der Klimakonferenz in Ägypten 2022 auf den EU-Kommissar Frans Timmermans einredete, um ihn davon zu überzeugen, Gasförderungsprojekte in Afrika zu verhindern.
Erst mit dem Rückblick auf den Ausgangspunkt der „Großen Beschleunigung“ – also die Zeit um 1945 bis 1950 – zeigt sich ein spätestens seit den Endsechzigern Denkmuster, bei denen die Überschriften wechseln, der Text darunter aber weitgehend konstant bleibt. Immer stellen westliche Technokraten und Intellektuelle aus der Mittel- und Oberschicht die Diagnose, immer steht die globale Katastrophe unmittelbar bevor und die Uhr deshalb fünf Sekunden vor zwölf. Immer lässt die Beweisführung keinen Platz für den geringsten Zweifel, jedes Mal konnte es sich bei denjenigen, die sich dem Ratschluss nicht bedingungslos unterwerfen, nur um Ignoranten und Böswillige handeln. Und spätestens seit den Siebzigern lautet der alternativlose Rat Lenkung, Planung, Rationierung, Zuteilung von Lebenschancen. Die darunterliegende Grundüberzeugung lässt sich am besten als Misstrauen gegen das selbständige Individuum beschreiben. Menschen sind demnach nicht zur Freiheit begabt; bekommen sie zu viel davon – und dieser Punkt ist schnell erreicht – dann richten sie damit nur Schaden an. Zu ihrem eigenen Besten bedürfen sie deshalb der Aufsicht durch die guten Hirten, die über bessere Einsichten verfügen als der Rest.
Zu der Begriffsprägung „Große Beschleunigung“ kam es übrigens ziemlich spät und retrospektiv auf der öffentlich nur wenig wahrgenommenen Dahlem-Konferenz zur „History of Human-Environmental Relationship“ 2005. Der Umwelthistoriker Will Steffen, einer der prägenden Figuren dieser Konferenz, schrieb später, die Wortschöpfung sei ein bewusster Rückgriff auf das Werk „The Great Transformation“ des Ökonomen Karl Polanyi von 1944 gewesen (auch diese Formel erfuhr also durch Klaus Schwab mindestens ihre Drittverwertung). Polanyi stellt darin dem Kapitalismus eine ungünstige Prognose, da er die Ungleichheit verstärke und schließlich in seinen Konflikten untergehen würde. Als Alternative empfahl er Wirtschaftslenkung jenseits des Marktes.
Zu keiner Zeit unternahmen diejenigen, die unter wechselnder Themenherrschaft eine Rettung der Welt vor den Menschen predigten – genauer: vor einer bestimmten Sorte Menschen – den Versuch einer gewissermaßen innerhumanen moralischen Begründung, warum bestimmten Ländern, Regionen und Personen weniger Lebenschancen zustehen sollten als anderen. Hier von einem blinden Fleck zu sprechen wäre untertrieben. Es handelt sich um ein blindes Zentrum im Inneren dieses Überzeugungssystems. Genauso wenig bemühen sich seine derzeitigen Verfechter, den Widerspruch zwischen einer Rationierungsgesellschaft nach dem Muster von Herrmann und den migrationspolitischen Vorstellungen aufzulösen, die in diesem politischen Milieu gleich in der Nachbarschaft siedeln. Denn die Präambel der Herrmannschen Zuteilungsgesellschaft kann nur lauten: Es gibt schon für diejenigen, die jetzt hier leben, nur sehr, sehr wenig Platz und Güter. Das Thema des Bevölkerungszuwachses in Afrika spricht auch keine Luisa Neubauer an, denn erst hier und nicht schon bei der Agitation gegen Gasförderung in Senegal zieht ihr das antirassistische Dogma die rote Linie. Nichts spaltete übrigens schon vor Jahrzehnten die Mitglieder des Sierra Clubs so sehr wie die Frage der Einwanderung in die USA.
Bei der Vorstellung, die Gesellschaft müsste zur Rettung der Natur von wissenden Hirten geleitet werden, handelt es sich um eine radikale Ungleichheitslehre und das seit ihren Ursprüngen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die große Rechtfertigung von der Weltrettung durch Wohlstandsverzicht ganzer Weltregionen spiegelt sich im Kleinen der westlichen Gesellschaften maßstabgetreu wider. Ob nun Luisa Neubauer, die in ihrem Leben mehr Flugmeilen zurücklegte als fünf Arbeiterfamilien zusammen, ob die Fernsehfigur Joko Winterscheidt, bisher vor allem mit PS-starken Autos, Hubschraubern und ähnlich CO2-intensivem Gerät auf Sendung, die jetzt gerade eine Klimarettungsserie produziert – selbstredend wieder mit reichlich Flugverkehr – ob Robert Habeck, wöchentlich unterwegs mit Dienstlimousine und Helikopter zur Einweihung eines Windparks und zwischendurch mit dem Kleinflugzeug nach Davos, um dort neue „Freiräume durch Nachdenklichkeit“ (Jürgen Kaube) zu eröffnen – fast jeder gute Hirt zeichnet sich durch einen ums vielfache größeren Kohlendioxidfußabdruck aus als diejenigen, die sie zur strengen Diät auffordern. In die Kategorie gehört auch der FAZ-Feuilletonautor, der am 10. Mai 2023 in einem Text über eben jene „Große Beschleunigung“ schrieb:
„Die universalisierte Figur des Spießers, der sich mit seinem kleinen Glück begnügt, und dem gewiss nichts ferner liegt, als die Welt zu verändern, könnte sich als die gefährlichste Spezies erweisen, welche die Erde in ihrer viereinhalb Milliarden Jahre langen Geschichte beheimaten sollte.“
Interessant daran wirkt vor allem, dass der Autor den von ihm verachteten Spießer, der für sich nur ein kleines Stück Wohlstand und Sicherheit wünscht, als eigene Spezies innerhalb der Menschheit anspricht. Aber das folgt nur konsequent aus der Haltung, anderen per Definition nicht die gleichen Glücks- und Artikulationschancen einzuräumen, die der FAZ-Redakteur selbst beansprucht. Er dürfte auch ahnen, dass sein Lebensstil mit Fernreisen und einem gehaltsangemessenen Konsum vermutlich mehr Ressourcen verbraucht und CO2 emittiert als der Spießer mit seinem Holzkohlegrill auf dem solarkraftwerkslosen Balkon. Wenn es einerseits so etwas wie ein blindes Zentrum in diesem Denken gibt, dann auch ein unausgesprochene, aber immer innerlich mitgesummtes Credo: Ich rechtfertige meinen Wohlstand, indem ich den von Ärmeren bekämpfe. Und das natürlich nicht aus kultureller Verachtung, sondern zur Rettung von Mutter Gaia.
Ulrike Herrmann fällt nicht nur durch ihre brutale Ehrlichkeit beim Entwurf des Rationierungsparadieses etwas aus dem Raster, sondern auch dadurch, dass sie sich tatsächlich nicht viel aus materiellen Dingen zu machen scheint. Ihr Speiseplan deutet auf ein entschieden antihedonistisches Naturell hin, gegen das es nichts einzuwenden gibt, solange sie es jemand anderem nicht aufzudrängen versucht.
Die beiden Doomsday-Varianten Bevölkerungsbombe und Rohstoffversiegen erschöpften sich als Thema, siehe oben, nach einiger Zeit. Sie verflüchtigten sich nicht völlig, bildeten aber nicht mehr die Überschrift für die Weltlenkungsphantasie, nachdem sie ihren Fünf-Sekunden-vor-Zwölf-Ruhm hatten. Auch dem Klimaendzeitglauben steht diese thematische Erschöpfung bevor. Nicht gleich morgen, aber was seine Parolen und Gesten angeht, befindet er sich etwa im letzten Viertel seiner Laufzeit. Ein neues Großproblem drängt schon langsam herauf, das der alternden Gesellschaften. Es betrifft nicht nur alle westlichen Länder ab spätestens 2030, sondern bald auch China. Selbstverständlich handelt es sich um ein schweres und ernsthaftes Problem. Das galt ja auch für die rapide Bevölkerungszunahme nach 1950, für den Umgang mit Rohstoffen. Und auch Klimaveränderungen können Länder und Regionen schwer und negativ treffen. Nur findet sich eben historisch kein einziges Beispiel, dass jemals eine technokratische Priesterkaste mit zentraler Lenkung, mit Rationierung, Technik- und Marktfeindlichkeit und verordneter Armut für andere etwas zum Besseren gewendet hätte.
Trotzdem stehen die Chancen gut, dass auch in der kommenden Demographiekrise der gleiche Typus des Hirten wieder auf die Podien klettern und verkünden wird, dass die Welt sich nur mit ihrem Großlenkungsplan und seinen immergleichen Instrumenten retten lässt.
Ihr Überzeugungssystem funktioniert deshalb so robust, weil es sich von vornherein nicht auf Erkenntnis, sondern auf Macht und Rechtfertigung richtet. Vor allem das Rechtfertigungsbedürfnis sollte niemand unterschätzen. Denn die Retter vor der Endzeitkatastrophe erleiden Zyklus für Zyklus gleich zwei narzisstische Kränkung. Einmal dadurch, dass ihre Prognosen immer wieder an der Wirklichkeit abprallen und ein anderes mal deshalb, weil eine Mehrheit der Bürger es zu allen Zeiten ablehnte, sich den guten Führern freiwillig zu unterwerfen.
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