Zukunft lernen heißt, vom Wissen der Entwicklungsländer lernen …

Helmut Kuntz

Diese, früher in einem inzwischen aufgelöstem Land in etwas abgewandelter Form stetig verkündete Lehrmeinung fiel dem Autor beim morgendlichen Lesen seines Tagesblättchens spontan ein. Mit einem großen Artikel „Elektro-Autos können das Stromnetz stabilisieren“ [1] wurde darüber informiert, dass der Netzbetreiber TenneT mittels einer bahnbrechenden Pilotierung belegen konnte, wie das in Entwicklungsländern schon lange bewährte Verfahren der zeitlichen Lastverlagerung verwendet werden kann, um Probleme auch in unserem hypermodernen Öko-Zappelstromnetz zu verringern.

Claudia Kemfert ist wirklich die geniale Energieprofessorin, für die Sie (allerdings nicht vom Autor) gehalten wird

Sie verkündet schon lange und praktisch ohne Unterlass, dass unser Stromnetz der Zukunft vollkommen problemlos, ja beispielhaft gut funktioniert, sofern das Stromnetz nur ausreichend intelligent ist und die Verbraucher geschult sind, auf eine veränderte Angebotsstruktur flexibel zu reagieren, was sich anhand Ihrer Simulationen auch leicht belegen ließe [4].

Lange Zeit wurde dies zumindest von kritischen Geistern eher kritisiert als befürwortet.
Doch gerade, als sich die Kritik an Frau Kemferts Theorien immer mehr zu bewahrheiten schien und Ihre Aussage „Speicher gäbe es noch und nöcher“ sarkastisch herumgereicht wird, ist dem Netzbetreiber TenneT in Zusammenarbeit mit einem Hersteller von „virtuellen Kraftwerken“ [2] der Beweis für die Richtigkeit von Frau Kemferts Theorien und Simulationen gelungen.

E-Autos können das Stromnetz stabilisieren [1]

Was TenneT und die Firma sonnen GmbH gemacht haben, um den noch fehlenden Meilenstein und damit Durchbruch für Frau Kemferts Theorien über hochintelligente Ökostrom-Versorgungsnetze zu bekommen ist genial: Mit elf Elektroautos wurde zwei Monate lang ein „intelligenter Ladevorgang“ im Bayerischen Netz getestet. So etwas soll es zwar in (noch) kleinerem Rahmen früher bereits gegeben haben. Aber neben der nun eben hohen E-Auto-Teilnehmerzahl ist zusätzlich neu, dass „es verschiedene Haushalte mit verschiedenen Fahrzeugtypen sind und dass sie in ihrem ganz normalen Alltag teilnehmen“ [1].

Und dieser „intelligenter Ladevorgang“ hat es in sich, ist gerade wegen seiner verblüffenden Einfachheit genial. Wohl deshalb scheint bisher noch niemand darauf gekommen zu sein:
TenneT: [3] … Verwendet werden dabei E-Autos mehrerer Hersteller in verschiedenen Haushalten der sonnenCommunity. Neben ihrer normalen Nutzung im Alltag werden die Autos nebenbei zum aktiven Teil des Stromnetzes: Erste Fahrzeuge sind im Netzgebiet von TenneT bereits in das sonnenVPP integriert und können so genannte Primär-Regelleistung (FCR) erbringen. Das bedeutet, dass die Speicherkapazität der E-Auto-Batterien innerhalb von 30 Sekunden flexibel regelbar für den Ausgleich von Laständerungen und damit einhergehenden Frequenzschwankungen im Stromnetz zur Verfügung stehen muss. Das wird allein über einen intelligenten Ladevorgang erreicht …

Die Primär-Regelleistung muss also gar nicht beidseitig durch lade-/entladefähige Ströme erfolgen, sondern es reicht, einfach nur laden, also dem Netz Energie entnehmen zu können, was bekanntermaßen eine originäre Eigenschaft von E-Autos ist.

Innovativ wird ein Problem zur Lösung gemacht

Wurde der künftige Strombedarf für die E-Autos bisher eher als ein Problem betrachtet, erkannte man nun, dass dieser ein Segen sein kann, sofern man das Laden neu denkt. Und das gelingt sogar ohne Einschränkungen für die Nutzung der Elektroautos:
[3] … Ladevorgang neu gedacht.
Der Hochlauf der Elektromobilität stellt bisher die Stabilität der Stromnetze vor eine Herausforderung, wenn zum Beispiel viele Autos in einem Gebiet gleichzeitig laden. Durch die erfolgreiche Integration der E-Autos aus der sonnenCommunity in das virtuelle Kraftwerk geht sonnen voran und wandelt ein Problem zu einer Lösung.
Dabei wird der bisherige Ladevorgang neu gestaltet: Im ersten Schritt verteilt sonnen die Ladevorgänge aller angeschlossenen Elektroautos gleichmäßig über einen längeren Zeitraum und vermeidet so Lastspitzen zu einer bestimmten Tageszeit. Grundlage hierfür sind die Vorgaben der Kundinnen und Kunden, wann sie ihr Auto wieder benötigen. Im zweiten Schritt werden dann Frequenzabweichungen des Stromnetzes ausgeglichen, die Vorgaben dafür kommen von TenneT. Das so gesteuerte Ladeverhalten stabilisiert das Stromnetz gleich auf zwei Ebenen, und das ohne Einschränkungen für die Nutzung der Fahrzeuge

Was die E-Auto-Besitzer vor allem freuen wird: Die Akkus altern dabei nicht, weil die teuren und Ladezyklen-empfindlichen Akkus nicht beidseitig belastet werden:
[3] eine zusätzliche Abnutzung der Fahrzeugbatterien durch Entladen findet nicht statt.

Wer das hier dargestellte, revolutionäre Prinzip trotz aufmerksamem Lesen immer noch nicht genau verstanden hat:
Die E-Autos werden ferngesteuert nur dann geladen, wenn im Stromnetz wegen zu viel Einspeisung Lastbedarf besteht. Ein modernes, intelligentes Netzt kann das so gut steuern, dass für die E-Auto Nutzer dadurch keinerlei Mobilitätsnachteile entstehen. Und da dieser Vorgang auch Primärleistungsregelung genannt wird, soll er den E-Auto-Besitzern sogar zusätzliche Gewinne bringen.
Zum besseren Verständnis ist dieser hochkomplexe Vorgang bei TenneT anschaulich dargestellt:

Bild 1 Darstellung der Netzstabilisierung durch intelligentes Lademanagement der E-Autos. Screenshot von [3]

Damit ist eine technologische Schwelle überschritten

Die glorreiche Pilotierung mit den elf E-Autos sieht zwar nur aus wie ein kleiner Schritt vor Ort, war aber ein ganz großer für die Ökoenergie-Welt.

Ein solcher Durchbruch darf ausgiebig gefeiert und natürlich auch publiziert werden:
TenneT:[2] „Wir stehen an der Schwelle zu der Entwicklung eines Ökosystems der Erneuerbaren Energien, die sich mit dem Beginn des Internetzeitalters vergleichen lässt. Bislang isoliert agierende Assets werden miteinander vernetzt und entfalten so ihr volles Potenzial. In der nächsten Stufe der Energiewende geht es nämlich darum, dass die Energie aus Solar- oder Windstrom immer zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort ist“, sagt Oliver Koch, CEO von sonnen: „Mit der Aufnahme von Elektrofahrzeugen in unser virtuelles Kraftwerk machen wir einen großen Schritt, indem wir das Laden von Elektroautos nutzen, um gleichzeitig Angebot und Nachfrage im Stromnetz auszugleichen und es so stabilisieren. Damit können wir das enorme Speicherpotenzial von E-Autos bereits heute nutzen und dazu beitragen, dass wir fossile Kraftwerke früher abschalten können.
Tim Meyerjürgens, COO von TenneT, blickt auf das Stromnetz der Zukunft: „Für die nachhaltige und sichere Stromversorgung von morgen ist es wichtig, dass die Energiewende weitergedacht wird. Die Integration von E-Autos in das Stromnetz ist ein wichtiger Meilenstein, um auf die Herausforderungen der künftigen Stromverfügbarkeit reagieren zu können. Je mehr volatile, stark schwankende Wind- und Sonnenenergie in das Stromnetz einspeisen, umso elementarer ist die Schaffung neuer Speichermöglichkeiten zur Flexibilisierung und Stabilisierung des Gesamtsystems. Was heute erste E-Autos und Primärregelleistung sind, sind bald Millionen E-Autos und zahlreiche weitere Systemdienstleistungen für uns Netzbetreiber. Wir freuen uns, zusammen mit sonnen dieses enorme Potential an Speicherkapazitäten auf den Weg zu bringen.“

Endlich wurde die ersehnte, „flexible Zukunft“ eingeläutet

Wünsche können in Erfüllung gehen, wenn man wirklich daran glaubt.

Grüne Politikerin Sylvia Kotting-Uhl im Bundestag:
„Allein Ihre Unfähigkeit, sich unter Energieversorgung etwas anderes als Grundlast vorzustellen, das ist so von gestern wie Sie selbst. Die Zukunft wird flexibler sein, spannender, ja, auch anspruchsvoller: nicht mehr nachfrage-, sondern angebotsorientiert.
Dr.Graichen, der von Habeck als Staatssekretär engagierte Öko- Aktivist erweiterte diese innovative Sicht. Nach ihm ist ein Problem auch dadurch lösbar, indem die Problembeladenen ihr „Mindset“ darüber anpassen.
In vielen Ländern der Dritten Welt gibt es dies und diese Zukunft schon lange. Nun hält es als Erfolgsmodell auch bei uns Einzug.

TenneT und die weitere, ebenfalls immer daran verdienende Firma sind erkennbar begeistert. Sicher wird bald der Ruf nach umfangreichen Fördermitteln und Planungssicherheit folgen. Professoren werden darüber enormen, weiteren Forschungsbedarf und viel Personal anmelden. Und ziemlich sicher werden diese Bedarfe genehmigt …

Dem Autor ist nun auch klar, warum gleich zwei unserer Minister*innen kürzlich nach Ghana flogen, um (nicht nur dort) Fachkräfte abzuwerben. Auf diesem Kontinent finden sich bestimmt viele Fachkräfte mit Erfahrung in Energie-Mangelverwaltung.

Quellen

[1] Nordbayerische Nachrichten, lokale Printausgabe, 23.02.2023, Artikel: „Elektroautos können das Stromnetz stabilisieren“

[2] sonnen.de, BLOG | FEBRUAR 2023: E-Autos als Stromspeicher: So funktioniert der neue Kraftwerksblock unseres sonnenVPP

[3] Tennet, 15.02.2023: E-Autos als Stromspeicher: sonnen und TenneT gelingt erstmals Einbindung von Elektroautos in das Stromnetz

[4] DIW, 2018 : Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern