Die „100 Prozent Ökostrom“ Lüge
Von Günter Keil
Von angeblichen Lieferungen von 100-prozentigem Ökostrom hatte ich bereits verschiedentlich gehört; es aber nicht ernst genommen. Schließlich gibt es nur eine einzige Möglichkeit, das als Stromkunde wirklich zu erleben:
Man muss auf einer kleinen Insel leben, auf der die bewohnte Hütte ausschließlich durch Photovoltaik-(PV)-Solarzellen mit Strom versorgt wird, wobei ein Batteriespeicher dafür zu sorgen hätte, dass ich auch nach Einbruch der Dunkelheit wenigstens noch elektrisches Licht habe und Radio hören kann. Eine kleine Windkraftanlage würde mir ja bei Flaute nicht einmal am Tage Strom liefern. Und ein Diesel-Generator-Aggregat wäre ja kein Ökostrom- Lieferant.
Die Stromkunden dieses Landes leben jedoch nicht auf Atollen. Sie bekommen an ihren Schuko-Steckdosen zuverlässig, wenn auch nicht preiswert, Tag und Nacht ihren Strom. Als Zeitungsleser ist wohl fast allen völlig klar, dass eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Stromerzeugern – Kohle- und Gaskraftwerke, Kernkraft- und Wasserkraftwerke, sowie PV-Paneele, Biogasanlagen und Windräder- ihre Elektrizitätsmengen in der vorgeschriebenen Qualität (Spannung und Frequenz) in das Stromnetz einspeisen, in dem diese Anteile beim Verbraucher ununterscheidbar aus dessen Steckdose abzapfbar sind. Es ist Physik – und die Politiker leiden anscheinend darunter, dass sie deren Gesetze nicht „novellieren“, also ändern können. Die Leute wissen also bereits, dass sie niemals puren Ökostrom beziehen können.
Das ist schon mal die Lüge Nr.1.
Das Märchen von einem 100-Prozent-Ökostrom-Ersatz durch Verträge
Weil die Stromversorger wissen, dass nahezu alle ihre Kunden die Lüge Nr.1 durchschauen, haben sie eine indirekte Erklärung für eine vielleicht doch glaubhafte 100-prozentige Ökostromlieferung erfunden: Der den Kunden versprochene reine Ökostrom wird dem Kunden nicht geliefert, sondern an vielen Stellen des Stromnetzes von Ökostromerzeugern eingeleitet – und natürlich in der gleichen Menge, wie den Kunden versprochen. Weil auch das wohl niemand so einfach glauben würde, benutzt man eine Zertifizierung durch eine (bis dahin) vertrauenswürdige Institution. Das ist in dem konkreten Falle, über den hier berichtet wird, der TÜV Rheinland.
Die Mitteilung meines Stromversorgers
Mein Stromversorger, die Stadtwerke Sankt Augustin, haben mir am 1.Juli 2022 eine schriftliche Mitteilung in meinen Briefkasten geschickt.
Zitat der wesentlichen Teile:
Überschrift: „Stadtwerke Sankt Augustin setzen ab sofort auf 100 % Ökostrom – ohne Aufpreis…“.
Darunter als Grafik: „Wir sparen jährlich 14.138.000 kg CO2.“
Weiter im Text: „Vom 1. Juli 2022 an beliefert das Unternehmen alle… Kunden im Privat- und Gewerbesegment komplett mit reinem Ökostrom. Für die Kunden erfolgt die Umstellung (Unterstreichungen durch den Autor) automatisch und ohne Aufpreis…..Ökostrom für Sankt Augustin stammt aus Europa.“ Unter einer Umstellung versteht jedermann, dass die gelieferte Ware künftig eine andere ist. Und dass er diese jetzt erhält.
Es folgt ein Bericht zweier Geschäftsführer: „Unser Strom für St. Augustin stammt aus europäischen Anlagen zur Produktion von erneuerbaren Energien, die direkt an das west- und mitteleuropäische Stromverbundnetz angeschlossen sind. Dabei handelt es sich vornehmlich um Wind-, Photovoltaik- und Wasserkraftanlagen. Mithilfe von Herkunftsnachweisen lassen sich die Ökostrommengen ihren Ursprungsquellen eindeutig zuordnen. Dadurch ist sichergestellt, dass jede von den Kunden verbrauchte Kilowattstunde Strom auch tatsächlich aus erneuerbaren Quellen stammt. Darüber hinaus besteht zwischen den Herkunftsnachweisen und der physischen Lieferung des Stroms eine vertragliche Kopplung. Auf diese Weise ist die Lieferkette vom Stromerzeuger bis zu den Verbrauchern eindeutig nachweisbar. Das war uns sehr wichtig.“ (Ende des Zitats).
Es soll also eine „physische“, d.h. reale Lieferung sein, für die es eine Lieferkette gibt. Ein weiterer Trick im Verwirrspiel, der die Lüge Nr.1 wiederholt.
Am Ende dieses Schreibens sieht man eine Grafik, die 3 Elemente aufweist:
1. Eine Art Siegel des TÜV Rheinland mit der Unterzeile „Zertifiziert“.
2. Ein Text im Zentrum: „100% Erneuerbare Energie. Regelmäßige Überwachung. www.tuv.com. ID 0000081681.
3. Ein codiertes Text-Viereck für Smartphones.
Der TÜV-Rheinland wird gefragt.
Die Rolle des TÜV in dieser Angelegenheit wird im Text der Stadtwerke nicht angesprochen, jedoch dessen Siegel mit den zugehörigen Schlagworten und insbesondere mit dem Wort „Zertifiziert“ wirft Fragen bezüglich dessen tatsächlicher Rolle und insbesondere nach den konkreten Inhalten dieser Zertifizierung sowie der Art und Weise der „physischen“ – und das kann doch nur bedeuten, der „realen“ – Lieferungen der Ökostromproduzenten auf.
Ebenso interessiert der Inhalt der „vertraglichen Kopplung“.
Deshalb wurde vom Autor ein Brief an den TÜV Rheinland geschrieben, dessen wesentliche Teile im Folgenden wiedergegeben werden.
Wesentliche Ausschnitte aus diesem Brief vom 26. Januar 2023:
„Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin als Elektroingenieur bereits mehrfach von Bekannten aus meiner Stadt St. Augustin befragt worden, wie es möglich war, die Stadt zu 100 Prozent mit Ökostrom zu versorgen, wie es die Stadtwerke der Stadt durch Rundschreiben an die Haushalte mitgeteilt haben.
Darin hatten die Stadtwerke darauf hingewiesen, dass der TÜV Rheinland diese Versorgung durch ein Zertifikat bestätigt hat – was auch in der Mitteilung abgebildet wurde………Das führt zu der naheliegenden Frage, wie der TÜV Rheinland eine Zertifizierung für eine 100-prozentige Stromversorgung mit Erläuterungen untermauert…….. Mithilfe von Herkunftsnachweisen ließen sich die zertifizierten Ökostrommengen, die vermutlich nach dem Stromverbrauch St. Augustins aus dem Vormonat berechnet werden, „ihren Ursprungsquellen eindeutig zuordnen.“ Das seien vornehmlich Wind-, PV- und Wasserkraftanlagen. Dadurch „sei sichergestellt, dass jede von den Kunden verbrauchte Kilowattstunde auch tatsächlich aus erneuerbaren Quellen stammt.“
Weiter in meinem Brief:
„Diese Methode ist durchaus plausibel, unterliegt aber einer sehr konkreten Voraussetzung, von der in der o.e. Beschreibung leider keine Rede ist. Diese Voraussetzung wäre, dass diese per Zertifikat identifizierbaren Erzeuger den von den Stadtwerken St. Augustin bestellten Ökostrom zusätzlich genau zu diesem Zweck erzeugen und einspeisen. Die Erzeuger müssten daher bislang ungenutzte Reserven aktivieren.
Würden sie stattdessen ihrem zuvor ins Netz eingespeisten Ökostrom nicht die von dem neuen Kunden verlangten Ökostrom-Mengen durch die Aktivierung von zuvor vorhandenen, jedoch noch nicht genutzten Reserven hinzufügen, dann würden die deutschen Stadtwerke gar keinen Beitrag zu einer Steigerung der europäischen Ökostromerzeugung leisten und das TÜV-Zertifikat wäre gegenstandslos.
Insofern gibt es in der Beschreibung einer mit Zertifikat bescheinigten Ökostromerzeugung, die aber keine Garantie und Bestätigung ihrer zusätzlichen Erzeugung aufweist, eine ernsthafte Lücke.
Ich hoffe, dass Sie durch eine ergänzende Beschreibung Ihrer mir bisher nicht ausreichend plausiblen Zertifikats-Grundlagen meine Unklarheiten beheben können. (Ende des Zitats aus meinem Schreiben an den TÜV Rheinland).
Tatsächlich erhielt ich vom TÜV Rheinland eine Antwort vom 23. Januar 2023.
Dessen Passagen, die meine zentrale Frage betreffen sind folgende, wobei die wesentlichen Teile von mir unterstrichen wurden:
„Wie auf unserem Zertifikat vermerkt basiert die Ökostrom-Versorgung der Stadtwerke Sankt Augustin auf Herkunftsnachweisen aus gekennzeichneten erneuerbaren Stromerzeugungsanlagen. Dies ist ein seit Jahren regulativ etablierter Mechanismus, der von sehr vielen Stromanbietern genutzt wird. (Anm.: Das beschreibt ehrlich das Ausmaß dieser angeblichen „100-Prozent Ökostrom-Versorgungsmethode“.) TÜV Rheinland prüft dabei die Einhaltung der auf dem Zertifikat genannten Kriterien. (Anm.: Diese lauten – siehe oben – nur: „100% Erneuerbare Energie. Regelmäßige Überwachung.“ Auch das ist ehrlich, leider nur keine Antwort auf meine Kernfrage.)
„Die von Herrn Keil auf S . 2 seines Schreibens genannten systemmethodischen Implikationen sind im Grundsatz nachvollziehbar, aber außerhalb der genannten Prüfkriterien“.
(Anm.: Das ist der entscheidende Satz, der die Antwort auf meine konkrete Frage mit einem wirklich schönen sprachlichen Kunstwerk vermeidet.)
„Wir weisen darauf hin, dass die Abgabe von Herkunftsnachweisen durch Betreiber erneuerbarer Stromerzeugungsanlagen in der Bilanzierung und Berechnung von Emissionsfaktoren von Stromnetzen Berücksichtigung findet……Bitte haben Sie Verständnis, dass Fachdiskussionen mit unseren Sachverständigen außerhalb eines Auftragsverhältnisses aufgrund der hohen Arbeitsauslastung nicht möglich sind.“ (Zitat-Ende).
Bewertung des TÜV-Schreibens
1. Meine Vermutung, dass mit einer „100-Prozent-Ökostromlieferung“ ein Vorgang behauptet und zugesagt wird, der gar nicht existiert, ist bestätigt
worden. Der TÜV selbst hat sich aber herausgeredet und ist auf die von mir angesprochene Nachweis-Lücke nicht eingegangen.
2. Der TÜV hat keineswegs die Unwahrheit gesagt, das ist anzuerkennen. Seine Bewertung meiner sehr einfachen Frage als „systemmethodische Implikation, die im Grundsatz (!) nachvollziehbar sei“, ist ein kleines Meisterstück einer Antwortvermeidung. Dafür könnte ich meinerseits dem TÜV ein Zertifikat für optimale Verschleierung erteilen.
3. Mit der Antwort hat der TÜV klugerweise das Risiko vermieden, sein Zertifikat dem Vorwurf einer Fälschung des wahren Sachverhalts auszusetzen. Seine sehr deutlich gewordenen Aussagen bedeuten im Klartext, dass er nicht speziell geprüft hat – und es vielleicht auch nicht prüfen sollte -, ob der betreffende Ökostromerzeuger zusätzliche, bislang ungenutzte Reservekapazitäten für den Lieferungswünsche der Stadtwerke Sankt Augustin sowie „sehr vieler Stromanbieter“ aktiviert hat- oder eben nicht. Dazu bedarf es keiner „Fachdiskussion mit unseren Sachverständigen“.
4. Die Feststellung, dass die angesprochenen und vermutlich auch mit ihrer Nennung als Ökostromerzeuger einverstandenen Unternehmen tatsächlich mit 100% ihrer Kapazität schon länger Ökostrom ins Netz liefern, ist nie von irgendjemand bestritten worden. Das beantwortet aber nicht die in diesem
Falle gestellte Frage, wie eigentlich der „von vielen Stromanbietern“ verlangte und verursachte Mehrbedarf befriedigt wird.
5. Eine wichtige Information ist dieser „von vielen Stromanbietern genutzte regulativ-etablierte Mechanismus“ – also die Methode. Das führt zu
der Frage, wer sich das wohl ausgedacht hat.
Die Schlussfolgerung: Das ist die Lüge Nr. 2
Sie hat nicht so kurze Beine wie Lüge Nr.1, weil sie besser getarnt und glaubhafter präsentiert wird. Das Ergebnis dieser Recherche ist deprimierend, denn es geht nicht profan um Geld – siehe die Versicherung „ohne Aufpreis“ der Stadtwerke St. Augustin – sondern „nur“ um eine Täuschung der Bürger. Dies ist allein aus politischen Gründen zu erklären.
Für die Erzeuger von Strom aus den so genannten Erneuerbaren Energien kann das nicht hilfreich sein. Schließlich haben sämtliche Stromerzeuger mit einer Vielzahl von Problemen technischer Natur und wirtschaftlicher Art zu kämpfen. Durch diese offensichtlich politisch gewünschte 100-Prozent-Veranstaltung ist niemandem sonst geholfen.