Achtet auf den, der „Verschwörungstheorie“ sagt!
vom schrittweisen Aufbau einer neuen Gesellschaft
von Alexander Wendt
Der Physiker Hans Joachim Schellnhuber schlägt eine Rationierung von CO2 vor: Jeder soll nur noch 3 Tonnen ausstoßen dürfen. Sein Plan passt in ein großes Bild: Nicht nur er wünscht eine radikal andere Gesellschaft. Ihre Freunde befinden sich überall im Westen auf dem Vormarsch.
Hannah Arendt meinte, Wahrheit gebe es nur zu zweien, was für sie einschloss, dass sie auch jemand aus Versehen entschlüpfen kann. Dafür braucht es noch nicht einmal Philosophen. Ein Politiker und ein Fragesteller genügen, so wie bei dem Gespräch von Karl Lauterbach mit Alfred Schier, ausgestrahlt im Frühjahr 2021 auf Phoenix (ab Minute 17:46). In diesem paraplatonischen Dialog kommt das Beste zusammen: eine Enthüllung (ἀποκάλυψις), dazu ein langer Reifeprozess.
Zum Jahresanfang 2023 wirkt das, was Lauterbach damals sagte, aktueller als vor zwanzig Monaten. Der Journalist sprach den Abgeordneten auf eine Interview-Äußerung an, in der er sagte, viele der Corona-Maßnahmen würden auch hervorragend zur Bekämpfung der Klimakrise taugen. „Wie haben Sie das gemeint?“, möchte der Interviewer wissen. Und Lauterbach antwortete: „Ich kann beispielsweise weniger reisen, ich muss auf viele Dinge verzichten. Somit schränke ich meine Freiheit ein, um die Pandemie zu bekämpfen. Wenn ich also die Klimakrise nach vorn denke, dann […] können wir in der Klimakrise in eine Situation kommen, dass wir das eine oder andere auch verbieten müssen.“
Schier wirft ein: Aber sei das nicht genau das, was viele befürchten – dass die Corona-Maßnahmen nur als Vorübung für eine Klimadiktatur dienen? Darauf antwortet Lauterbach mit dem Satz mindestens des Jahrzehnts, wenn nicht sogar eines ganzen anbrechenden Zeitalters: „Aber das ist doch Verschwörungstheorie.“
Der Journalist wendet ein: „Aber Sie haben doch eben gesagt“, ein Satz, der speziell bei Lauterbach bekanntlich sofort in dessen Diskursraum verhallt. Er habe sich, antwortet er, nur auf die freiwilligen Einschränkungen wegen Corona bezogen. Die seien doch aber, meint Schier, überwiegend gar nicht freiwillig. Ja, erwidert Lauterbach, manche aber durchaus. So mäandert das Gespräch mit dem Politiker noch eine Weile, von dem auch das berühmte Diktum stammt, eine Impfpflicht sei ja gar kein Zwang, weil sie dazu führe, „dass sich am Schluss jeder freiwillig impfen lässt“.
In dem Gespräch gebrauchte er auch die Formel, er selbst wolle „Teil der Lösung und nicht des Problems sein“. An einer anderen Stelle bekannte der Sozialdemokrat – in einem Tweet, in dem er die Corona-Impfung „nebenwirkungsfrei“ nennt –, er erwarte von einem Publikum, das sich schon wegen einer, zweier oder mehr Spritzen eines eilzugelassenen Vakzins so anstelle (und, kann man ergänzen, wegen einer kleinen Ausgangssperre gleich zum Verwaltungsgericht läuft), in der Klimafrage wenig bis keine Freiwilligkeit.
Karl Lauterbach, so sieht es in dem Phoenix-Interview auf den ersten Blick aus, wirkt wie der erste Politiker, der vor laufender Kamera seine eigene Forderung zehn Sekunden später zur Verschwörungstheorie erklärt. So einfach verhält es sich allerdings nicht. Auch dieser sehr spezielle Mandatsträger weiß ganz gut, was er eben noch sagte, und vor allem, was es bedeutet. Das völlig neue Terrain betritt er mit der Definition von ‚Verschwörungstheorie‘. Sie beginnt nach Lauterbach dann, wenn jemand seiner Forderung nicht zustimmt oder sie sogar kritisiert, und sei es nur dadurch, dass er sie in Frageform mit skeptischem Unterton wiederholt.
Genau diese Begriffsbestimmung von „Verschwörungstheorie“, so lautet die erste Prognose dieses Textes über die nähere Zukunft, hören wir bald öfter, nämlich bei jedem Schritt in eine technokratisch überwachte Gesellschaft, für die sich mehrere Bezeichnungen anbieten. Aber ganz bestimmt nicht mehr der Begriff ‚bürgerlich‘. Denn bei den bisher konventionell als Bürger bezeichneten Individuen handelte es sich schon aus Corona-Maßnahmen-Perspektive in erster Linie um Virenträger. Aus Sicht von Klimaideologen stellen sie vor allem CO2-Emittenten dar, hier wie da also dauerhafte Problemfälle, die eine Administration nur mit Beschränkung und Lenkung, Kontrolle und Strafe halbwegs in den Griff bekommen kann.
Und von diesen Schritten im Takt der alten Seuchenbekämpfungsmaßnahmen, die jetzt einem neuen alternativlosen Zweck dienen, gibt es mittlerweile deutlich mehr als früher. Mit dem offiziellen Ende der Pandemie richtet sich der Transformationsehrgeiz wieder auf größere Ziele. Und dafür gibt es, um einmal einen Begriff aus der Corona-Vergangenheit zu bemühen, einen besser denn je bestückten Instrumentenkoffer. Aus diesem Vorrat holte Joachim Schellnhuber, lange Jahre Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, vor kurzem das schwere Gerät, als er in der NDR-Sendung „Panorama“ vorschlug, den Kohlendioxidausstoß zu rationieren. Jedem Bewohner Deutschlands sollen drei Tonnen pro Jahr per staatlich zugeteilten Zertifikaten zustehen. Wer mehr emittieren will, so Schellnhuber, „muss es sich eben einkaufen“.
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Um das besser einordnen zu können, sollte jeder Endverbraucher von Politik wissen, dass der Durchschnittsausstoß von CO2 in Deutschland pro Kopf bei gut 9 Tonnen pro Jahr liegt. Die gesamte Bevölkerung würde also auf Drittelration gesetzt. Es leuchtet jedem ein, dass ein System, dass den Kohlendioxidausstoß eines jeden erst einmal begrenzt und von ihm verlangt, für jedes Extrakilo zusätzliche Emissionsscheine zu kaufen, ein Kontroll- und Überwachungsregime benötigt, gegen das die Coronamaßnahmen bestenfalls als Aufwärmübung wirken.
Erstens müsste eine neue Behörde von den Ausmaßen des Finanzamts den CO2-Abdruck wirklich jedes konsumierbaren Produkts ermitteln, vom Reißnagel bis zur Segelyacht. Zu diesem Behuf wäre eine erhebliche Forschungsarbeit nötig, um aufzuklären, welcher Strommix ein Unternehmen zur Herstellung irgendeines Produkts in Deutschland, China, Indien oder einem anderen Ort der Welt benutzt. Und nicht nur für das Produkt selbst, sondern für die gesamte Wertschöpfungskette. Außerhalb Deutschlands, wo Manager die Klimaberichtspflicht vielleicht nicht ganz so ernst nehmen, könnten sich schon daraus Schwierigkeiten ergeben.
Für ein Kilo Fleisch eines Weiderinds vom Allgäu fällt nun einmal weniger CO2 an als für Importfleisch aus Argentinien, für in Island mit Strom aus Wasserkraft und Erdwärme geschmolzenes Aluminium weniger als für das gleiche Metall aus Australien, für Solarmodule mit Polysilizium, das die Wacker Chemie AG mit Hydroenergie in den USA herstellt, weniger als für Anlagen, die ein Hersteller komplett mit dem chinesischen Strommix produziert. Aber selbst dann, wenn die neue Behörde das Kohlendioxid für jedes einzelne Bauteil nur grob schätzt, dürfte es eine Weile dauern, bis eine CO2-Taxonomie für alle käuflichen Dinge der Welt existiert.
Bei Dienstleistungen gestaltet sich die Sache etwas komplizierter. Soll der CO2-Ausstoß beispielsweise eines Fahrradkuriers, der Pizza ausliefert, rechnerisch dem Konto des Bestellers zugeschlagen werden? Der könnte einwenden, er hätte sich ansonsten selbst zum Pizzakauf bemühen müssen. Die Lenkungsbehörde würde dann vielleicht antworten, wenn er noch etwas Vorräte habe, hätte er genauso gut klimagerecht zu Hause kochen können.
Wie sieht es aus bei Pflegebedürftigen und Kranken, die Helfer und aufwändig hergestellte Medikamente benötigen? Sie zu versorgen kostet Extra-CO2. Muss der Betroffene die Berechtigungsscheine für seine mehr als 3 Jahrestonnen selbst zahlen? Kommen die Kassen dafür auf? Oder erst ab einer bestimmten Vermögensstufe? All diese Fragen hätte ein Amt zu klären. Und das wäre noch der leichtere Teil. Der etwas kompliziertere besteht darin, dass eine Lenkungsbehörde (oder eine zweite) natürlich alles erfassen müsste, was jemand konsumiert, um festzustellen, ab wann er oder sie Extraberechtigungen erwerben muss.
Unter den Bedingungen von Bargeld könnte das niemand überblicken. Das ginge ausschließlich mit elektronischem Transfer, ob per Karte, Überweisung oder Digitalgeld, um jeden Kauf vom Brötchen an auf dem persönlichen CO2-Konto zu registrieren. Wie gut, dass sich dieser Teil schon einmal mit entsprechenden Plänen verträgt, Bargeld zurückzudrängen. Und wie passt der Konsum im Ausland zur lückenlosen Konsumkontrolle? An der Taschenkontrolle bei seinen rückreisenden Schutzbefohlenen käme der Staat dann aus Gerechtigkeitsgründen nicht vorbei, so leid es ihm täte.
Die schwierigste Aufgabe beträfe die Bekämpfung von Schwarzmärkten, auf denen sich Leute versorgen würden, die zu unwillig oder zu klamm sind, um sich Zusatzzertifikate zu kaufen. Sie – die extralegalen Märkte – würden in der neuen Welt florieren wie kein anderer Zweig der Wirtschaft. Speziell auf dem Land fällt es leicht, einen Schinken, einen Käse oder einige Kubikmeter Brennholz für heimlich gehortetes Bares, beispielsweise Devisen, unter der Hand zu kaufen oder gegen etwas anderes zu tauschen. Die Urgroßmutter des Autors betrieb einen Dorfladen, in dem es der Familienerzählung zufolge praktisch alles gab, nur keine Lebensmittel. Denn niemand wäre dort auf die Idee gekommen, für Essbares Geld zu bezahlen. Geboren wurde die Urgroßmutter in der Kaiserzeit, und sie erreichte immerhin ein Alter, in dem sie noch erlebte, wie Inspekteure der gerade gegründeten DDR ihr Geschäft auf den Kopf stellten, um ihre heimlich gehorteten, nicht staatlich registrierten Waren zu beschlagnahmen. Aus Sicht ihrer Kunden tat sie etwas Gutes, indem sie dort begehrte Güter versteckte. Aus ihrer Sicht natürlich auch. Für den Apparat stellte sie, um das Lauterbach-Wort zu bemühen, einen Teil des Problems dar.
In dem „Panorama“-Beitrag, der Schellnhubers Drei-Tonnen-Plan verkündet, geht es ganz allgemein um die Reichen, die wenig klimagefällig leben. Zum Kommentarton zeigte der Sender Bilder eines Privatflugzeugs, von Yachten und großen Autos. Der Hauptkronzeuge kommt noch einmal zu Wort mit seiner Feststellung, „dass eine wichtige Dimension, eine wichtige Facette des Reichtums tatsächlich die Klimaschädlichkeit ist“.
So viele Privatflieger, Yacht- und Riesenschlittenbesitzer gibt es in Deutschland allerdings nicht, dass ihre Beseitigung den CO2-Ausstoß des ganzen Landes ernsthaft mildern würde, das in toto nur 2,2 Prozent zum menschengemachten Kohlendioxid beiträgt. Unschwer lässt sich also erraten, dass die Reichtumsreduktion per Rationierung – dieses Mal nicht im Namen der sozialen, sondern der Klimagerechtigkeit – eher bei Bürgern ansetzen würde, die generell über dem Durchschnitt liegen. Ab einem Single-Nettoeinkommen von 3300 Euro gilt jemand in Deutschland als reich. Jedenfalls in der Theorie der Statistik, wenn auch nicht in der Praxis von München.
Der Vorschlag von Schellnhuber für die Drei-Tonnen-Gesellschaft, bundesweit ausgestrahlt von der ARD, fand ein geteiltes Echo. Zum einen unterstützten ihn etliche Twitterati mit der Behauptung, es handle sich um eine „marktwirtschaftliche Lösung“, ähnlich wie bei dem Zertifikatehandel von Unternehmen. Menschen entlassen CO2 allerdings auf eine etwas komplexere und eigenwilligere Art in die Atmosphäre als ein Betonwerk, siehe oben. Aber vermutlich, das ganz nebenbei, entstehen autoritäre Ordnungen aller Art tatsächlich, weil zwei Sorten von Menschen dazu beitragen: Technokraten und Zyniker, denen die Folgen ihrer Maßnahmen gleichgültig sind. Und Begeisterte, die die Folgen der Maßnahmen nicht überblicken.
Auf der anderen Seite bedachte eine CDU-Bundestagsabgeordnete Schellnhubers Idee der staatlichen CO2-Rationierung für alle mit dem Wort „Klimafaschismus“, was wiederum für den entsprechenden Empörungsradau auf Twitter sorgte. Mit Benito Mussolinis Ideologie gibt es tatsächlich wenig Berührungspunkte. Schellnhubers technokratische Diktatur bräuchte gar keinen einzelnen Diktator oder einen sonstwie wohlmeinenden Herrscher. Dass dieser Gesellschaftsvorschlag, auch noch vorgetragen von einem Herrn, gegen den der einstige französische Polizeiminister Joseph Fouché physiognomisch geradezu als Sympathieträger wirkt, alles in allem ein bisschen Unwillen erzeugt, kann eigentlich nur Schellnhuber selbst und seine engsten Verehrer überraschen.
Zu den Reaktionen gehört noch etwas Drittes: die Überzeugung, dass es schon nicht so schlimm kommt. Dass niemand so ein Regime durchsetzen könnte. Diese Formulierung bildet das logische Gegenstück zu der Lauterbach’schen Verwendung des Begriffs Verschwörungstheorie, der ohnehin nicht zutrifft, weil das wichtigste Element einer Verschwörung fehlt, nämlich die Heimlichkeit. Es vollzieht sich schließlich alles auf offener Bühne.
Bis Anfang 2020 hätte allerdings auch kaum jemand geglaubt, dass es in Deutschland im Zeichen von Corona Grenzübertrittsverbote zwischen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern geben würde, dass jemand in Australien Isolierungslager errichten könnte, dass Einwohner von Paris sich nur tausend Meter von ihrer Wohnung entfernen durften.
Und von denjenigen, um noch einmal auf die Urgroßmutter und andere ihrer Generation zurückzukommen, die östlich der Elbe die Jahre um 1949 und 1950 erlebten, konnten Spätergeborene immer wieder hören, man habe sich damals einfach nicht vorstellen können, dass eine Partei so etwas verwirklichen würde: die Enteignung von privaten Betrieben. Die Zerschlagung der bäuerlichen Landwirtschaft. Die faktische Internierung einer ganzen Bevölkerung. Viele in den dreißiger Jahren Geborenen sagten 1990 den Satz: Wir konnten es uns damals einfach nicht vorstellen, dass sie ein Land und dann eine ganze Großstadt teilen würden. Sehr viele, erst recht die Überzeugten, wollten sich nicht ausmalen, dass eine früher blühende Großstadt nach dem Ende des Experiments so aussah:
Andere wiederum, die damals in dieser Stadt lebten, beispielsweise der Autor, konnten und wollten es sich nicht vorstellen, dass am 15. Januar 2023 dieser anachronistische Zug durch Berlin marschieren würde, die Zukunft fest im Blick.
Erstaunlich viele historische Entwicklungen übertreffen also selbst die blühende Phantasie der Zeitgenossen.Aus den oben angeführten praktischen Gründen lässt sich der Schellnhuber-Tonnenplan schlecht als Ganzes ausführen. Er verfolgt allerdings auch gar nicht das Ziel, schon in zwei oder drei Jahren Form anzunehmen. Sondern einen subtileren Zweck. Er soll zunächst einmal die Überzeugung in den Köpfen verankern, dass nichts daran vorbeiführt, die wichtigsten Güter staatlich zu rationieren, angefangen beim CO2. Der Begriff „Budget“ eignet sich dafür hervorragend. Er klingt zum einen buchhalterisch objektiv, zum anderen nach Wirtschaft und Unternehmertum, obwohl er das genaue Gegenteil meint, nämlich staatliche Rationierung.
Von dem amerikanischen Politikwissenschaftler Joseph Overton stammen Theorie und Begriff des Overton-Window, des Bezugsrahmens, in dem sich gesellschaftliche Debatten abspielen. Durch eine ständige Wiederholung bestimmter Thesen und Schlagworte können Ideen, die eben noch völlig absurd klangen, Schritt für Schritt auf die Stufe zumindest diskutabler Vorschläge vorrücken, um von dort aus in den Rang vernünftiger Politik zu gleiten. An genau diesem Status befinden sich viele einzelne Rationierungs- und Kontrollprojekte. Sie entwickeln sich stufenweise. Nach und nach wachsen sie zu einem neuen Gesellschaftsdesign zusammen. In Berlin beispielsweise gilt es als ausgemachte Sache der Politik, Autos nach und nach aus der Stadt zu drängen. Das beginnt mit dem sogenannten Rückbau von Verkehrsraum,
der Blockade von Straßen und der Abschaffung von Parkraum,
endet dort aber noch lange nicht. In einem Interview mit der Berliner Zeitung erklärt die Umweltsenatorin und grüne Spitzenkandidatin Bettina Jarasch: „Berlin braucht weniger Parkplätze“, und: „Wir müssen knappen Straßenraum umverteilen“.
Screenprint: Berliner Zeitung
Wer Berlin etwas kennt, der weiß, dass dort in vielen Straßenräumen schon die Sperrmüllhaufen viel Platz beanspruchen. Fast kommt der Beobachter zu dem verschwörungstheoretischen Schluss, dass die Verrümpelung den strategischen Zweck verfolgt, einen Mangel zu suggerieren, der in einer gut organisierten Stadt so gar nicht existieren würde. Außerdem finden sich in der Metropole, in der FDJler und Rotflaggenträger über die ehemalige Stalinallee stampfen, als wäre nichts gewesen, auch genügend helfende Hände, um den Platz noch ein bisschen weiter zu verknappen, damit seine Umverteilung und Rationierung nun wirklich unumgänglich wirkt:
Die allmähliche Verdrängung des Individualverkehrs beschränkt sich nicht auf das „Experimentierlabor Berlin“ (ARD). Ab 1. Februar 2023 dürfen in München keine Dieselfahrzeuge ab Euronorm 4 oder weniger mehr auf den Mittleren Ring und in die Innenstadt, auch nicht mit grüner Plakette. Das gilt vorerst für gut 80.000 Pendler. Von Oktober an gilt die Einschränkung auch für Diesel ab Klasse 5. Lieferdienste und Handwerker können eine Ausnahmegenehmigung beantragen, die allerdings nur bis März 2024 gilt. Dafür soll erst einmal probehalber eine Station entstehen, in der beispielsweise Handwerker ihr Transportgut vom Auto aufs Lastenrad umpacken dürfen.
Screenprint: Bayrischer Rundfunk
Das könnte sich als etwas unpraktisch erweisen, wenn es sich zum Beispiel um neu zu montierende Heizkörper oder Baumaterial für eine Dachsanierung handelt. Aber es trägt natürlich dazu bei, den CO2-Ausstoß in der zehnten globalen Nachkommastelle nachhaltig zu drücken. Mit der Verdrängung des Diesels will sich die rot-grüne Stadtregierung nicht begnügen. Vor allem die grünen Vertreter machen immer wieder deutlich, dass sie für Normbürger eigentlich gar keine Individualfahrzeuge oberhalb des Fahrrads in der Stadt wünschen, etwa dieser Lokalpolitiker aus München-Haidhausen:
Um die geforderten Bewegungseinschränkungen zu erreichen, gibt es nicht nur die Methode der Autobekämpfung, sondern auch einen wesentlich komplexeren Ansatz. Im Berliner Entwicklungsplan nennt sich das Vorhaben „Stadt der kurzen Wege“. Die Bürger sollen ihren Kiez möglichst nicht mehr verlassen.
Screenprint: Tagesspiegel
Was sich ja auch immer schwieriger gestaltet, wenn die Abschaffung oder Blockade von Parkplätzen auch die Abmeldung des Autos erzwingt. Außerdem leistet die Qualität des öffentlichen Nahverkehrs ihren Beitrag, damit sich jeder dreimal überlegt, ob er wirklich von Lichterfelde Süd nach Charlottenburg muss.
In Berlin findet die entsprechende Planung unter dem Dirigat von Senator Andreas Geisel statt, einem SPD-Politiker, der bis 1989 einer Partei angehörte, die eine gewisse Expertise dafür besitzt, in Berlin Wege zu verkürzen. Einstweilen kommt die neue Stadt der kurzen Wege noch als Angebot zu den Bürgern. Wer Scorsese-Filme kennt, der weiß, dass es irgendwann auch Angebote gibt, die man schlecht oder gar nicht ablehnen kann. In Oxford beispielsweise herrscht schon eine Aufteilung der Stadt in Zonen, zwischen denen sogenannte traffic filters existieren, Verkehrsfilter, die den motorisierten Individualverkehr bremsen.
Außer Taxis, Bussen und Lieferfahrzeugen darf grundsätzlich kein Auto passieren. Anwohner können Berechtigungsscheine beantragen, die es ihnen gestatten, „bis zu 100 mal im Jahr“ durch die Checkpoints zu fahren. Auch hier lautet die Begründung, die CO2-Emissionen müssten dringend gedrückt werden. Großbritanniens Anteil am weltweiten menschenerzeugten Kohlendioxidausstoß liegt bei etwa 2 Prozent.
Quelle: https://www.headingtonliveablestreets.org.uk/cotp-headington/
Die grundsätzliche Idee, der klimagerechte Mensch sollte sich nicht zu weit und oft bewegen, sondern möglichst in seiner „15-Minuten-Stadt“ bleiben, findet sich wie viele andere grundlegende Ideen auch im Fundus des Weltwirtschaftsforums, das gerade wieder in Davos tagt, als Präsenztagung, versteht sich, zu der die meisten mit Flugzeugen anreisen, und sich dann auch innerorts meist in der Limousine und weniger mit dem Rad bewegen.
Das Schwab’sche Weltwirtschaftsforum perfektionierte übrigens als erste große Institution die Technik, zwar eine weltweiten Gestaltungsanspruch zu erheben, gleichzeitig aber jeden, der diesen Gestaltungsanspruch nicht ausdrücklich lobt oder zumindest neutral hinnimmt, von medialen Helfern als Verschwörungstheoretiker niederzischen zu lassen. Ähnlich wie in dem oben zitierten Lauterbach-Beispiel reicht es für dieses Urteil schon aus, Klaus Schwab oder andere Wortmelder einfach nur nichtaffirmativ zu zitieren.
Während der Corona-Zeit probierten verschiedene staatliche Stellen Bewegungsrestriktionen aus, vom Ein-Kilometer-Radius in Paris bis zur 15-Kilometer-Leine in Bayern, die zwar nichts Messbares gegen die Virenverbreitung ausrichteten, aber grundsätzlich zeigten, dass sich auch sehr viele Menschen Maßnahmen unterwerfen, wenn offizielle Stellen mit medialer Hilfe ein überwältigendes Bedrohungsszenario aufbauen.
Bewegungseinschränkung, Kontrolle und Zuteilung betreffen nicht nur Verbrennerfahrzeuge. Sie kommen nur als erste an die Reihe. Vor wenigen Tagen teilte die Bundesnetzagentur mit, es könnte durchaus zu Stromrationierungen für Elektroautos und Wärmepumpen kommen. Und das nicht erst nach der Abschaltung der letzten Atomkraftwerke im April und der Außerbetriebnahme der Kohlemeiler 2030, sondern schon deutlich früher.
Der dialektische Witz besteht darin, dass die Verbrennerverbannung aus Innenstädten schon jetzt, ein generelles Verbrennerzulassungsverbot ab 2035 und der Zwang zur Wärmepumpe die Bürger in die technischen Lösungen treibt, für die es an vielen Tagen absehbar nicht genügend Strom geben wird. Genau diese Lösungen lassen sich allerdings praktischerweise zentral steuern. Bestenfalls lädt das E-Auto dann verzögert, die Wärmepumpe läuft gedrosselt. Oder beide lassen sich vorübergehend überhaupt nicht mehr nutzen.
Ganz am Anfang der großen Energietransformation hieß es, die neue Ordnung würde nicht nur im Überfluss eiskugelbilligen Strom bringen, sondern auch eine dezentrale und bürgerfreundliche Organisation. In Wirklichkeit erfüllt sie alle Träume von Anhängern der zentralen Gesellschaftssteuerung. Ein wenig erinnert das an die alte Verheißung, die Arbeiter würden im Sozialismus besser und freier leben als unter der Kapitalherrschaft.
Zu den schrumpfenden Bewegungsradien wegen der CO2-Begrenzung, der Straßenraum- und der Stromknappheit kommt noch die Forderung, nicht zu viel stationären Platz einzunehmen. Auch Wohnraum bedarf der Begrenzung und Kontrolle. Das jedenfalls erklärte kürzlich Bauministerin Klara Geywitz: Es gehe nicht nur um die Frage, „was hat mein Essverhalten mit dem Klima zu tun, oder mein Verkehrsverhalten“, sondern auch darum, „dass individuell Wohnen etwas mit dem Klima zu tun hat – weil wir natürlich sämtliche Effizienzgewinne der letzten Jahre auffressen dadurch, dass die Wohnfläche pro Person immer mehr steigt“.
Die Wohnflächenknappheit liegt eher daran, dass Deutschland allein 2022 einen Netto-Zuzug von 1,4 Millionen Menschen erlebte, während die Zahl der fertiggestellten neuen Wohnungen auch wegen der heftig gestiegenen Baukosten und der umfangreichen Vorschriften nicht, wie von Regierungsseite versprochen, bei 400.000, sondern bei 280.000 Einheiten lag.
In einer Single-Gesellschaft beanspruchen viele Menschen einen gewissen Platz, auch dann, wenn es sich pro Person oft nur um 30 Quadratmeter handelt. Außerdem steigt der Altersdurchschnitt, und anders als früher denken viele Senioren nicht daran, sich beispielsweise nach dem Tod des Partners in ein 18-Quadratmeter-Seniorenresidenzzimmer zu trollen. Für die Lebensentscheidung älterer Leute, einfach in ihren Wohnungen zu bleiben, statt Platz für Zuzügler zu machen, gibt es mittlerweile den schönen Begriff „Remanenzeffekt“. Ende 2022 nahm sich die Justizministerkonferenz des Problems an, wobei diese Art der Problemannahme vor ein paar Jahren noch als allertypischste Verschwörungstheorie gegolten hätte. Jetzt jedenfalls heißt der Umstand, dass mancher Senior oder überhaupt ein Einzelner auf 80 oder 100 Quadratmetern lebt, „stille Wohnraumreserve“. Und es geht darum, die Klimaeffizienzgewinnauffresser erst einmal sanft zum Umzug in kleinere Einheiten zu bewegen.
„Die in vielen Mieterhaushalten vorhandenen ‚stillen Wohnraumreserven‘“, heißt es in dem Justizministerkonferenz-Papier, „bieten nach Auffassung der Justizministerinnen und Justizminister der Länder einen Ansatzpunkt, um neben der Förderung des Wohnungsneubaus zusätzliche Entlastungen für die Wohnungsmärkte zu schaffen. Vor diesem Hintergrund bitten sie den Bundesminister der Justiz um Prüfung von Regelungsmöglichkeiten, die es für Mieterinnen und Mieter attraktiv machen, im Einvernehmen mit ihrem bisherigen Vermieter einen Umzug in eine kleinere Wohnung zu verwirklichen.“
Erst einmal geht es also um leichtere Vertragskündigungen, eventuell auch um Umzugsbeihilfen. Möglicherweise – heute noch Verschwörungstheorie, gewiss, gewiss – kommt demnächst auch eine Sonderabgabe auf zu großen Wohnraum, die eine Umzugsentscheidung des Wohnflächenfressers erleichtert. Erst für Mieter, dann vielleicht auch für Eigentümer. Auch für die noch sanfte Phase gibt es eine entsprechende Medienbegleitung. Sie reicht von „Rentner blockieren große Wohnungen“ (Focus) bis zur schwärmerischen Beschreibung in der FAZ, wie gut es sich zu fünft in einer Frankfurter Tiny Flat leben lässt.
Screenprint: FAZ
Eins muss auch der Renitenteste mit größtmöglichem geistigen Remanenzeffekt zugeben: Die propagandistische Auskleidung des Lebens hinter dem klimatischen Schutzwall besitzt Weltniveau. „15-Minuten-Stadt“ klingt entschieden besser als Anpflockung, traffic filter milder als Grenzübergang, Tiny Flat allemal eleganter als Wohnelend. Und ‚klimagerecht‘ hübscher als ‚verarmt‘.
Unter diesen Bedingungen verabschieden sich Nichtmehrbürger reihenweise ganz von allein von der Idee, sie könnten nach ihren eigenen Vorstellungen und Möglichkeiten konsumieren, selbst über ihre Bewegung entscheiden und ganz eigenmächtig bestimmen, wie sie wohnen. Darin liegt die Lektion. Ob die Kopfzahl nun drei oder sechs Tonnen CO2 pro Person beträgt, wie viele Jahre ein Elektroauto im Individualverkehr noch erlaubt bleibt, ob es an 100 oder nur noch an 50 Tagen die Genehmigung gibt, einen traffic filter zu passieren, wo die Quadratmetergrenze für angemessenen Wohnraum liegt, ab wann jemand zu den klimaschädlichen Reichen zählt – das ergibt sich aus der politischen Situation. Die Entscheidung über die Art der Gesellschaft fällt dadurch, dass ausreichend viele das Recht einer wie auch immer gearteten Zentrale anerkennen, über ihre bis eben noch völlig privaten Lebensverhältnisse zu bestimmen.
Möglich wäre das nicht ohne die mediale Begleitung. Hier eine kleine Presseschau zum großen Umbruch:
- Spiegel: „Hatte Marx doch Recht?“
- WWF: „Does capitalism need some Marxism to survive the Forth Industrial Revolution?”
- Süddeutsche Zeitung: “Die marktliberale Ära ist vorbei, sagt eine Studie – zum Glück, findet Ökonom Tom Krebs im Interview.“
- Berliner Zeitung: „Vergesellschaftung, Gemeinwohl, Gewinnverteilung – was von der DDR zu lernen ist.“
- Zeit: „Warum die Grundsteuer gut ist. Immobilienbesitzer müssen jetzt den Wert ihres Grundbesitzes ermitteln. Auf diesem Weg ließe sich auch elegant die die Vermögenssteuer wiederbeleben.“
Was sich gleichzeitig in kaum einem angestammten Medium mehr findet: eine Verteidigung des autonomen Bürgers, der im Rahmen seiner Möglichkeiten, Bedürfnisse und der allgemeinen Gesetze selbst entscheidet, wie er leben möchte.
Die Ideologie, die hinter Schellnhubers Plänen und denen etlicher anderer steht, existiert nicht erst seit wenigen Jahren. Von dem Autor und Physiker Amory Lovins, einem der einflussreichsten Vordenker der radikalen Niedrigenergiegesellschaft, stammt der bemerkenswerte Satz: „Wenn Sie mich fragen, wäre es fast katastrophal für uns, eine Quelle sauberer, billiger und reichlich vorhandener Energie zu entdecken, wegen dem, was wir damit machen würden.“ Nach seiner Überzeugung liefert gerade teure und knappe Energie den Schlüssel für die aus seiner Sicht ideale Gesellschaft, in der eine Kaste von weisen Lenkern jedem seine Ration an Ressourcen zuteilt. Die Behauptung, das Schicksal der ganzen Welt hänge am CO2-Ausstoß kleiner westlicher Länder, verpasst diesem Glauben noch einmal einen mächtigen Schub.
Für die Errichtung dieser neuen Gesellschaft nach ziemlich altem Muster existiert kein Generalplan. Wenn sie entsteht, dann schrittweise. Ihre Protagonisten tasten sich vor. Stoßen sie auf wenig Widerstand, schreiten sie weiter. Und ab einem Kipppunkt verwandelt sich Verschwörungstheorie in einen festen Zustand. Dann heißt es wieder: Das haben wir uns damals nicht vorstellen können.
Der Beitrag erschien zeitlich und zuerst auf dem Blog des Autors hier und TE