Strompreise: Frankreich will aus dem Merit-order-System aussteigen
Edgar L. Gärtner
Das liberale französische Wochenmagazin „Le Point“ hat am 12. Januar eine (nicht unerwartete) Indiskretion aus dem Pariser Wirtschafts- und Finanzministerium weitergereicht. Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire will sich, wie verlautet, offenbar in der kommenden Woche auf der großen deutsch-französischen Ministerkonferenz anlässlich des 60. Jahrestages des am 22. Januar 1963 zwischen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer abgeschlossenen Elysée-Vertrages über die deutsch-französische Freundschaft für die Entkoppelung der Strom- und Gaspreise in der EU stark machen. Zurzeit bestimmen im Rahmen des so genannten Merit-Order-Systems die am teuersten produzierenden Kraftwerke (das sind die Gasturbinen) den Strompreis. Den Franzosen wird es dadurch verwehrt, von preisgünstigem Strom aus abgeschriebenen Kernkraftwerken und den zahlreichen alpinen Stauseen zu profitieren. Obendrein ist das nationale Strom-Monopol EDF gesetzlich gezwungen, ein Viertel seines Stroms zum Spottpreis von 42 Euro je Megawattstunde an alternative Anbieter abzugeben, während es bei Strom-Knappheit teuren Gas- und Kohlestrom aus Deutschland importieren musste. EDF ging deshalb der Pleite entgegen und wurde so „reif“ für die inzwischen vollzogene Verstaatlichung.
Zwar schlägt die Verteuerung der Elektrizität infolge des von der Berliner Regierung durchgedrückten Preisbildungsmechanismus auf dem europäischen Elektrizitätsmarkt dank des vom französischen Staat mit hohen Milliardenbeträgen subventionierten „Bouclier tarifaire“ bislang noch kaum bis zu den Privathaushalten durch. Doch geraten immer mehr kleine und mittlere Unternehmen wie vor allem Tausende von Bäckereien, Metzgereien, Salons de Coiffure usw., deren Strombedarf oberhalb des für die staatliche Strompreis-Garantie geltenden Grenzwertes liegt, durch die Multiplikation ihrer Stromrechnungen um den Faktor 10 bis 20 in akute Existenznot. Das erzeugt beim einfachen Volk viel Unmut gegen das als „kafkaesk“ eingeschätzte Merit-order-System der EU. Staatspräsident Emmanuel Macron, der in der französischen Nationalversammlung keine Mehrheit mehr hat, muss dem Rechnung tragen, obwohl er sich nach außen zur „Energiewende“ nach deutschem Vorbild bekennt. Gerade erhielt im Parlament ein von der Macron-Partei „Renaissance“ eingebrachter Gesetzesvorschlag für die Erleichterung der Errichtung von Off- und On-shore-Windparks nach der ersten Lesung eine knappe Mehrheit. Was zeigt, dass nicht nur Macrons Leute der Illusion „Net Zero“ durch die planmäßige Verteuerung der Energie anhängen. Nun werden sie durch die Zuspitzung der Energiepreiskrise und des entsprechenden Drucks der öffentlichen Meinung gezwungen, sich wieder auf die Vorzüge der Kernkraft zu besinnen und das europäische System der Strompreisfindung in Frage zu stellen.
Bis noch vor wenigen Wochen waren die meisten französischen Energiepolitiker noch kleinlaut gegenüber ihren deutschen Kollegen, denn die winterliche Elektrizitätsversorgung Frankreichs hing wegen des reparaturbedingten Stillstands von etwa der Hälfte der französischen Kernkraftwerke an einem seidenen Faden. Hätte über die Weihnachtszeit und zu Beginn des neuen Jahres in Westeuropa nicht eine so milde Witterung geherrscht, hätte es in Frankreich leicht zu einem Blackout kommen können. In Frankreich sank der Stromverbrauch in den letzten vier Wochen um über 8 Prozent im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2019. Inzwischen sind etwa drei Viertel der französischen KKW dank ausländischer Unterstützung bei den Revisions- und Reparaturarbeiten wieder am Netz. Deren Stromeinspeisung liegt nach Angabe des Netzbetreibers RTE zurzeit bei 67 Prozent der Gesamtkapazität. Das verschaffte EDF sogar den Spielraum, um einen der vier Reaktoren im südfranzösischen KKW Tricastin vorübergehend stillzulegen.
Ende Januar werden die wegen Korrosionsproblemen abgeschalteten großen Kernreaktoren Civaux 1 und Chooz 2 ihren Betrieb wieder aufnehmen. Doch damit wird sich die Versorgungssituation in Frankreich nur für kurze Zeit entspannen. Schon Ende Februar wird die verfügbare französische Nuklearkapazität wieder unter 40 GW sinken, weil das begonnene umfangreiche Wartungs- und Ertüchtigungsprogramm, das im vergangenen Jahr zu bedenklichen Versorgungsengpässen geführt hat, in diesem Jahr fortgesetzt wird. Dieses beginnt mit der Abschaltung von gleich 9 Kernreaktoren.
Während Frankreich über das ganze Jahr 2022 Elektrizität aus Deutschland importieren musste, wofür eigens ein neues Gesetz verabschiedet wurde, ist das Land Anfang 2023 wieder zum Stromexportland geworden. Stolz meldet Thomas Veyrenc, der für Strategie zuständige Direktor von RTE, seit Anfang Januar 2023 habe Frankreich etwa 2 TWh exportiert. Er „vergaß“ allerdings darauf hinzuweisen, dass dieser Export Frankreich kaum etwas einbrachte, weil er in einer Periode mit starkem Wind und dem entsprechend niedrigen Strompreisen nahe Null Euro erfolgte.
Ob Macrons Minister wirklich den Mut aufbringen werden, beim Merit-Order-System die offene Konfrontation mit Berlin zu riskieren, bleibt fraglich. Immerhin sind die spanische und die portugiesische Links-Regierung dieses Risiko eingegangen, ohne dass etwas passierte. Die beiden Länder hinter den Pyrenäen sind allerdings weniger stark mit Deutschland vernetzt als Frankreich. Dem steht in Frankreich nicht nur das seit längerem sehr aktive und direkt im Zentrum der politischen Macht angesiedelte „Office franco-allemand pour la transition énergétique (OFATE)“ (Deutsch-französisches Büro für die Energiewende), sondern auch die unverbesserliche „Germanolâtrie“ Emmanuel Macrons entgegen. Ohnehin wird es in Frankreich in den kommenden Wochen relativ still werden um das Thema Energiepreiskrise, weil sich alles um den mit Millionen-Demos begonnenen Kampf der linken Gewerkschaften gegen Macrons (moderate) Rentenreform drehen wird.