„Keynes ist der Gewinner des Tages, nicht Milton Friedman“: Ein Interview von Claudio Grass mit dem ehemaligen tschechischen Staatspräsidenten Prof. Dr. Vaclav Klaus
Der Interviewer, Claudio Grass, ist Mises-Botschafter (hier), Gründer von www.claudiograss.ch und ein anerkannter Experte für Geldgeschichte, Wirtschaft und Edelmetalle. Er ist Referent und Publizist für Finanz- und Wirtschaftsfragen und schreibt über globale Märkte, internationale Finanzen, Geopolitik, Geschichte und Wirtschaft. Claudio ist ein leidenschaftlicher Verfechter der freien Marktwirtschaft und der libertären Philosophie. Er folgt den Lehren der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und ist davon überzeugt, dass solides Geld und menschliche Freiheit untrennbar miteinander verbunden sind.
Hier sein Interview mit dem ehemaligen tschechischen Staatspräsidenten Prof. Dr. Vaclav Klaus.
Vielen von uns, egal wie gut sie sich in der Geschichte, in politischen Angelegenheiten oder in sozioökonomischen Fragen auskennen, können die gegenwärtigen Bedingungen im Westen und insbesondere in Europa manchmal wie die Handlung eines schlechten Films erscheinen. Es wird oft gesagt, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, aber sie reimt sich, und das, was wir heute erleben, ist ein gutes Beispiel dafür. Dennoch hätte man erwartet, dass zumindest einige derjenigen, die für die „großen Entscheidungen“ verantwortlich sind, etwas aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hätten – wenn nicht aus den Fehlern ihrer Vorgänger, dann zumindest aus ihren eigenen.
Die derzeitige politische Entwicklung, die lediglich eine Beschleunigung des Trends der letzten Jahrzehnte hin zu einer weiteren Zentralisierung und Konzentration der Macht in den Händen einiger weniger „Gesalbter“ darstellt, ist nun offensichtlich in eine besonders gefährliche Phase eingetreten. Die gezielte Entmachtung des Einzelnen, die Infantilisierung der Politik, die Unterdrückung freier Debatten und die Dämonisierung Andersdenkender haben unsere Gesellschaften und unsere Volkswirtschaften an den Rand ihrer Belastbarkeit gebracht.
In der Ukraine tobt ein echter Krieg mit zahllosen direkten und indirekten Opfern, eine Wirtschaftskrise, wie es sie seit langem nicht mehr gegeben hat, macht den arbeitenden Haushalten zu schaffen. Der „unsichtbare Dieb“, die Inflation, vernichtet alles, was von der Mittelschicht übriggeblieben ist, und zwingt die einstigen Nutznießer der „Foodbaks“, zu deren Nutznießern zu werden. Dabei scheint niemand die Schuld dort zu suchen, wo sie hingehört.
Über solche Überlegungen und Fragen sprachen wir kürzlich mit dem ehemaligen Präsidenten der Tschechischen Republik, Prof. Ing. Václav Klaus. In dem folgenden Interview gibt er viele Denkanstöße und schöpft dabei aus seiner eigenen umfangreichen Erfahrung in der Politik in den schwierigsten Zeiten der jüngeren Erinnerung und aus seinem tiefen Verständnis von Geopolitik, Wirtschaft und der menschlichen Natur.
CG: Obwohl man argumentieren kann, dass sich Europa seit mindestens einem Jahrzehnt in einer Krise befindet, kann man sagen, dass es dieses Mal anders ist. Es herrscht ein echter Krieg vor der Haustür, und jeder zahlt in der einen oder anderen Form den Preis dafür, nicht nur die direkten Kontrahenten. Russlands Vormarsch ist im Wesentlichen zum Stillstand gekommen, während die Risse in der europäischen Wirtschaft und im sozialen Gefüge von Tag zu Tag größer werden. Wie lange kann das Ihrer Meinung nach noch so weitergehen, und was sind Ihre größten Befürchtungen hinsichtlich der Fortsetzung dieses Konflikts?
VK: Ich stimme zu, dass es jetzt anders ist. Die derzeitige Krise ist viel tiefer als die Situationen, die wir (oder die Politiker) in der Vergangenheit unverantwortlicherweise als „Krisen“ bezeichnet haben. Sie ist das Ergebnis einer einzigartigen Kombination von Faktoren und Ursachen. Einige von ihnen sind direkt sichtbar und sorgen für Schlagzeilen, andere sind unsichtbar und werden daher nicht ausreichend offengelegt oder diskutiert. Die erste Gruppe von Faktoren besteht aus Einzelereignissen, während die zweite Gruppe aus langsamen, schrittweisen Veränderungen des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systems besteht. Sie sind statistisch nicht messbar. Niemand kann sie sehen, weil sie in kleinen Schritten ablaufen. Dennoch ist gerade diese zweite Gruppe von Entwicklungen besorgniserregender. Kriege, die Energiekrise und die Massenmigration machen Schlagzeilen, aber systemische Veränderungen nicht. Ich befürchte, dass wir nicht darauf achten, wie weit wir uns bereits von freien Märkten und politischer Demokratie entfernt haben.
CG: Wie wir es bei jedem Konflikt erleben, laufen die Propagandamaschinen auf Hochtouren, und Angstkampagnen verbreiten Panik und Spaltung in der Bevölkerung. Wenige Wochen nach Beginn dieses Krieges und seitdem in zunehmendem Maße wird ein pauschaler Hass auf „den gesamten Westen“ oder „alle Russen“ propagiert. Wie beurteilen Sie solche kollektivistischen Sichtweisen?
VK: Manchmal unterschätze ich fälschlicherweise die Rolle der Propaganda, weil ich glaube, dass ich gegen sie immun bin, weil ich kein Fernsehen schaue oder von den sozialen Netzwerken abgeschottet bin. Ich gebe zu, dass das eine falsche Perspektive ist. Direkte Propaganda ist eine Sache, aber die allgemeine Einseitigkeit und Voreingenommenheit der Medien ist viel schlimmer. Was wir jetzt erleben, ähnelt dem, was wir das letzte Mal in den 1950er und 1960er Jahren erlebt haben. Ich bewundere George Orwell, ich halte ihn für ein Genie und sein Buch „1984″ für eine historische Leistung. Aber ich war immer gegen die hyperbolische und überdramatische Verwendung von Orwellschen Aphorismen zur Beschreibung der realen Welt. Ich hatte Angst, die Situation oder meine Feinde und Gegner zu trivialisieren. Das ist jetzt anders. Orwell ist unmittelbar konkret geworden.
CG: In Europa wird der Ruf nach einem „Marshallplan“ für die Ukraine immer lauter, am lautesten von Bundeskanzler Olaf Scholz und der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen. Der Wiederaufbau der Ukraine wird nach Schätzungen der Weltbank rund 350 Milliarden Dollar kosten. Glauben Sie angesichts der Ergebnisse des ursprünglichen Marshallplans, dass es eine gute Idee wäre, ihn jetzt zu wiederholen?
VK: Als Wirtschaftswissenschaftler glaube ich weder an Marshall-Pläne im Allgemeinen noch an den Marshall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg im Besonderen. Die Bedeutung des ursprünglichen Plans wurde propagandistisch überbewertet. Ich kenne Studien, die seine marginale Rolle belegen. Der Wiederaufbau Europas nach dem Krieg war das Werk von Ludwig Erhard, nicht von George Marshall. Die Rolle der Auslandshilfe ist von Peter Bauer, Deepak Lal und anderen kanonisch dargelegt worden. Ausländische Hilfe gefällt den Gebern mehr als den Empfängern. Ich sehe es jetzt in den Augen der tschechischen Politiker. Es ist nicht ihr eigenes Geld, das sie verschenken.
CG: Während der Krieg die Aufmerksamkeit der Medien und die politischen Reden monopolisiert hat, gibt es noch viele andere Probleme und Bedrohungen, mit denen die Europäer konfrontiert sind, und die meisten davon gab es schon vorher, aber niemand hat sie wirklich beachtet. Die Inflation ist das gravierendste dieser Probleme und zwingt unzählige Haushalte zu unmöglichen Entscheidungen. Westliche Politiker schieben alles auf „Putins Krieg“, aber sind Sie der Meinung, dass insbesondere die Geld- und Finanzpolitiker in der Eurozone selbst Verantwortung übernehmen müssen?
VK: Ich halte die Inflation für das wichtigste Problem dieser Tage. Es geht nicht nur um Putin, sondern auch um den Green Deal und vor allem um die inflationäre Geld- und Steuerpolitik, die nach der Rezession 2008-2009 „normal“ geworden ist. Quantitative Lockerung und Null- (oder Negativ-) Zinssätze in der Geldpolitik der Zentralbanken und Defizitfinanzierung in der Finanzpolitik der Regierungen haben ein makroökonomisches Ungleichgewicht geschaffen. Wir leben in einer inflationären Atmosphäre und können diese ohne grundlegende Änderungen in der Geld- und Finanzpolitik nicht loswerden. Zu meinem großen Bedauern ist Keynes der Gewinner des Tages, nicht Milton Friedman. Das habe ich nicht erwartet, aber das ist die neue Realität. Friedman, nicht Keynes, war mein Held in den dunklen Tagen des Kommunismus, und es ist frustrierend, dass in den hellen Tagen der „schönen neuen Welt“ der EU und der „liberalen Demokratien“ Keynes wieder auf dem Podest steht.
CG: In der EU wurden viele fehlgeleitete politische Maßnahmen ergriffen, die die Öffentlichkeit spalteten und schließlich der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt großen Schaden zufügten, von der Einwanderung bis zur „grünen Agenda“. Im Laufe der Jahre gab es zahlreiche Proteste, aber es hat sich, wenn überhaupt, nur wenig geändert. Erwarten Sie jedoch, dass der öffentliche Zorn dieses Mal heftiger und effektiver sein wird, da immer mehr Menschen darum kämpfen, Essen auf den Tisch zu bringen?
VK: Die EU-Politik ist absolut falsch und daher schädlich. Sie erwähnen mögliche Proteste – ich sehe keine. Europa und der gesamte Westen marschieren nach links, in Richtung Kollektivismus, in Richtung Staatsinterventionismus. Wenn es Proteste gibt, dann richten sie sich gegen den Markt. Es gibt praktisch keine nennenswerten Proteste gegen das europäische System des massiven Staatsinterventionismus, und die bestehenden Proteste können nichts ändern. Es gibt zwar eine Unzufriedenheit, aber keine wirklichen Proteste. Die Menschen glauben immer noch an die Möglichkeit, das Funktionieren des bestehenden Systems zu verbessern, sie nennen es immer noch Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie. Dies ist jedoch keine korrekte Interpretation der aktuellen Situation.
CG: Ich habe im Kommunismus gelebt und direkt erlebt, wie der Staat Angst einsetzt, um die Bevölkerung zu manipulieren und zu kontrollieren, um abweichende Meinungen und offene Debatten mundtot zu machen und um eine Politik durchzusetzen, die kein frei denkender, rationaler Mensch akzeptieren würde. Auch wenn unsere Politiker heute darauf bestehen, dass es in unseren westlichen Demokratien um Freiheit geht, wurden zentrale Werte wie die Redefreiheit oder die finanzielle Souveränität des Einzelnen im Laufe der Jahre zunehmend eingeschränkt. Glauben Sie, dass dies rückgängig gemacht werden kann, oder sind wir dazu bestimmt, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, die Sie miterleben mussten?
VK: Es ist zweifellos umkehrbar, aber ich sehe niemanden, der bereit und in der Lage ist, dies zu tun. Was wir brauchen, sind nicht nur marginale Reformen. Das System muss grundlegend umgestaltet werden, und ich bin mir nicht sicher, ob die Wähler daran interessiert sind. Veränderungen werden kommen, aber nicht in absehbarer Zeit. Ich weiß, es klingt pessimistisch, aber ich denke, dass eine Veränderung nicht für mich oder meine Kinder, sondern erst für meine Enkelkinder zur Aufgabe wird.
Anmerkungen der EIKE-Redaktion
Wir danken dem ehemaligen Tschechischen Staatspräsidenten Dr. Vaclav Klaus ganz herzlich für die freundliche Genehmigung, sein Interview mit Claudio Grass in den EIKE-News abzudrucken (Übersetzung des Englischen Originals (hier) von Prof. Dr. H.-J. Lüdecke).