Rede zur Anhörung der „Stuttgarter Erklärung“ im Petitionsausschuß des Bundestages
Von Prof. Dr. André D. Thess, gefunden bei Vera Lengsfeld
9. November 2022
Sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
Sehr geehrte 58.477 Unterstützer unserer Petition,
Sehr geehrte Damen und Herren,
die phänomenale Sicherheit der Luftfahrt zeigt sich, wenn ein mit 300 Passagieren und 100 Tonnen Treibstoff startender Airbus A350 selbst bei einem unwahrscheinlichen Triebwerksausfall und einem noch unwahrscheinlicheren Herztod des Flugkapitäns vom Ersten Offizier nach einer Platzrunde sicher gelandet werden kann.
Das deutsche Stromnetz ist komplexer als ein Airbus. Ein Blackout fordert mehr Menschenleben als ein Flugzeugabsturz. Das Abschalten von Kernkraftwerken mitten in der Energiekrise ist ein Risiko für 83 Millionen Bürger. Da auch die Bundesregierung dieses Risiko erkannt hat, nimmt sie Kohlekraftwerke wieder in Betrieb. Dies jedoch steht im Widerspruch zu deutschen Emissionszielen. Wie der Expertenrat der Bundesregierung jüngst feststellte, werden wir die Ziele für 2030 mit den derzeitigen Mitteln nicht erreichen.
Um die Öffentlichkeit über diese Risiken aufzuklären und eine Rettungsgasse zu bahnen, haben am 26. Juli 2022 unter Mitwirkung meiner geschätzten Kollegin Anna Veronika Wendland die sechs Professorinnen di Mare, Eckert, Enders, Hentschel, Hillerbrand und Luke sowie die vierzehn Professoren Atakan, Beckmann, Dilger, Hurtado, Kind, Koch, Meyer, Schilling, Schwarz, Steigleder, Stieglitz, Wegner, Wetzel und Thess die Stuttgarter Erklärung gegen den Atomausstieg unterzeichnet. Diese Erklärung ist Grundlage unserer Petition.
Auf der Basis unserer wissenschaftlichen Expertise stellen wir drei Forderungen an unser Parlament:
Wir benötigen erstens einen Weiterbetrieb der drei laufenden Kernkraftwerke über den 15. April 2023 hinaus. Dazu fordern wir die Streichung der Passagen aus §7 des Atomgesetzes, die dem Weiterbetrieb entgegenstehen.
Wir benötigen zweitens für die Energiesicherheit auch die drei stillgelegten Kraftwerke. Dazu fordern wir ein Rückbau-Moratorium und eine rasche Evaluierung der Möglichkeiten ihrer Wiederinbetriebnahme.
Wir benötigen drittens eine Abwägung zwischen den Risiken des Klimawandels und den Risiken der Kernenergie. Dazu fordern wir eine breite öffentliche Debatte auf wissenschaftlicher Basis.
Die Kernenergie ist unsere Schlüsseltechnologie an der Schnittstelle von Versorgungssicherheit und Klimaschutz. Sie vereint zwei Vorteile: Sie ist klimafreundlich wie Sonne und zuverlässig wie Kohle.
Deutschland emittiert pro Kopf doppelt so viel CO2 wie Frankreich. Mit der Rückholung von Kohlekraftwerken und dem Abschalten der CO2-armen Kernenergie wird sich dieses Verhältnis weiter verschlechtern. Auch der Zubau von Erneuerbaren löst das Problem nicht. Denn gesicherte Leistung aus Kernenergie kann nicht durch schwankende Erzeuger ersetzt werden. Wir fordern daher, die Kernenergie neben Sonne und Wind als dritte
Klimaschutzsäule zu nutzen.
Die Zahlen sprechen für sich: Würden wir die sechs betriebsfähigen Kernkraftwerke am Netz halten und Kohle in gleichem Umfang abschalten, könnte Deutschland rund 10% CO2-Ausstoß sparen. Schon ein einziges Kernkraftwerk hat ein dreimal höheres CO2-Minderungspotenzial als ein Tempolimit auf 120 km/h!
Ich möchte meinen Appell mit einem Zitat aus Kapitel 2.4.2. des IPCC-Berichts von 2018 beschließen:
„Einige Charakteristiken der Energieversorgung sind in den 1,5-Grad-Szenarien dieses Kapitels evident: ein wachsender Anteil von Energie, die aus CO2-armen Quellen ein schließlich erneuerbarer Energie, Kernenergie und fossiler Energiequellen mit CO2-Abscheidung gewonnen wird.“
Ein Beschluß über den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke ist ein kleiner Schritt für 736 Bundestagsabgeordnete, aber ein großer Schritt nach vorn für 83 Millionen Bürger unseres Landes.
Lassen Sie uns diesen klimaschädlichen nationalen Alleingang beenden!
Vera Lengsfeld kommentiert die Rezeption der Rede:
Es war eine Lehrstunde dafür, wie faktenresistent die Ampelregierung handelt und daß die Parlamentarier bis auf Ausnahmen vergessen haben, was ihre Aufgabe ist – der Regierung kritisch auf die Finger zu schauen. (…)
In der Anhörung galten strenge Regeln. Genau begrenzte Redezeiten für die Fragesteller und die Antwortenden. Eingehalten wurden die aber nur von Prof Thess und Anna Veronika Wendland, die er sich an die Seite geholt hatte. Die SPD richtete wenigstens noch eine Frage an Prof. Thess, die anderen aber an die Regierung. Das ist ein beliebtes Mittel, die Petenten nicht zu Wort kommen zu lassen.
Die Grünen trieben es auf die Spitze, die fragten nur die Staatssekretäre und zwar so, dass die bequem ihre ideologischen Positionen über die „Risikotechnologie, den „nationalen Konsens über den Atomausstieg nach Fukushima“ und die Richtigkeit des Atomausstiegs abspulen konnten.