Europa steht vor dem Winter und vor einer Klippe
Brenda Shaffer via Cornwall Alliance.
Angesichts der schlimmsten Energiekrise seit dem Zweiten Weltkrieg und des Beginns der Heizperiode zaudert Europa weiter. Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen hat eine Reihe neuer energiepolitischer Maßnahmen der Europäischen Union vorgestellt, darunter geplante Preisobergrenzen, zusätzliche Steuern für Energieerzeuger, die Einrichtung einer neuen europäischen Wasserstoffbank und neue Unterstützung für Elektrofahrzeuge. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verstaatlichen unterdessen Energieversorger, legen Strompreise fest und subventionieren die Verbraucher. Diese EU-Politik stellt keine wesentliche Abkehr von der Politik dar, die den Kontinent überhaupt erst in das Energie-Chaos geführt hat.
Das grundsätzliche Problem ist, dass sich Europa immer noch nicht mit den Ursachen seiner Energiesicherheitskrise auseinandersetzt, sondern es vorzieht, äußere Kräfte für seine derzeitige missliche Lage verantwortlich zu machen. Von der Leyen und andere europäische Politiker machen Russland und seinen Krieg gegen die Ukraine für Europas Energiesorgen verantwortlich. Dass der russische Präsident Wladimir Putin die Gashähne zugedreht hat, hat die Lage zweifellos verschlimmert, aber dies wird bereits der dritte Winter sein, in dem Europa eine Energiekrise erlebt. Bereits in den Wintern 2020-2021 und 2021-2022 kam es in Europa zu erheblichen Preissteigerungen bei Strom und Erdgas sowie zu einer Gasverknappung, die zu einem verstärkten Einsatz von Kohle und Heizöl führte. Die europäischen Politiker haben dies entweder nicht zur Kenntnis genommen oder es vorgezogen, den Kurs nicht zu ändern.
Solange so viele Menschen in Europa und anderswo glauben, dass die energiepolitische Misere des Kontinents nur auf Putin zurückzuführen ist, ist es hilfreich, sich über die Politik, die Europa in diese Krise geführt hat, im Klaren zu sein. Zu wissen, was das Problem verursacht hat, ist der erste Schritt zur Lösung des Problems.
Die Krise in Europa hat sich über zwei Jahrzehnte entwickelt. Mit dem Ziel, einen schnellen Übergang von fossilen Brennstoffen und Kernenergie zu erneuerbaren Energiequellen zu schaffen, erzwangen die europäischen Politiker tiefgreifende Veränderungen in der Energieversorgung. Gleichzeitig ignorierten sie die Prognosen für die anhaltende Nachfrage nach Erdöl und Erdgas sowie den Bedarf an einer zuverlässigen Grundlast-Brennstoffquelle zur Unterstützung der intermittierenden Sonnen- und Windenergie. Viele EU-Mitgliedstaaten fuhren die heimische Produktion fossiler Brennstoffe zurück und schränkten die Importe ein, mit der bemerkenswerten Ausnahme von Gas aus Russland. Deutschland, das selbst über beträchtliche Gasvorkommen verfügt, verbot das Fracking, ebenso wie Frankreich und andere Länder. In den letzten zehn Jahren hat sich die einheimische Erdgasproduktion in Europa halbiert, und heute machen Importe 83 Prozent des europäischen Gasverbrauchs aus.
Unter dem Druck von Aktivisten und grünen Parteien haben sich Deutschland und mehrere andere Länder ebenfalls für den Ausstieg aus der Kohlenstoff-freien Kernenergie entschieden, obwohl die Sicherheitsbilanz tadellos ist. Die heute von Europa vorgeschlagenen Obergrenzen für Gas- und Strompreise sowie neue Abgaben für Energieerzeuger werden die Versorgung weiter einschränken und gleichzeitig die Verbraucher vor hohen Preisen schützen, die sie dazu veranlassen könnten, den Thermostat zu senken und das Licht auszuschalten.
Die europäische Politik der Blockierung von Gaslieferungen hat zu Engpässen geführt, die vor zwei Wintern erste Preisspitzen verursachten. In dem Glauben, bald ohne Gas auskommen zu können, hat Europa auch langfristige Verträge für Importe blockiert, mit dem Ergebnis, dass Europa an Gasmangel leidet, obwohl es von einigen der größten Gasreserven der Welt umgeben ist – nicht nur in Russland, sondern auch in Nordafrika, Zentralasien und anderen Regionen. Die EU hätte sich leicht den Zugang zu zuverlässigen Gaslieferungen zu erschwinglichen Preisen sichern können, ist aber nun stattdessen vom teuren Spotmarkt abhängig. Selbst heute, da europäische Beamte weltweit nach neuen Gasmengen suchen, weigern sie sich, langfristige Verträge mit den umworbenen Produzenten zu unterzeichnen. Die letzte Woche war ein typisches Beispiel dafür: Zwei Jahre nach Europas Energiekrise und sieben Monate nach Russlands Krieg in der Ukraine kehrte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz von einer Reise nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate mit einer Vereinbarung über nur eine einzige Tankerladung Flüssiggas zurück, statt der langfristigen Lieferungen, die das Land dringend benötigt, um seine Bürger warm und die Fabriken am Laufen zu halten.
Europa hat sich noch immer nicht mit den Folgen seiner vor zehn Jahren getroffenen Entscheidung für den Ausstieg aus dem Erdgas auseinandergesetzt. In den 1990er und 2000er Jahren war [der Verbrauch von] Erdgas der am schnellsten wachsende Brennstoff in Europa und weltweit. Gas war aufgrund seiner relativ geringen Emissionen und seines bis vor kurzem wettbewerbsfähigen Preises sehr gefragt. Die Umstellung von Kohle auf Erdgas war auch der schnellste und billigste Weg zur Senkung der Kohlenstoff-Emissionen: Infolge der Schiefergas-Revolution konnten die Vereinigten Staaten ihre Kohlenstoff-Emissionen ohne staatliche Eingriffe rasch senken. Vor etwa einem Jahrzehnt jedoch verstärkten die Gegner fossiler Brennstoffe ihre Kampagnen gegen Erdgas. Das Ergebnis war: Europa stieg aus langfristigen Gasverträgen aus.
In der europäischen Energiepolitik übertrumpft die Ideologie die mathematischen Grundlagen. Wenn man aus der Kernenergie und der Kohle aussteigt und das Erdgas ausbremst, aber weniger Energie aus erneuerbaren Energieträgern hinzufügt, als man abzieht, kommt es zu einer Verknappung. Hinzu kommt, dass bei allen Versuchen, einen schnelleren Übergang zu Wind- und Solarenergie zu erzwingen, wichtige Ressourcen- und Technologiebeschränkungen ignoriert werden: Diese Energiequellen erfordern einen enormen Flächenverbrauch, kritische Materialien und Hardware (auch aus China) sowie entweder Reservestrom oder nicht vorhandene Speicher. Und schließlich ignorieren die politischen Entscheidungsträger bei ihrer erzwungenen Umstellung die Prognosen über die anhaltende Nachfrage nach fossilen Brennstoffen, u. a. für den Verkehr, die Industrie, das Heizen und die Reservestromversorgung für unvorhersagbare Wind- und Sonnenenergie.
Trotz der Berechnungen, der Daten und einer zwei Jahre alten Energiekrise, die sich seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar drastisch verschärft hat, folgen die europäischen Politiker einander weiterhin wie Schafe. Als ob die Energiekrise nicht schon da wäre, kündigten die Niederlande diese Woche an, dass sie die Gasproduktion im riesigen Groningen-Feld weiter reduzieren werden. Deutschland hält an seinem Fracking-Verbot und dem Ausstieg aus der Kernenergie fest, während Belgien letzte Woche ein Kernkraftwerk abgeschaltet hat, das einen erheblichen Teil des Strombedarfs des Landes deckt – und das, obwohl die Belgier auf der Straße gegen die explodierenden Energiepreise protestieren. Diese Länder könnten sich stattdessen ein Beispiel an Liz Truss, der neuen britischen Premierministerin, nehmen: Eine ihrer ersten Ankündigungen nach ihrem Amtsantritt war eine neue Energiepolitik, die eine Wiederaufnahme der Offshore-Öl- und Gasexploration und eine Aufhebung des Fracking-Verbots in ihrem Land vorsieht.
Anstatt den Kurs zu ändern, haben die europäischen Politiker ihre Investitionen in Solar- und Windenergie sowie in Elektrofahrzeuge verdoppelt. „Die erneuerbaren Energien sind billig, sie sind einheimisch, sie machen uns unabhängig“, sagte von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union Anfang des Monats. Dies ist ein klarer Widerspruch zu den Tatsachen: Europa muss erst noch dafür sorgen, dass erneuerbare Energien ohne Subventionen und fossile Reservestromquellen funktionieren, sie erfordern Ressourcen-intensive globale Lieferketten und sie bringen ihre eigenen geopolitischen Herausforderungen und Abhängigkeiten mit sich, genau wie fossile Treibstoffe.
[Hervorhebungen vom Übersetzer]
Die europäischen Staats- und Regierungschefs sind sich bewusst, dass ihre Energiemarktkonzepte nicht funktionieren. Die nationalen Regierungen retten kollabierende Versorgungsunternehmen oder verstaatlichen sie ganz. Die meisten legen jetzt die Strom- und Gaspreise für die Kunden fest. Darüber hinaus haben die hohen Kohlenstoffkosten in Europa die Versorgungsunternehmen nicht davon abgehalten, stillgelegte Kohlekraftwerke wieder zu befeuern und die Strom- und Wärmeversorgung von Gas auf Heizöl umzustellen. Von der Leyen wies in ihrer Rede zu Recht darauf hin, dass sich die europäischen Gaspreise heute an den hohen Kosten für LNG und nicht an den niedrigen Kosten für Pipeline-Gas orientieren und dass das Benchmark-System reformiert werden muss. Europa muss sich noch mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der Umstellung des Marktes auf höhere LNG-Preise befassen.
Anstatt sich mit Dringlichkeit und Laserschärfe auf diese Fragen zu konzentrieren – und Fehlentscheidungen wie den Ausstieg verschiedener Länder aus der Kernenergie rückgängig zu machen -, treiben die europäischen Staats- und Regierungschefs weiterhin neue Projekte voran, die nicht erprobt und weit davon entfernt sind, wirtschaftlich tragfähig zu sein. Ihre derzeitige Lieblingstechnologie ist Wasserstoff: Von der Leyen kündigte kürzlich weitere EU-Fördermittel und die Einrichtung einer Europäischen Wasserstoffbank an. Wasserstoff ist jedoch noch nicht kommerziell nutzbar, es bestehen ernsthafte Sicherheitsbedenken hinsichtlich seiner Verwendung und seines Transports, und seine Produktion und die unvermeidlichen Leckagen könnten erhebliche Auswirkungen auf das Klima und die Umwelt haben.
Wären die europäischen Politiker ehrlicher, wenn es um die hausgemachten Ursachen ihrer Energiekrise ginge, wäre die richtige Politik klar. Erstens muss die EU ihren Energieabnehmern erlauben und sie sogar dazu ermutigen, langfristige Gasimportverträge zu unterzeichnen, die in der Regel mehr als ein Jahrzehnt laufen. Dies würde es den Erzeugern ermöglichen, in die Produktion und den Transport von speziellen Gasmengen für Europa zu investieren. Der Ausstieg aus der Kernenergie sollte, wo immer möglich, rückgängig gemacht werden. Als nächstes sollte Europa bei der Entwicklung erneuerbarer und kohlenstoffarmer Energiequellen technologieneutral vorgehen, anstatt umfangreiche Subventionen für bestimmte, von Politikern und Bürokraten ausgewählte Technologien bereitzustellen.
Darüber hinaus sollten Brüssel und die europäischen Regierungen dem Erdgas einen neuen Stellenwert einräumen, einschließlich einheimischer Quellen, wie es Großbritannien jetzt tut. Moderne Erdgasprojekte setzen kein Methan frei wie frühere Generationen, und die Umstellung von Kohle auf Gas ist immer noch der schnellste und effizienteste Weg, um sowohl die Umweltverschmutzung als auch die Kohlenstoff-Emissionen zu senken. Darüber hinaus braucht die europäische Politik einen langfristigen Plan für Grundlast-Treibstoffe zur Stromerzeugung in Verbindung mit Sonnen- und Windenergie. Da sie keine konstante und vorhersehbare Strommenge erzeugen, können Solar- und Windenergie niemals grundlastfähige Energieträger wie Kernkraft und Erdgas ersetzen. Diese Quellen müssen Hand in Hand gehen.
Europa braucht einen völlig neuen Ansatz für das Energiemarktdesign. Vor allem muss es dringend die Ideologie durch die Praxis ersetzen. Andernfalls werden die Europäer noch viele weitere Krisenwinter erleben – egal, was Putin tut.
This piece originally appeared at ForeignPolicy.com and has been republished here with permission.
Brenda Shaffer is a faculty member at the U.S. Naval Postgraduate School, a senior advisor for energy at the Foundation for Defense of Democracies, and a senior fellow at the Atlantic Council’s Global Energy Center.
Link: https://cornwallalliance.org/2022/10/with-winter-coming-europe-is-walking-off-a-cliff/
Übersetzt von Christian Freuer für das EIKE