In Amerika dürfen die ersten Kernkraftwerke acht Jahrzehnte am Netz bleiben. Eine so lange Laufzeit könnte auch für die Schweizer Werke Gösgen und Leibstadt in Frage kommen. Das würde die Probleme des Landes mit der künftigen Stromversorgung erheblich verringern.

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von Alex Reichmuth

Es sollen 80 Jahre sein. Im letzten Mai bekam das US-Unternehmen Dominion Energy von der Regulierungsbehörde Nuclear Regulatory Commission (NRC) die Genehmigung, seine beiden Blöcke des Atomkraftwerks Surry in Virginia 20 Jahre länger am Netz behalten zu dürfen. Bisher waren 60 Jahre vorgesehen. Die Reaktoren sollen nun maximal bis 2052 bzw. 2053 laufen.

In den USA können die Atomkraftbetreiber bei der NRC Laufzeitverlängerungen um jeweils 20 Jahre beantragen. Die ursprünglich vorgesehene Laufzeit für einen Atomblock beträgt immer 40 Jahre. 88 der 96 Reaktoren in Amerika verfügen inzwischen über eine Bewilligung für 60 Jahre. Und Dominion Energy ist mittlerweile der dritte Betreiber, der seine Blöcke nun sogar 80 Jahre laufen lassen kann.

«Das Alter ist nur eine Zahl»

Die Blöcke Turkey Point-3 und -4 des Unternehmens Florida Power&Light waren 2019 weltweit die ersten Reaktoren, die eine Erlaubnis für 80 Jahre Betrieb erhielten. «Die amerikanischen Kernkraftwerke zeigen, dass das Alter nur eine Zahl ist», liess das US-Energieministerium damals verlauten. Die Sicherheit der Anlagen spiele eine viel wichtigere Rolle als das Alter. Später gestand das NRC auch den Blöcken Peach Bottom-2 und -3 in Pennsylvania 80 Jahre zu.

In der Schweiz gelten keine festen Laufzeiten für die vier Atomreaktoren, die noch in Betrieb sind. Solange ihre Sicherheit gewährleistet ist, dürfen sie weiterlaufen. Darüber wacht das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi). Für die Dauer am Netz ist neben der Sicherheit entscheidend, wie lange sich der Betrieb angesichts der ständig geforderten Sicherheitsnachrüstungen wirtschaftlich lohnt. Der Energiekonzern BKW nahm Ende 2019 das Kernkraftwerk Mühleberg aus ökonomischen Gründen vom Netz.

Die Schweizer AKW wurden regelmässig nachgerüstet

Für die Schweizer Atomkraftwerke ging man ursprünglich von einer Laufzeit von 40 Jahren aus. Beznau 1 und 2 sind nun allerdings bereits 53 bzw. 50 Jahre am Netz. Bei Gösgen sind es 43 und bei Leibstadt 38 Jahre. Momentan rechnen die Betreiber mit einer maximalen Laufzeit von 60 Jahren. Das Kernenergiegesetz verlangt von den Betreibern ab dem 40. Betriebsjahr regelmässige Langzeit-Sicherheitsstudien.

AKW-Gegner bezeichnen vor allem die älteren Werke in Beznau gerne als «Schrottreaktoren». Die Betreiber haben die Reaktoren aber regelmässig nachgerüstet und modernisiert. Insbesondere nach den Unfällen in Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) gab es tiefgreifende Sicherheitsprüfungen, die zu weiteren Investitionen führten. Gemäss den Betreibern und dem Ensi befinden sich die Werke auf dem aktuellsten Sicherheitsstand für Reaktoren der Generation II, zu der sie gehören. Sie sind deshalb heute sicherer als bei Betriebsbeginn.

AKW-Betreiber geben sich zurückhaltend

Die Frage drängt sich also auf: Können die Schweizer AKW ebenfalls bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben? Die jüngeren Werke in Gösgen und Leibstadt würden in diesem Fall bis 2059 bzw. 2064 Strom produzieren und damit die Umsetzung der Energiestrategie 2050 des Bundes überdauern.

Beim Energiekonzern Axpo, der die beiden Blöcke in Beznau betreibt und an den Werken in Gösgen und Leibstadt beteiligt ist, gibt man sich zurückhaltend. Man beabsichtige, die AKW zu betreiben, «solange Sicherheit und Wirtschaftlichkeit gegeben sind». Derzeit gehe man von einer Laufzeit von 60 Jahren aus. «Darüber, ob Laufzeiten über 60 Jahre möglich wären, hat Axpo bisher keine Untersuchungen angestellt.»

Auch beim Branchenverband Swissnuclear versucht man, den Ball flach zu halten. «Wie lange die Schweizer Kernkraftwerke letztlich in Betrieb bleiben dürfen, wird das Ensi von Fall zu Fall zu gegebener Zeit entscheiden», heisst es auf Anfrage. Immerhin soviel: «Wir sprechen bereits davon, dass 60 das neue 40 ist. Dass 80 das neue 60 werden könnte, ist denkbar.»

«80 Betriebsjahre sind nicht ausgeschlossen»

Die AKW-Betreiber haben derzeit wenig Interesse, eine Debatte über die Laufzeit ihrer Werke zu lancieren, die ihnen erneut Vorwürfe von wegen «Schrottreaktoren» einbringen könnte. Freier äussert sich dagegen Johannis Nöggerath, ein profunder Kenner der Schweizer Kernkraftwerke. Der Ingenieur ist ehemaliger Abteilungschef des Ensi und war zehn Jahre lang Leiter der Sicherheitsanalytik des KKW Leibstadt. Zudem präsidierte er die Schweizerische Gesellschaft der Kernfachleute.

«Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Werke in Gösgen und Leibstadt 80 Betriebsjahre alt werden können», sagt Nöggerath. «Bei Beznau kann ich mir immerhin 70 Jahre vorstellen. Surry 1 aus den frühen 1970er-Jahren ist ja fast genauso alt.» Allerdings gebe es Bedingungen an so lange Laufzeiten: «Man muss sich bestimmte technische Aspekte genau ansehen, wie zum Beispiel die Abnahme der Zähigkeit des Reaktordruckgefässes durch die sukzessive Neutronenbestrahlung aus dem Reaktorkern.» Es gebe hier «regulatorische Grenzkriterien», die eingehalten werden müssten.

Für den Ersatz des Atomstroms bliebe mehr Zeit

Abgesehen von den technischen und wirtschaftlichen Bedingungen für eine Laufzeit von 80 bzw. 70 Jahren müssen gemäss Nöggerath auch gesellschaftliche Voraussetzungen gegeben sein. «Es ist entscheidend, dass weiterhin genügend Fachleute mit dem nötigen Knowhow bereitstehen.» Da sei er aber optimistisch: «Das Interesse an Kerntechnik bei jungen Leuten befindet sich seit einiger Zeit wieder im Aufwind.»

«Man kann den Bau neuer Kernkraftwerke als Generationenprojekt sehen, vergleichbar mit dem Bau der Neuen Alpentransversale durch den Gotthard.»

Johannis Nöggerath, ehemaliger Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kernfachleute

Könnten die Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt weit über das Jahr 2050 hinaus produzieren, würde das die Energieperspektiven der Schweiz entscheidend verbessern. Es müsste erst viel später ein Ersatz für den Strom dieser beiden Werke gefunden werden. Diese liefern heute zusammen fast 30 Prozent der Elektrizität des Landes. Für den Ausbau erneuerbarer Energie bliebe mehr Zeit. Eventuell könnte die Schweiz auch rechtzeitig Ersatz-AKW bauen, sofern das gesetzliche Neubauverbot gestrichen würde.

Neue AKW 100 Jahre in Betrieb?

Solche neuen Atomkraftwerke, die dann zur Generation III oder sogar IV zählen würden, könnten unter Umständen sogar noch länger Strom als die heutigen Werke erzeugen. «Aus technischer Sicht sind selbst 100 Betriebsjahre nicht mehr ausgeschlossen», sagt Johannis Nöggerath. Voraussetzung dafür sei, dass die betreffenden Länder langfristig als High-Tech-Gesellschaften erhalten blieben, um einen verantwortungsvollen Betrieb zu gewährleisten.

Der Bau von einem oder mehreren neuen Kernkraftwerken würde finanzielle Investitionen im zweistelligen Milliardenbereich bedingen. Ohne Beteiligung des Staates geht es auch aus der Sicht von Johannis Nöggerath nicht. Davon profitieren könnten im besten Fall aber drei Generationen. Ihre Stromversorgung wäre gesichert. «Man kann es gesellschaftlich mit dem Bau der Neuen Alpentransversale durch den Gotthard vergleichen», betont der Kernfachmann. Die Werke würden für die nächsten Generationen erstellt.

Der Beitrag erschien zuerst im Schweizer Nebelspalter hier

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