Kernenergie: Der Osten führt, Europa fährt vor die Wand
Fred F. Mueller
In den letzten Jahrzehnten hat sich ein wenig beachteter, dafür aber umso wichtigerer Unterschied zwischen Asien und Europa herausgebildet: Die jeweilige Einstellung zum Klimawandel und zur Kernenergie. In ihrem Kreuzzug gegen die drohende „Klimakatastrophe“ konzentrieren sich die meisten europäischen Länder auf die Verringerung ihrer Kohlenstoffemissionen. Deutschland geht dabei vorneweg. Als erster Schritt werden hier die Kernkraftwerke vernichtet. Noch bevor dies abgeschlossen ist, werden auch schon die Kohlekraftwerke nach und nach stillgelegt. Das Endziel ist eine Netto-Null-Nation, die ausschließlich „erneuerbare“ Energien, vor allem Sonne und Wind, verwenden soll. Ein grüner Traum, der sich für die Bürger schon jetzt zunehmend in einen Albtraum verwandelt.
In krassem Gegensatz dazu haben es die weitaus pragmatischeren östlichen Länder vorgezogen, eher Lippenbekenntnisse abzugeben und sich um ihre Bevölkerung zu kümmern. Anstatt ihre Energieinfrastruktur lahmzulegen, entscheiden sie sich zunehmend für die Kernenergie. Immer mehr Länder verfügen bereits über Kernkraftwerke oder stehen kurz davor. Auf diesem Gebiet hat Russland eindeutig die Führung übernommen, gefolgt von China, Südkorea und Japan. Diese vier Länder haben jeweils eigene Nukleartechnologien entwickelt und damit begonnen, diese zu exportieren. Unter ihnen stechen zwei Giganten hervor: Russland als eindeutiger Weltmarktführer im Bereich des Exports von Kernkraftwerken sowie China, das noch recht neu auf dem Markt ist, aber über das Potenzial verfügt, sich hier schnell zu einem weiteren wichtigen Akteur zu entwickeln.
Russland
Russland hat im Bereich der nuklearen Hochtechnologie drei entscheidende Vorteile: Es fällt nicht auf den CO2-Klimaschwindel der großen Bosse der US-Finanzgiganten herein 2) und verfügt als einer der frühesten und größten Akteure im Bereich der Kernkraft und der Atomwaffenherstellung über eine große Nuklearindustrie. Diese meistert alle Stufen des nuklearen Kreislaufs wie Bergbau, Anreicherung und Brennstoffaufbereitung, Engineering, Maschinenbau und Energieerzeugungsanlagen bis hin zu nuklearen Dienstleistungen, Wartung, Brennstoff-Wiederaufbereitung und einem geschlossenen Brennstoffkreislauf.
Dritter Pluspunkt ist, dass das riesige Land über einen unglaublichen Reichtum an Bodenschätzen und natürlichen Ressourcen aller Art verfügt, darunter einige der weltweit größten Reserven an fossilen Brennstoffen. Russland ist ein Energie- und Rohstoffgigant ersten Ranges und hat diese Vorteile systematisch ausgebaut, um eine führende Rolle beim Energieexport – einschließlich des Exports von Kernkraftwerken – zu übernehmen.
Energiereichtum und technologischer Vorsprung
Hier zunächst ein Blick auf Russlands Energieressourcen, wie sie in einem 2021 aktualisierten Bericht der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO)3) aufgeführt sind:
Derzeit betreibt Russland 38 Reaktoren in 11 Kernkraftwerken, die 20,7 % zur Stromerzeugung beitragen. Den größten Beitrag leistet Erdgas, welches das Land jedoch lieber ins Ausland verkaufen würde, wo wesentlich höhere Preise erzielbar wären. Die aktuellen Planungen sehen daher bis 2030 einen Anteil der Kernenergie an der Stromversorgung von 25-30 % vor. Dieser soll bis 2050 auf 45-50 % und bis zum Ende des Jahrhunderts auf 70-80 % steigen. Die in Betrieb befindlichen Reaktoren reichen von älteren Modellen aus der Sowjetzeit über aktuelle Systeme der Generation III bis hin zu fortschrittlichen Konzepten wie „schnellen“ Reaktoren der Serie BN 600-800-1200. Eine weitere Generation „schneller“ Modelle, die mit Natrium und Blei-Wismut gekühlt werden, ist bereits in Planung. Ergänzt wird die Liste durch kleine modulare Reaktoren wie die im schwimmenden Kraftwerk „Akademik Lomonosov“. Die Lebensdauer der neuen Reaktormodelle beträgt in der Regel 60 Jahre. Ein beständiger Nachschub an gut ausgebildeten Fachleuten wird durch Ausbildungszentren und technische Hochschulen sichergestellt, die jährlich etwa 18.000 Techniker und Akademiker hervorbringen.
Eine überzeugende Bandbreite an Technologien und Dienstleistungen
Die Nuklearindustrie des Landes bietet ein Niveau an Qualifikationen, Technologien und Dienstleistungen wie kaum ein anderes Land. Dies gilt auch für das Preisniveau. In einer von der World Nuclear Association 4) zusammengestellten Übersicht werden Inlandspreise von 2050-2450 US-$/kW und eine Bauzeit von 54 Monaten genannt. Für den schnellen Reaktor BN 1200 wird ein Inlands-Energiepreis von 2,23 ct/kWh angegeben, während für Exportreaktoren vom Typ VVER länderabhängig meist 50-60 US-$ pro MWh genannt werden.
Die von Russland angebotenen Komplettpakete „von der Wiege bis zur Bahre“ sind vor allem für Länder der zweiten und dritten Welt sehr attraktiv, nicht zuletzt auch deshalb, weil zum Paket auch Rücknahme und Aufbereitung/Entsorgung abgebrannter Brennelemente gehören. Da alle Konstruktionsprojekte aktuellen internationalen Anforderungen sowie den Empfehlungen der IAEO entsprechen, gehen die Abnehmer kaum Risiken ein. Man vergleiche dies mit dem beklagenswerten Zustand der Nuklearbranchen in der westlichen Welt, wo Unternehmen wie Siemens, Areva oder Westinghouse mit erschreckenden Verzögerungen sowie Kostenüberschreitungen zu kämpfen haben. Kein Wunder also, dass die russische Atomenergiegesellschaft Rosatom auf dem ersten Platz bei der Zahl der gleichzeitig durchgeführten Projekte zum Bau von Kernreaktoren im Ausland steht (35 Blöcke in verschiedenen Realisierungsstadien). Im Jahr 2020 belief sich der Gesamtwert der Auslandsaufträge von Rosatom auf über 138 Milliarden US-Dollar.
Chinas Aufholjagd
Als künftig wahrscheinlich zweitstärkster Anbieter zeichnet sich China ab, obwohl das Land mit der Entwicklung seiner Nukleartechnik viel später begonnen hat und weder über den gleichen Erfahrungsschatz noch die gleiche Technologiebandbreite verfügt. Ungeachtet dieser Defizite hat das Land eine erstaunliche Lernkurve durchlaufen und in der Zwischenzeit eine Reihe moderner Reaktortypen wie den Hualong One, einen Druckwasserreaktor der III Generation, entwickelt und in Betrieb genommen. Nach einem ersten Auftrag aus Pakistan ist es China kürzlich gelungen, auch Argentinien von diesem Modell zu überzeugen. Weitere interessante Entwicklungen, darunter das erste kommerziell aktive gasgekühlte Hochtemperatur-Kernkraftwerk (Kugelhaufenreaktor PBR) 5) sowie ein kleiner modularer Reaktor, sind in der Pipeline. In Anbetracht der beeindruckenden Erfolgsbilanz chinesischer Maschinenbau- und Bauprojekte in vielen Ländern rund um den Globus werden die Chinesen auch in diesem Bereich wahrscheinlich bald fest Fuß fassen.
Bild 5. Kontrastprogramm. Für den Kampf gegen CO2-Emissionen schließt Deutschland seine letzten Kernreaktoren, um stattdessen Tausende Windenergieanlagen zu errichten (Foto: Gudrun Ponta))
Ein weltweit riesiger Markt
Die westlichen Länder einschließlich der USA müssen dagegen feststellen, dass ihre Politik der Behinderung des Rohstoffsektors, wozu auch die Förderung fossiler Brennstoffe zählt, dabei ist zu scheitern. Das „Liegenlassen im Boden“ dürfte zum Bumerang werden. Um ihre Wirtschaft anzukurbeln, Arbeitsplätze zu schaffen und ihre wachsende Bevölkerung zu ernähren, benötigen die Länder der Dritten Welt sowie die sich entwickelnden Nationen vor allem billige, zuverlässige Energie. Die „Netto-Null“-Kampagne, mit der im Westen den Rohstoffproduzenten der Geldhahn zugedreht wurde, hat schon jetzt zu einem dramatischen Anstieg der Preise sowohl für Energie als auch für Rohstoffe geführt. Die durch die Politik erzwungene künstliche Verknappung aufgrund der unterbliebenen Investitionen in die Erschließung neuer Vorkommen dürfte noch über Jahre anhalten. Infolgedessen beginnen Politiker überall auf der Welt, ihre Energieversorgungsstrategien neu zu überdenken. Für Länder, die eine zuverlässige Versorgung benötigen, sind „erneuerbare“ Energiequellen wie Solar- und Windenergie einfach keine Alternative. Deshalb zeichnet sich bereits jetzt bei der Kernenergie ein Nachfrageboom ab. Und dank der Grünen und der Gretas unserer Zeit befinden sich Russland und China auf diesem Markt in einer hervorragenden Ausgangsposition. Die Nachfrage wird so massiv sein, dass nur Länder mit einer großen, gut funktionierenden Industrie, ausreichender Finanzkraft und einem großen Potenzial an Fachkräften in der Lage sein werden, daran in vollem Umfang zu partizipieren. Kleinere Anbieter dürften schon allein von den geforderten Kapazitäten her überfordert werden. Allein schon Ausbildung und Training der benötigten Fachleute dauern mehr als ein Jahrzehnt. Selbst Frankreich als letzter verbliebener europäischer KKW-Anbieter dürfte von der künftigen Nachfrage bei weitem überfordert werden.
Einen Dammbruch in Richtung dieses Zukunftsszenarios dürften die jüngsten Entscheidungen in Frankreich einleiten. Obwohl das Land bereits über 56 Kernkraftwerke verfügt, hat Präsident Macron gerade beschlossen, den Bau von bis zu 14 weiteren Anlagen anzuordnen. Mit rund 65 Millionen Einwohnern hat die „Grande Nation“ etwas weniger als ein Prozent der Erdbevölkerung. Rechnet man dieses Verhältnis auf die ganze Welt hoch, ergibt sich bis 2050 ein Marktpotenzial von möglicherweise 1.500 Kernkraftwerken.
Wechseln „smart money“-Investoren ins Uranlager?
Angesichts dieser Entwicklungen und unter Einbeziehung der aktuellen politischen Spannungen rund um Russland und die Ukraine muss man sich fragen, wieso sich Russland durch Sanktionsdrohungen gegen seine Europa-Pipelines einschließlich Nordstream 2 beeindrucken lassen sollte. Am Öl- und Gasmarkt gibt es schließlich eine Menge Anbieter und damit Konkurrenten. Im Gegensatz dazu könnte kein europäisches Land im aufkommenden weltweiten Nukleargeschäft mit Russland oder China mithalten. Russland könnte möglicherweise sogar den Verlust seiner deutschen und selbst seiner europäischen Gaseinnahmen verschmerzen und sich künftig auf seine Nukleargeschäfte konzentrieren. Für Europa wären die Folgen eines Lieferstopps dagegen äußerst schmerzhaft.
Die Potenziale dieser sich abzeichnenden Renaissance der Kernenergie scheinen inzwischen die Aufmerksamkeit des einen oder anderen „smart money“-Investors erregt zu haben. Am Kapitalmarkt macht sich augenscheinlich eine gewisse Ernüchterung wegen der schlechten Wertentwicklung bei Technologiepapieren wie Tesla oder Facebook breit. Dies könnte ein Grund für die kombinierte Wertentwicklung einer Auswahl kanadischer Uranminen-Gesellschaften sein. Nach einem langjährigen Rückgang ist hier seit etwa März 2020 ein markanter Kursanstieg zu beobachten, Bild 6.
Fred F. Mueller
Quellen
1)https://commons.wikimedia.org/wiki.jpg
3)https://cnpp.iaea.org/countryprofiles/Russia/Russia.htm