Die Abkehr von Atom- und Kohlestrom hat Konsequenzen: Energiespezialisten haben errechnet, dass bis 2030 Gaskraftwerke mit einer Leistung von 23 Gigawatt nötig sind, um in Deutschland die Stromversorgung zu sichern. Das ist 23 Mal soviel «Pfuus», wie das Atomkraftwerk Gösgen liefert.

von Alex Reichmuth

In der Schweiz wird wieder über den Bau von Gaskraftwerken gesprochen. Weil die Anlagen der erneuerbaren Energie (vor allem Windräder und Solarpanels) voraussichtlich nicht in der Lage sind, nach dem Abschalten der Atomkraftwerke genügend Strom zu liefern, geht es nun darum, die Gefahr von Blackouts und Strommangellagen abzuwenden. So lässt der Bundesrat bei der Eidgenössischen Elektrizitätskommission derzeit ein Konzept für den Bau von Gaskraftwerken erarbeiten. Christoph Brand, Chef des Energiekonzerns Axpo, hat davon gesprochen, dass ab den 2040er-Jahren zwei bis drei grosse Gaskraftwerke in der Schweiz nötig sein könnten (siehe hier).

Deutsche Energiewende ist relevant für die Schweiz

Wichtig für die Schweizer Stromzukunft ist vor allem der Blick nach Deutschland. Dort wird eine noch viel drastischere Energiewende durchgezogen: Das Land will in den nächsten Jahren gleichzeitig aus der Atom- und der Kohlekraft in der Stromproduktion aussteigen. Die neue Regierung hat angekündigt, einen gigantischen Ausbau beim Wind- und Solarstrom aufzugleisen.

Ob der Wechsel auf erneuerbare Energie gelingt, ist von hoher Relevanz auch für die Politik der Schweiz. Zentral ist die Frage, wie stark Deutschland auf Gaskraft zur Sicherung der Stromversorgung zurückgreifen muss. Bereits klar ist, dass das nördliche Nachbarland nur schon den Atomausstieg, der bis Ende nächsten Jahres abgeschlossen sein soll, nicht ohne den Zubau von Gaskraftwerken schafft. Atomenergie trägt in Deutschland heute noch 12 Prozent zur Stromversorgung bei. Es sind jetzt vier Gaskraftwerke im Bau, die nach dem Abschalten der Atomkraftwerke Elektrizität liefern, wenn in Deutschland der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint.

Kohleausstieg soll «idealerweise» bis 2030 abgeschlossen sein

Diese vier Gaskraftwerke haben eine totale Leistung von 1,2 Gigawatt, was etwa soviel ist wie die Leistung eines grossen Atomkraftwerks. Es handelt sich um eigentliche Lückenbüsser-Kraftwerke, die nur im Notfall zum Einsatz kommen sollen. Da sie niemals rentabel funktionieren können, müssen die deutschen Stromkunden nebst dem Bau auch den Betrieb dieser Gaskraftwerke teuer bezahlen (siehe hier).

Bis 2030 sollen 15 Millionen Elektrofahrzeuge auf den  Strassen von Deutschland verkehren.

Doch wenn Deutschland erst einmal aus der Kohlekraft aussteigt, die derzeit über 30 Prozent zum Strommix beiträgt, ist noch gewaltig viel mehr Gaskraft nötig. Gemäss der neue Regierung soll der Kohleausstieg «idealerweise» bis 2030 abgeschlossen sein. Bis dann sollen auch 15 Millionen Elektrofahrzeuge, die viel zusätzlichen Strom benötigen, auf den deutschen Strassen verkehren – heute sind es erst rund 500’000.

«Das ist ohne Frage ein Kraftakt»

Spezialisten des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität Köln (EWI) haben nun berechnet, welche Konsequenzen das alles hat. Sie gingen davon aus, dass Deutschland im Jahr 2030 ein Drittel mehr Strom braucht als heute. Um dann die lückenlose Stromversorgung zu sichern, ist gemäss den Forschern neben dem Ausbau von Windkraft und Fotovoltaik eine installierte Gaskraft-Leistung von 23 Gigawatt nötig.

Zum Vergleich: Das Schweizer Atomkraftwerk Gösgen hat eine Leistung von etwas über 1 Gigawatt. In Deutschland müssen also 23 Gaskraftwerke gebaut werden, die je soviel «Pfuus» bringen wie das AKW Gösgen – und das schon bis in neun Jahren.

Ein so grosser Zubau stellt eine gewaltige Herausforderung dar. «Bei der Bundesnetzagentur sind aktuell 2,3 Gigawatt Gaskraftwerkskapazitäten bis 2023 als geplanter Zubau gelistet», sagte EWI- Experte Max Gierkink zum «Handelsblatt». «Dieser Wert müsste sich bis 2030 verzehnfachen. Das ist ohne Frage ein Kraftakt.»

Politischer Widerstand gegen Gaskraftwerke

Es gibt neben technischen auch beträchtliche ökonomische Hindernisse. Gaskraftwerke lassen sich in Deutschland wie erwähnt kaum rentabel betreiben. So hat das Energieunternehmen Uniper vor zehn Jahren in Irsching in Bayern zwei hochmoderne Gaskraftwerke gebaut. Doch diese sind die meiste Zeit nicht am Netz, weil sich die Produktion nicht lohnt.

Laut EWI-Experte Gierkink muss die Politik erst noch den Rahmen schaffen, damit neue Gaskraftwerke tatsächlich entstehen. «Die Marktbedingungen geben den Zubau von 23 Gigawatt derzeit nicht her. Es müsste staatliche Anreize geben.»

Zudem gibt es politischen Widerstand gegen den Bau neuer Gaskraftwerke. Solche Anlagen stossen grosse Mengen an CO2 aus, wenn auch weniger als Kohlekraftwerke. Das widerspricht eigentlich den Zielen der deutschen Klimapolitik, die bis 2045 das Netto-Null-Ziel anstrebt. So fordert die Grüne Jugend, die Nachwuchsorganisation der Grünen, den Ausstieg aus der Nutzung von Erdgas bis 2035 und hält den Neubau von Gaskraftwerken grundsätzlich für gefährlich.

Immer neue ökologische Heilsversprechen

Der notwendige Bau von 23 grossen Gaskraftwerken passt zur Einschätzung vieler Experten, dass die Ziele der deutschen Energiewende immer irrsinniger und unerreichbarer werden. Ins Bild passt auch das: Claudia Kemfert, Umweltexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, hat vor einigen Tagen einen massiven Zubau an Windkraftanlagen gefordert. Um eine Ökostromlücke zu vermeiden, seien ab sofort sieben neue Windkraftanlagen in Deutschland notwendig – nicht pro Monat, nicht pro Woche, sondern pro Tag.

Nun wird suggeriert, die Gaskraftwerke, die eben doch notwendig sind, könnten bald mit klimaneutralem× Ökogas betrieben werden.

Und schon wird an neuen ökologischen Heilsversprechen gearbeitet. Bisher hiess es in Deutschland, Wind- und Solarstrom könnten die aufklaffende, riesige Stromlücke füllen. Nun wird suggeriert, die Gaskraftwerke, die eben doch notwendig sind, könnten bald mit klimaneutralem Ökogas betrieben werden. Laut dem «Handelsblatt» hat die neue Regierung festgelegt, dass Gaskraftwerke so gebaut werden müssen, dass sie auf den Betrieb mit CO2-freiem Gas – also etwa mit grünem Wasserstoff – umgestellt werden können.

Viel zu wenig Ökogas für einen klimaneutralen Betrieb

Ein Betrieb von Gaskraftwerken mit Ökogas und Wasserstoff dürfte jedoch eine Illusion bleiben. Denn deren Produktion ist äusserst teuer und läuft erst in sehr kleinem Umfang. Für die Herstellung von Ökogas und Wasserstoff wären insbesondere enorme Mengen an klimaneutralem Strom notwendig – Strom, der sowieso fehlt.

Der Artikel erschien zuerst im Schweizer Nebelspalter hier

 

 

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