Die grüne Energie-Erzählung der 1970er Jahre ist gescheitert
Die grüne Energie-Erzählung der 1970er Jahre ist gescheitert. Jetzt geht es um die Frage, wie Deutschland seine Stromversorgung sicherstellen will, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Es gibt nur drei Alternativen: Konventionelle Kraftwerke, eine Strommangel-Wirtschaft oder moderne Kernenergie. Wir brauchen eine „neue grüne Erzählung“.
Von Henrik Paulitz.
Wenn Deutschland seine “grüne Energie-Erzählung” nicht schnellstmöglich und sehr grundlegend umschreibt und modernisiert, dann ist der Absturz, eine immer stärkere Verarmung dieses Industrielandes die wahrscheinliche Folge. Das „bedingungslose“ Festhalten an Umwelt-Narrativen der 1970er Jahre, unabhängig davon, ob die damaligen Annahmen, Erwartungen und Hoffnungen sich in der Wirklichkeit der vergangenen 50 Jahre bewahrheitet haben oder nicht, ist das aktuelle Kernproblem der deutschen Gesellschaft.
Die jetzt aufkommende Energiekrise offenbart in schonungsloser Weise, dass die alte grüne Energie-Erzählung längst an mehreren, ganz zentralen Punkten an der Wirklichkeit gescheitert ist:
Erstens. Man erwartete, mit der Wärmedämmung von Gebäuden den Raumwärmebedarf drastisch reduzieren zu können. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) von 2019 belegt aber, dass allein nur in der vergangenen Dekade rund eine halbe Billion Euro für Wärmedämm-Maßnahmen „verbrannt“ wurden, ohne dass der spezifische Heizenergie-Bedarf der Gebäude klima- und witterungsbereinigt (nennenswert) reduziert werden konnte.
Die brutale Realität angesichts steigender Energiepreise ist: Im langen Winterhalbjahr muss im kalten Deutschland weiterhin sehr viel geheizt werden und wer es sich nicht mehr leisten kann, der friert.
Zweitens. Man erwartete, den Strombedarf drastisch reduzieren zu können. Doch obwohl Energiesparen und Energieeffizienz seit den 1970er Jahren praktisch zum „Staatsziel“ avancierten, ist der Strombedarf seit 1990 sogar deutlich angestiegen. Mit Elektromobilität, Elektrowärmepumpen und der Elektrifizierung der gesamten Industrie wird der Strombedarf als auch der Leistungsbedarf im Stromnetz auf gefährliche Weise weiter stark ansteigen.
Die brutale Realität ist: Das Bundeswirtschaftsministerium hat bereits einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die „Fernabschaltung“ von Elektroautos und Elektrowärmepumpen vorsieht, weil an vielen Stunden des Tages und vor allem nachts bald nicht mehr genügend Strom erzeugt werden kann.
Drittens. Man erwartete, „dass der Wind immer irgendwo weht“. Jahrzehntelange Erfahrungen zeigen aber, dass es regelmäßig großflächige Windflauten gibt. Bei fehlendem Sonnenschein und bei Windflaute erzeugen x-beliebig viele Solar‐ und Windenergieanlagen so gut wie keinen Strom. Zuletzt war das am 16. November 2021 der Fall.
Die brutale Realität ist: Schon seit Jahren müssen stromintensive Industriebetriebe bei Strommangel zeitweise vom Netz genommen werden. Sie werden künftig vermutlich nicht mehr in Deutschland investieren.
Viertens. Man erwartete, dass man überschüssige Solar- und Windstromerträge mit saisonalen „Langzeitspeichern“ vom Sommer- in das Winterhalbjahr übertragen könnte. Die aktuell wiederauferstandene „grüne Wasserstoffwirtschaft“ ist eine der jahrzehntelangen Versprechungen der Energiewende. Zuletzt haben aber selbst Protagonisten wie Professor Volker Quaschning eingeräumt, das Wasserstoff-Versprechen werde „nicht aufgehen“. Die Wirkungsgradverluste (75 %) und somit die Kosten wären unermesslich hoch. Die dafür benötigten Wind‐ und Solarstrommengen lassen sich in Deutschland nicht erzeugen.
Die brutale Realität ist: Wegen der nicht vorhandenen Speicher sind Wind- und Solaranlagen auf einen 100%igen Backup-Kraftwerkspark angewiesen. Dabei handelt es sich um die derzeit in Betrieb befindlichen Kohle‐, Gas‐ und Atomkraftwerke, die bislang beim Ausbleiben von Wind und Sonne dafür sorgten, dass die Lichter nicht ausgingen.
Mit den jetzt unmittelbar bevorstehenden Stilllegungen der letzten sechs Kernkraftwerke und der gleichzeitigen Stilllegung von immer mehr Kohlekraftwerken verliert Deutschland dieses absolut notwendige Backup- System. Es kommt erwartungsgemäß zu einer extrem gefährlichen “Unterdeckung bei der gesicherten Leistung”.
Vor dem Hintergrund einer unmittelbar bevorstehenden “Stromlücke” hält selbst der Bundesverband Solarwirtschaft “Laufzeitverlängerungen” von Kraftwerken für “unausweichlich”. Die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), die ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete Kerstin Andreae, sagte zuletzt in einem Interview mit dem Handelsblatt, dass Deutschland 2030 eine installierte regelbare Kraftwerksleistung von rund 70 Gigawatt benötigt.
Die neue Bundesregierung wird daher Laufzeitverlängerungen von Kohle‐ und Atomkraftwerken in Erwägung ziehen müssen. Tut sie das nicht, dann riskiert sie ein Kollabieren der deutschen Stromversorgung.
In ihrem „Sondierungspapier“ vom 15. Oktober haben SPD, Grüne und FDP den Neubau von Gaskraftwerken vereinbart. Das entspricht grundsätzlich der Empfehlung der so genannten Kohlekommission von vor Jahren: Bei einem Atom‐ und Kohleausstieg werden viele neue Gaskraftwerke als Backup- Kraftwerkspark benötigt. Diese Anlagen wurden allerdings seit Jahren schon nicht gebaut, zum Teil sogar stillgelegt, und es ist die Frage, ob und wie schnell viele Dutzend neue Gaskraftwerke errichtet werden könnten. Üblicherweise dauern Planung, Genehmigung und Bau eines Gaskraftwerks zwischen vier und acht Jahren. Investoren werden sich nur dann finden lassen, wenn es eine staatliche Bestandsgarantie und eine garantierte Stromabnahme zu betriebswirtschaftlich machbaren Konditionen geben wird.
Zudem ist sehr fraglich, ob der teure Gaskraftwerksstrom der stromintensiven Industrie auf Dauer zu wettbewerbsfähigsfähigen Niedrigst-Preisen angeboten werden kann. Bei realistischer Betrachtung dürfte eine Stilllegung der Kohle‐ und Atomkraftwerke dazu führen, dass diese bedeutenden Industriezweige Deutschland verlassen und ein Teil der mit ihnen verbundenen Industrien ebenso.
Die propagierten Gaskraftwerke stehen nun aber auch wegen der „Klimapolitik“ erheblich unter Druck. Den Gaskraftwerken werden neben den CO2-Emissionen auch die Methan-Emissionen beim Pipeline-Transport zur Last gelegt. Die Emissionsbilanz würde sich gegenüber Kohlekraftwerken kaum unterscheiden, argumentieren manche.
Die Umweltverbände fordern den Verzicht auf den gesamten Backup- Kraftwerkspark, was einer De-Industrialisierungs-Agenda gleichkommt.
Wirkmächtig sind nun insbesondere auch die „internationalen Verpflichtungen“ zur Kohlendioxid-Reduktion, die Deutschland eingegangen ist und sich selbst auferlegt hat.
Im öffentlichen Bewusstsein ist noch gar nicht angekommen, dass ein Nicht- Einhalten der von Jahr zu Jahr immer schärfer werdenden Reduktionsziele jährlich milliardenschwere „Strafzahlungen“ zur Folge haben kann. Denn für die CO2-Mengen, die in den verschiedensten Sektoren am Ende des Jahres zu viel emitiert wurden, muss Deutschland auf die eine oder andere Weise teure „Emissionsrechte“ kaufen. Das dürfte in den kommenden Jahren richtig teuer werden. Schon für 2020 werden jetzt nachträglich erste Strafzahlungen fällig.
Es profitieren dann die Länder, die beispielsweise wie Frankreich hohe Atomstromanteile und daher vergleichsweise niedrige CO2-Emissionen haben. Sie können Emissionsrechte verkaufen.
Allein die Stilllegung der letzten sechs deutschen Atomkraftwerke kann für Deutschland extrem teuer werden, wenn dadurch auf Jahre hinaus verpflichtende Emissionsminderungsziele verfehlt werden.
Denjenigen, die aus Klimaschutzgründen sowohl Kohle‐ als auch Gaskraftwerke ablehnen, bleiben letztlich also nur noch zwei denkmögliche Alternativen.
Die eine Möglichkeit ist, auf eine zuverlässige Energieversorgung zu verzichten. Strom und andere Energie gäbe es nur noch zeitweise und nur selten in ausreichender Menge. Das würde bedeuten, dass Grundbedürfnisse wie Strom, Raumwärme, Warmwasser, Mobilität und der Bedarf an Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs nicht mehr zuverlässig befriedigt werden könnte. Es müsste zu Rationierungen kommen oder es würde über den Preis geregelt, so dass sich nur noch Vermögende und staatlich Begünstigte jederzeit alles leisten könnten. Da dies von der breiten Bevölkerung nicht klaglos akzeptiert werden würde, ließe sich eine solche “StromMangelWirtschaft“ nur mit undemokratischen, mit totalitären Mitteln durchsetzen, der innere und vermutlich auch der äußere Frieden wären massiv gefährdet, zumal, wenn man dann auch noch anderen Ländern diesen „deutschen Sonderweg“ mit Gewalt aufzwingen wollte. Mit der freiheitlich- demokratischen Grundordnung und mit dem Friedensgebot ist dies unvereinbar.
Die andere Möglichkeit wäre der Einstieg in die Nutzung „inhärent sicherer Kernkraftwerke“ als zuverlässige und emissionsarme Energiequelle. Unabhängig davon, ob Deutschland eine neue Debatte um die Kernenergie führen möchte oder nicht: Diese wird vor dem Hintergrund der Verpflichtungen zur CO2-Reduktion auf europäischer Ebene längst geführt. Die EU-Kommission hat jüngst Zustimmung signalisiert, sowohl Gaskraftwerke als auch die Atomenergie im Rahmen ihrer „Taxonomie“ als umweltfreundlich einzustufen. Immer mehr EU-Staaten sehen – realistischer als Deutschland – inzwischen gar keine andere Möglichkeit mehr, eine CO2- Minderungspolitik ohne untragbare Wohlstandsverluste umzusetzen. Zudem empfiehlt auch der Weltklimarat IPCC die Kernenergie als eines der wesentlichen Instrumente für den Klimaschutz.
Die Debatte ist nun auch in Deutschland angekommen. In mehr und mehr Medienberichten werden Laufzeitverlängerungen ebenso ins Gespräch gebracht wie neue, moderne Kernkraftwerke.
Die Konstrukteure dieser Anlagen stellen in Aussicht, auf die traditionellen Kritikpunkte an der Atomenergie eine technologische Antwort geben zu können. Um nur die wichtigsten Punkte zu nennen: Schwere Unfälle ließen sich durch „inhärente Sicherheit“ ausschließen. Der vorhandene Atommüll könne in diesen Anlagen zur Stromerzeugung genutzt und die Nuklide so umgewandelt werden, dass ein geologisches Endlager für Atommüll überflüssig werde.
Wir haben uns in Deutschland angewöhnt, vorschnell immer nur „Nein“ zu sagen. Neue technologische Entwicklungen schauen wir uns schon gar nicht mehr genauer an. Welcher Physiklehrer erklärt den Schülern die Grundlagen der neuen Reaktorkonzepte?
Das Modernisierungsproblem unserer Gesellschaft ist, dass sich an den alten grünen Erzählungen aus den 1970er Jahren nichts ändern „darf“, weil sie Teil der geistig-moralischen DNA dieses Landes geworden sind. An diesen Auffassungen wollen viele selbst dann noch festhalten, wenn sie dafür Wohlstand, Sicherheit und Freiheit nachfolgender Generationen opfern. Wir Deutsche sitzen in einer extrem gefährlichen Moral‐ und Kostenfalle und billigen uns aus geistiger Unbeweglichkeit letztlich keinen vernünftigen Ausweg mehr zu.
Wir setzen auf die Quadratur des Kreises: Weder sollen es fossile noch nukleare Backup-Kraftwerke sein – scheinbar aufopferungsvoll predigen viele jetzt den Verzicht, doch in Wirklichkeit ist es ein sehr egoistischer Standpunkt, denn es werden die Kinder- und Kindeskinder sein, die die Folgen von Energiearmut und De-Industrialisierung auszubaden haben.
Doch jetzt kommt so langsam Bewegung in die Sache: 50 Prozent der Deutschen sind inzwischen dafür, die geplante Abschaltung der sechs noch laufenden Atomkraftwerke zurückzunehmen. Über moderne Kernenergie wird mehr und mehr berichtet und diskutiert.
Sollten in den kommenden Jahren Prototyp-Kraftwerke den Nachweis erbringen, dass inhärente Sicherheit, die Vernichtung der gefährlich- langlebigen Bestandteile des Atommülls und eine zuverlässige Stromversorgung funktionieren, dann wäre damit eventuell der Kern einer „neuen grünen Erzählung“ gefunden, die den praktischen Herausforderungen der kommenden Dekaden gerecht wird.
Viele Ältere werden sich schwer damit tun, doch die jüngere Generation muss ihre Chance wahrnehmen, den Wohlstand nicht auf dem Altar einer 50 Jahre alten Ideologie zu verspielen. Aber auch viele Ältere werden im Interesse der Jüngeren zu einer realistischen Einschätzung der verbleibenden Alternativen kommen. Denn Energiepolitik ist kein Wunschkonzert, sondern am Ende immer auch die Umsetzung des Machbaren.
Es kommt nun maßgeblich darauf an, dass die neue Bundesregierung in Abstimmung mit den europäischen Nachbarstaaten den Rahmen für eine weiterhin verlässliche, umweltfreundliche, preiswerte und zukunftsoffene Energieversorgung organisiert, statt den sonst absehbaren Niedergang dieses Landes zu verwalten.
HENRIK PAULITZ
Henrik Paulitz (geb. 1968) ist Leiter der Akademie Bergstraße für Ressourcen-, Demokratie- und Friedensforschung. Der Friedens- und Konfliktforscher, der seit Jahrzehnten auch mit der Energiepolitik befasst ist, ist Autor u.a. der Bücher „Anleitung gegen den Krieg“, „Kriegsmacht Deutschland?“ und „Strom- Mangelwirtschaft“.
Fachbeiträge auf der Website der Akademie Bergstraße:
Henrik Paulitz: StromMangelWirtschaft – Warum eine Korrektur der Energiewende nötig ist. Taschenbuch. Akademie Bergstraße. 2020. ISBN 978- 3-981-8525-3-0 https://www.akademie-bergstrasse.de/sh/strom-mangelwirtschaft
Der Beitrag erschien zuerst bei The European hier