Bis 2045 will der nördliche Nachbar das Netto-Null-Ziel erreicht haben. Die Deutsche Energieagentur spricht in einer Studie von einer «gewaltigen Herausforderung» – gibt sich aber überzeugt, dass das Ziel realistisch ist. Zweifel sind angebracht, ob die neue Regierung das schafft.

von Alex Reichmuth

«Wir schaffen das!», sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Herbst 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, als täglich bis zu 10’000 Migranten nach Deutschland strömten. «Deutschland kann das schaffen!», ruft nun Andreas Kuhlmann, Chef der Deutschen Energie-Agentur (Dena), seinem Land zu – und es bleibt unklar, warum er die Zielerreichung beim Klimaschutz ausgerechnet in einen Zusammenhang zu Merkels zweifelhaftem Ausspruch bringt.

Die Dena ist eine Art bundeseigener Think-Thank im Dienste der Energiewende, und sie hat mit dem Bericht «Aufbruch Klimaneutralität» eine 300 seitige Studie vorgelegt die aufzeigen soll dem Bericht «Aufbruch Klimaneutralität» eine 300-seitige Studie vorgelegt, die aufzeigen soll, welche Anstrengungen nötig sind, um das Netto-Null-Ziel bis 2045 zu erreichen. Mitgearbeitet haben zehn wissenschaftliche Institute, über 70 Unternehmen und ein 45-köpfiger Beirat (siehe hier).

«Äusserste Anstrengungen» nötig

Im Frühling hat die Bundesregierung die Ziele im Rahmen des Klimaschutzgesetzes verschärft, nachdem sie vom Bundesverfassungsgericht zu mehr Eile angemahnt worden war: Bis 2030 soll der CO₂-Ausstoss um 65 Prozent gegenüber 1990 verringert werden, bis 2045 (statt wie bisher

2050) soll Deutschland unter dem Strich gar keine Treibhausgase mehr erzeugen. Die Studie der Dena macht nun 84 Vorschläge, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Der Bericht dürfte für die neue Bundesregierung zu einem zentralen Orientierungspunkt werden.

Dieser Bericht macht gleich zu Beginn klar, dass «äusserste Anstrengungen» nötig seien, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Schon das Zwischenziel für 2030 sei «sehr ambitioniert». Und das ist noch eher tiefgestapelt. In Wahrheit wird einem beinahe schwindlig ob der Anforderungen, die in der Studie festgehalten sind.

Verdopplung der Gebäudesanierungen

So soll die Rate der Gebäude, die jährlich energetisch saniert werden, auf 1,9 Prozent verdoppelt werden. Woher die notwendigen Facharbeiter für diese Verdopplung herkommen sollen, ist offen. Die Studie spricht von einem «grossen Sprung bis 2030» im Gebäudebereich. Dabei bleibt unklar, ob die Anlehnung an den «Grossen Sprung nach vorne» von Mao Zedong bewusst gewählt ist. Die Wirtschaftskampagne des chinesischen Diktators vor sechzig Jahren endete in einem Desaster mit Millionen von Hungertoten.

× «Grosser Sprung nach vorne» – Mao Zedong. Bild: Keystone

Die Industrie muss gemäss der Deutschen Energie-Agentur ihren Energiebedarf bis 2030 um 21 Prozent senken. Bis 2045 muss der gesamte Endenergieverbrauch Deutschlands gar um 41 Prozent abnehmen, was vor allem dank Effizienzmassnahmen möglich sein soll. Ob damit noch eine

Wirtschaftsentwicklung möglich ist, die diesen Namen verdient, sei dahingestellt

Prozent mehr Strom bis 2045

Zunehmen wird aber ohne Zweifel der Stromverbrauch. Die Dena-Studie stellt bis 2045 einen Mehrkonsum gegenüber heute von nicht weniger als 77 Prozent in Aussicht, vor allem wegen der Elektrifizierung des Verkehrs. Bis Ende nächsten Jahres sollen aber die letzten sechs AKW vom Netz gehen, die 12 Prozent zur Stromproduktion beigetragen haben. Und geht es nach der mutmasslich regierenden Ampel-Koalition, werden bis 2030 auch alle Kohlekraftwerke abgestellt, die dieses Jahr 27 Prozent des Stroms produziert haben.

Folglich ist ein gewaltiger Ausbau der erneuerbaren Energie notwendig. Bereits bis 2030 soll sich die installierte Solarstrom-Leistung verdreifachen und die Windstrom-Leistung fast verdoppeln. Dabei verunstalten schon heute 30’000 Windräder die Landschaften Deutschlands, wie Kritiker monieren.

Auch beim Ausbau der Stromnetze sind gewaltige Anstrengungen notwendig. Der Zubau von 6000 Kilometer an Stromleitungen, der bis 2035 geplant ist, muss gemäss der Deutschen EnergieAgentur schon 2030 erfolgt sein, und bis dann sind sogar zusätzliche 2700 Kilometer Leitung notwendig. Dabei ist bereits der bisher vorgesehene Ausbau wegen des Widerstands der Bevölkerung mehr als gefährdet.

Ziele nur mit Negativemissionen erreichbar

Eine grosse Rolle lässt die Dena den gasförmigen und flüssigen Energieträgern zukommen, die mit erneuerbarem Strom hergestellt werden – insbesondere Wasserstoff. Die Gesamtmenge für diese sogenannten Powerfuels soll bis 2045 auf schwindelerregende 657 Terawattstunden pro Jahr steigen, was mehr als zehnmal soviel ist wie der gesamte heutige Stromkonsum der Schweiz.

«Deutschland muss neuen Schwung holen in der Energie- und Klimapolitik»

Andreas Kuhlmann, Chef der Deutschen Energie-Agentur

Doch damit nicht genug: Alle diese Massnahmen reichen gemäss Dena nicht aus, um bis 2045 Klimaneutralität zu erreichen. Zusätzlich brauche es negative Emissionen, insbesondere die Rückgewinnung und Speicherung von CO₂. Dank entsprechenden Technologien sollen bis 2045 jährlich rund 24 Millionen Tonnen CO₂ aus der Atmosphäre entfernt werden – eine gewaltige Menge, die mehr als der Hälfte des gesamten Klimagas-Ausstosses der Schweiz entspricht. Damit sollen Prozesse wie die Zement- oder die Stahlproduktion klimaneutral gestaltet werden (siehe hier und hier).

«Das historische Klein-Klein überwinden»

Schon heute gibt Deutschland jährlich Dutzende von Milliarden Euro für den Klimaschutz aus. Das Thema dominiert die Politik. Doch das reiche noch längst nicht, macht die Dena klar. Das Land müsse «neuen Schwung holen in der Energie- und Klimapolitik», verkündete Andreas Kuhlmann bei der Präsentation der Studie.

In den vergangenen Jahren sei zu viel liegen geblieben. Die im Klimaschutzgesetz vorgegebenen sektorspezifischen Jahresziele würden «mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erreicht», so der Dena-Chef weiter. Das «historische Klein-Klein» der vergangenen Jahre müsse überwunden werden. «Dessen sollte sich die neue Bundesregierung unbedingt bewusst sein.» Die gegenwärtigen gesetzlichen Regeln verhinderten die «notwendige Dynamik». Ein «Weiter so» sei «keine Option».

«Klimaneutralität Made in Germany»

Werden die Vorschläge der Dena umgesetzt, winken gemäss der Agentur grosse wirtschaftliche Chancen bei grünen Technologien. «Deutschland hat das Potenzial, in Zukunftstechnologien Weltmarktführer zu werden und damit auch global einen wichtigen Beitrag zu mehr Klimaschutz zu leisten», steht in der Studie. «Klimaneutralität Made in Germany» biete grosse industriepolitische Wachstumsmöglichkeiten.

«Trotz grosser Hoffnung war die Exportperformance von deutschen Gütern zur Erzeugung erneuerbarer Energien enttäuschend.»

Institut der Deutschen Wirtschaft

Dass solch ökonomischen Chancen bestehen, darf aber bezweifelt werden. Im August kam das Institut der Deutschen Wirtschaft in einer Studie mit Blick auf die vergangene Entwicklung jedenfalls zum gegenteiligen Schluss. «Trotz grosser Hoffnung war die Exportperformance von deutschen Gütern zur Erzeugung erneuerbarer Energien enttäuschend», schrieb das Institut. China hingegen baue seine Exportanteile beständig aus. Als Ursache für die enttäuschten Hoffnungen bezeichnete die Studie den Umstand, dass die in Deutschland entwickelten Technologien leicht kopierbar gewesen seien (siehe hier).

«Kaum zu bewältigende Herkulesaufgabe»

Zurück zum Bericht der Dena: Angesichts der Ansagen der Agentur kommen Zweifel auf, ob Deutschland die Klimaneutralität bis 2045 tatsächlich schaffen wird. Die neue Bundesregierung stehe vor einer «kaum zu bewältigenden Herkulesaufgabe», kommentierte die «Welt» (siehe hier). Die Vorgaben für die Schweiz in Sachen Klimaschutz sind fast ebenso hoch. Hier will der Bundesrat bis 2050 das Netto-Null-Ziel erreichen, also nur fünf Jahre später als Deutschland. Auch unser Land wird sich gewaltig strecken müssen.

Der Beitrag erschien zuerst im Nebelspalter hier

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