Wie der Öko-Infantilismus die Ökologie zu opfern droht
Demonstriert am Beispiel der anstehenden Revision der EU-Chemikalien-Verordnung REACH
Edgar L. Gärtner
Wirklich Erwachsene wissen: Man kann nicht alles haben. Kinder müssen das noch lernen. Das kostet einige Mühe, denn man lernt am besten aus schmerzhaften Fehlern. Manche lernen es mangels Gelegenheit allerdings nie. Diese Menschen finden sich offenbar überdurchschnittlich oft in jener verwöhnten Nachkriegs-Generation, die nie unter Hunger oder anderen Entbehrungen leiden musste und deshalb wie selbstverständlich erwartet, dass der Strom bei Tag und Nacht aus der Steckdose, Wärme nach Wunsch aus der Zentralheizung, Milch, Käse und frisches Fleisch aus dem Kühlschrank kommt oder wie Obst und Gemüse preiswert in Geschäften oder auf Wochenmärkten angeboten wird. Diese Kinder des Wohlstands haben nie den Buckel krumm machen müssen, um Unkraut zu jäten, nie Kohlen ohne Aufzug aus dem Keller in den fünften Stock schleppen müssen und schon gar nicht Kartoffelkäfer von Hand einsammeln müssen, um die Ernte zu retten. Aber sie haben höchste Ansprüche an die Qualität ihrer Nahrung und Kleidung. Alles soll absolut frei von Schadstoffen sein. Ist das aber in der realen Welt überhaupt möglich?
Die Paracelsus-Regel
Es war der zur Zeit der Renaissance lebende Arzt Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1493 bis 1541), besser bekannt unter dem von ihm selbst gewählten Namen Paracelsus, der als erster formulierte: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.“ Diese als Paracelsus-Regel bekanntgewordene Aussage hat den Rang eines unverrückbaren Naturgesetzes. Wir sprechen heute vom Dosis-Wirkungsgesetz. Während selbst Newtons Gravitationsgesetz später durch Einstein relativiert wurde, konnte die Gültigkeit der Paracelsus-Regel noch nirgends in Zweifel gezogen werden – auch nicht bei der vor allem in Deutschland mit Angst verbundenen Radioaktivität. Sie gilt selbst für das anscheinend über jeden Verdacht erhabene Naturprodukt Wasser, denn inzwischen sind sich die Mediziner darin einig, dass auch übermäßiges Wassertrinken zum Tod führen kann. Ganz abgesehen davon, dass man im Wasser auch leicht ertrinken kann. Angeregt von Schriften der alten Griechen erkannte Paracelsus auch schon, dass lebensgefährliche Gifte in verdünnter Form als Heilmittel dienen können.
Auf der Grundlage der Paracelsus-Regel geht die moderne Toxikologie (Lehre von den Giftwirkungen) davon aus, dass jeder beliebige natürliche oder künstliche Stoff erst oberhalb einer bestimmten Schwellen-Konzentration gesundheitsgefährdend wird. Die Toxikologen versuchen, mithilfe sorgfältig geplanter Experimente an Versuchstieren oder Zellkulturen, diese Schwellenkonzentration zu ermitteln. Auf dieser Basis setzen die zuständigen nationalen und internationalen Expertengremien und Genehmigungs-Behörden dann Grenzwerte für die Arbeitswelt (MAK =maximale Arbeitsplatz-Konzentrationen nach dem Bundes-Arbeitsschutzgesetz) und für die Umgebungsluft (nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz) fest, die aus Gründen der Sicherheit normalerweise mindestens um den Faktor 100 über der Toxizitätsschwelle liegen. Diese Grenzwerte, obgleich im Rahmen der EU und der OECD zunehmend vereinheitlicht, blieben lückenhaft, da sie fallbezogen und nicht systematisch festgelegt wurden.
Die EU-Chemikalienverordnung REACH
Einen Schritt weiter ging deshalb die im Jahre 2001 gestartete, Ende 2006 verabschiedete und am 1. Juni 2007 schließlich in Kraft getretene Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 der EU der EU, abgekürzt REACH-Verordnung, die in allen EU-Mitgliedsstaaten unmittelbare Gesetzeskraft hat. REACH steht für Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals. Danach müssen alle Stoffe (auch Zigtausende so genannter „Altstoffe“) ab einer Jahresproduktion von einer Tonne registriert, nach einem mengenabhängigen Stufenplan getestet und dann bei der EU Chemikalienagentur ECHA in Helsinki bewertet und schließlich genehmigt oder abgelehnt werden. Die Zulassungsprozedur betraf allerdings nur Substances of very high concern (SVHG) nach Artikel 57. Bis zum 1. Dezember 2010 mussten die so genannten Großstoffe mit einer Jahresproduktion von über 1.000 Tonnen registriert sein, bis zum 1. Juni 2013 die Stoffe über 100 Jahrestonnen und bis zum 1. Juni 2018 schließlich die Stoffe ab einer Jahrestonne. Es ging bei REACH aber nicht nur um die Stoffe und Verbindungen an sich, sondern auch um die Millionenzahl ihrer sehr unterschiedlichen Verwendungen. Ein sehr aufwändiges Unterfangen, das nur mit dem Turmbau zu Babel vergleichbar ist. Ich habe als Mitarbeiter eines in der Schweiz erscheinenden chemischen Fachmagazins ein gutes Jahrzehnt meines Lebens damit zugebracht, meinen Lesern dieses bis dahin umfangreichste und komplizierteste Gesetzeswerk der EU zu erklären und seine Schwachstellen zu beleuchten. (Hier mein vermutlich letzter darüber in einem Industriemagazin erschienener Kommentar.)
Obwohl die Umsetzung dieses Regelwerkes viel Manpower und Milliardenbeträge verschlang, beteiligte die Industrie sich nach anfänglichem Widerstand aktiv an dem ehrgeizigen Unterfangen, denn es galt für die Vermarktung beliebiger Stoffe der Grundsatz „No data, no market“. Immerhin ging es bei REACH alles in allem nicht um utopische Wunschvorstellungen, sondern um die vergleichsweise vernünftige ALARA-Regel: Schadstoffexposition beziehungsweise Risikominderung as low as reasonably achievable. Außerdem hofften die betroffenen Industrie-Manager, nach dem Abschluss der nervigen Prozedur im Jahre 2018 endlich Ruhe zu haben beziehungsweise in Sachen Toxikologie auf der sicheren Seite zu stehen. Doch davon kann heute keine Rede mehr sein. So passierte beispielsweise das schon seit einem halben Jahrhundert gebräuchliche Totalherbizid Glyphosat (eine phosphorylierte Aminosäure) die REACH-Prozedur ohne Beanstandung. Trotzdem steht Glyphosat nun schon seit Jahren unter heftigem Beschuss seitens der in Brüssel sehr einflussreichen Lobby von so genannten Nichtregierungsorganisationen (NGO), denen man eigentlich das N im Namen entziehen müsste, weil sie der EU-Kommission und linken nationalen Regierungen als Einheizer und Wachhunde dienen.
Den NGO wie Greenpeace, Friends of the Earth (FoE), Pesticide Aktion Network (PAN), EDC Free Europe u.a. geht es in erster Linie darum, die bisher gültige Stoffbewertung entsprechend der potenziellen Exposition von Mensch und Umwelt durch eine Einstufung nach der Gefährlichkeit abzulösen. Dabei unterschlagen sie die uralte Erkenntnis von Paracelsus, dass es in der Natur nichts absolut Ungiftiges gibt. Vermutlich glauben sie selbst nicht, was sie ständig wiederholen. Aber sie registrieren mit Genugtuung, dass ihre Warnungen vor gefährlichen Giften an allen Ecken und Enden naiven Gemütern Angst einjagt. Und darauf kommt es ihnen ja schließlich an. Inzwischen haben die grünen NGO die Büros der wichtigsten EU-Direktionen erobert, darunter die Direktion für Umwelt, Ozeane und Fischerei unter EU Kommissar Virginijus Sinkevičius aus Litauen. So war es nicht überraschend, dass die EU-Kommission im Rahmen des Ende 2019 lancierten „Green Deal“, kaum dass die Umsetzung der REACH-Verordnung mit Hängen und Würgen abgeschlossen war, schon in diesem Jahr den Entwurf einer Totalrevision von REACH vorlegte, der das Ziel „Zero pollution for a toxic free environment“ verfolgt.
Das Beispiel Lavendelöl
Was das vor Ort bedeutet, erfahren gerade die südfranzösischen und bulgarischen Produzenten von Lavendelöl. Da die wohlduftende Essenz schon nach der bisherigen REACH-Verordnung wie eine beliebige Chemikalie behandelt wurde, mussten sie eine Menge von Stoffdaten generieren, was viele der sehr kleinen Lavendelanbauer und Destillateure schon an den Rand des Ruins brachte. Etliche gaben bereits auf. Nach der neuen Verordnung müssten sie wahrscheinlich sogar die Zusammensetzung ihrer Essenzen ändern – mit dem Risiko, dass diese dann ihre heilende Wirkung verlieren.
Lavendel dient in Europa seit der Römerzeit als Parfüm und Therapeutikum. Lavandula angustifolia kommt in den provenzalischen Voralpen zwischen 600 und 2.000 Meter Meereshöhe auch heute noch vereinzelt als Wildpflanze vor. Heute wächst in der Provence auf etwa 5.000 Hektar eine Kulturform von Lavandula angustifolia und auf über 20.000 Hektar der widerstandsfähigere und produktivere Lavandin, eine natürliche, aber sterile Kreuzung zwischen dem echten Lavendel und dem breitblättrigen Lavendel (Lavandula latifolia), der eher in den Pyrenäen beheimatet ist. Die Gesamt-Anbaufläche hat in den letzten 10 Jahren um fast 50 Prozent zugenommen, denn der beruhigende Lavendelduft erfreut sich wachsender Beliebtheit. Anbau und Verarbeitung von Lavendel schaffen nach Aussage von Renaud Muselier, dem Präsidenten der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur (PACA), heute direkt etwa 9.000 und indirekt weitere 17.000 Arbeitsplätze im Tourismus und in der Vermarktung des begehrten Lavendelhonigs.
Der Lavendel ist optimal an das präalpine mediterrane Klima angepasst: Er hat es im Winter gerne feuchtkalt und im Sommer heiß. Die landwirtschaftliche Fläche in dieser Höhenzone eignet sich kaum für etwas anderes denn als Schafweide oder eben für den Anbau von Lavendel oder anderen Gewürz- und Arzneipflanzen wie Thymian oder Rosmarin. Die französische Lavendelernte erreichte in diesem Jahr ein Produktionsvolumen von 140.000 Tonnen. Nur ein kleiner Teil davon wird unverarbeitet Touristen in Säckchen angeboten. Der größte Teil wird mit Wasserdampf destilliert. Oben im Dekanter schwimmt das gesuchte ätherische Lavendelöl, das darunter sich absetzende Hydrolat wird zum Teil als Eau florale vermarktet. Nur Lavandula angustifolia ergibt ätherisches Öl der ersten Wahl, Lavandinöl wird dagegen eher für Seifen und weniger hochwertiger Parfüme verwendet. Das wertvollere echte Lavendelöl aus Lavandula angustifolia profitiert in Frankreich von einer geschützten Ursprungsbezeichnung (AOP). Seine Ausbeute liegt bei lediglich 15 Kilogramm je Hektar. Entsprechend teuer muss er verkauft werden.
In Frankreich gibt es etwa 2.500 kleine Produzenten von Lavendelöl. Diese sind in der Union des Producteurs de Plantes à Parfum, Aromatiques et Medicinales de France (PPAM) zusammengeschlossen. Alain Aubanel, ihr Vorstand, erklärt, dass diese Klein-Produzenten zwischen 2014 und 2016 mithilfe der PPAM intensiv mit der ECHA zusammengearbeitet haben, um rechtzeitig bis 2018 alle von REACH für Produktionsmengen von über einer Jahrestonne geforderten Toxizitätsdaten zu ermitteln. Das habe jeden Mitgliedsbetrieb im Schnitt etwa 10.000 Euro und viel unbezahlte Arbeitszeit gekostet. Umso unangenehmer seien diese überrascht gewesen, als die EU-Kommission schon drei Jahre nach dem Ende der Stoffregistrierungsfrist mit einem ganz neuen Verordnungsentwurf kam.
Die Brüsseler Bürokraten behandeln das Lavendelöl, da es durch Destillation gewonnen wird, wie eine beliebige Industriechemikalie. Sie stören sich besonders an dessen Hauptbestandteil, dem Linalol. Als mehrfach ungesättigte Fettsäure oxidiert Linalol leicht und wird dann womöglich allergen, wenn nicht gar kanzerogen. Demgegenüber wies Alain Aubanel im staatlichen Radio France culture darauf hin, dass Linalol im Naturzustand niemals oxidiert, weil es von Hunderten von schützenden Molekülen, d.h. Antioxidantien umgeben ist. Die von der EU-Kommission auf Druck der Grünen Lobby gewählte Herangehensweise, die von der potenziellen Giftigkeit jedes einzelnen Moleküls ausgeht, aber dessen kontextabhängige Exposition vernachlässigt, dürfe nicht auf Naturprodukte wie Lavendelöl angewandt werden.
Das fordert auch eine Petition, die seit einigen Wochen im Internet zirkuliert. Ziel sind 150.000 Unterschriften. Auch deutschsprachige Lavendelfreunde können da noch unterschreiben. Sollte die EU-Kommission mit ihrer Stoffbewertung nach Schema F durchkommen, blieben den provenzalischen Bauern angesichts des Klimawandels kaum noch Ausweichmöglichkeiten, fürchtet Alain Aubanel.