Die Mär vom Netto-Null-Ziel
Der Konsens nach Erscheinen des neuen Klimaberichts scheint klar: Die Welt muss den CO2-Ausstoss bis 2050 vollständig eliminieren, um den Klimawandel zu stoppen. Richtig ist aber, dass eine Reduktion um 50 Prozent absolut ausreicht, um den CO2-Gehalt in der Atmosphäre zu stabilisieren.
von
Alex Reichmuth
Die Natur nimmt über 50 Prozent des vom Menschen ausgestossenen CO2 wieder auf.
«Netto-Null» ist eine der Wortkreationen, die bis vor wenigen Jahren noch kaum jemand kannte, nun aber in aller Munde ist. «Netto-Null» ist gleichbedeutend mit Klimaneutralität: Unter dem Strich erzeugt der Mensch keine Treibhausgas-Emissionen mehr. Was noch an CO2 ausgestossen wird, muss durch sogenannte negative Emissionen kompensiert werden, also durch die aktive Eliminierung von CO2 aus der Atmosphäre.
Es gibt einen politischen Konsens, dass das Netto-Null-Ziel bis Mitte dieses Jahrhundert erreicht sein muss, um einen gefährlichen Klimawandel zu verhindern. Gemäss dem Klimaabkommen von Paris sollen die CO2-Emissionen bis 2050 auf Null sinken, damit sich die Erde nicht um mehr als zwei Grad erwärmt. Die Schweiz und viele andere Staaten haben× sich zu diesem Ziel verpflichtet. Deutschland will das Netto-Null-Ziel gar bis 2045 erreichen.
Grüne Politiker und Klimaaktivisten fordern, dass die Klimaneutralität gar noch früher angepeilt wird.
Der Weg zu «Netto-Null» ist aber ungeheuer steinig. Nur schon die Reduktion der Emissionen um die Hälfte sorgt für Gegenwehr. Die Schweiz hat in Paris zugesagt, als ersten Schritt den
CO2-Ausstoss bis 2030 um die Hälfte (gegenüber 1990) zu reduzieren. Im CO2-Gesetz waren
Massnahmen vorgesehen, um dieses Ziel zu erreichen, wie etwa eine höhere CO2-Abgabe auf Heizöl, einen Benzinpreis-Zuschlag und eine Flugticket-Abgabe. Doch das Stimmvolk hat dieses Gesetz am 13. Juni versenkt.
Zweite Hälfte der Reduktion wäre besonders teuer
Dabei dürfte die Eliminierung der zweiten Hälfte des CO2-Ausstosses enorm viel anstrengender werden. Denn die Massnahmen, die relativ einfach umzusetzen sind, werden dann schon alle vollzogen sein. Es bleiben nur schwierige und teure weitere Abbauschritte. Zudem gibt es industrielle Prozesse wie die Herstellung von Zement, die zwangsläufig mit dem Ausstoss von Kohlendioxid einhergehen. Um dennoch Klimaneutralität zu erreichen, bleiben als Kompensation nur Technologien wie die Abscheidung und unterirdische Speicherung von CO2 (Carbon Capture and Storage, CCS). CCS funktioniert heute aber im Grossmassstab noch nicht und ist zudem energetisch sehr aufwändig.
Insbesondere die Ozeane und die Pflanzen nehmen einen Grossteil der Treibhausgase, die der Mensch erzeugt, wieder auf und wirken als natürliche Senken.
Doch es gibt eine frohe Botschaft: Um den CO2-Gehalt der Atmosphäre zu stabilisieren, was ja das Ziel der Klimapolitik ist, braucht es gar kein «Netto-Null», was den menschlichen Aussstoss angeht. Denn die Natur hilft kräftig mit, CO2, das einmal in die Atmosphäre gelangt× ist, von dort wieder zu entfernen. Insbesondere die Ozeane und die Pflanzen nehmen einen
Grossteil der Treibhausgase, die der Mensch erzeugt, wieder auf und wirken als natürliche Senken – also als Faktoren, die CO2 verschwinden lassen.
Die folgenden Ausführungen orientieren sich am Buch «Unerwünschte Wahrheiten – Was Sie über den Klimawandel wissen sollten» der deutschen Wissenschaftler und Publizisten Fritz Vahrenholt und Sebastian Lüning, sowie an einem Mailwechsel des «Nebelspalters» mit Fritz Vahrenholt.
CO2-Gehalt um 130 ppm gestiegen
Zu Beginn der industriellen Revolution betrug der CO2-Gehalt der Atmosphäre 280 Parts per
Million (ppm, Teile pro Million). Damals war der CO2-Kreislauf im Gleichgewicht. Die CO2Quellen und CO2-Senken der Natur glichen sich aus. Einen wesentlichen menschlichen Einfluss gab es noch nicht.
Insbesondere wegen der Verbrennung von Kohle, Gas und Öl, aber auch wegen industrieller Prozesse wie die Zementherstellung, ist der CO2-Kreislauf aus dem Gleichgewicht geraten. Seit etwa 1850 stösst der Mensch zusätzliches Kohlendixoid aus. Die natürlichen Senken, insbesondere die Ozeane und die Pflanzen, können diese neue CO2-Quelle nicht vollständig kompensieren. Der CO2-Konzentration ist darum bis heute auf rund 410 ppm angestiegen, liegt also um 130 ppm höher als in vorindustriellen Zeiten.
Die zusätzliche Senkenleistung der Natur hängt nur vom erhöhten CO2-Gehalt um 130 ppm der Atmosphäre ab. Sie bleibt darum unabhängig von weiteren menschlichen Aktivitäten bestehen.
Heute beträgt der menschliche CO2-Ausstoss 36,8 Milliarden Tonnen pro Jahr. Das entspricht im Prinzip einer jährlichen Steigerung um 4,7 ppm in der Atmosphäre. Doch weil sich der CO2-Gehalt insgesamt schon um 130 ppm erhöht hat, ist auch die natürliche Senkenleistung gestiegen: Ozeane, Pflanzen, aber auch das Gestein nehmen einen Teil des zusätzlich ausgestossenen Kohlendioxids wieder auf. Die zusätzliche natürliche Senkenleistung beträgt× derzeit jährlich 2,6 ppm, sodass der CO2-Gehalt der Atmosphäre unter dem Strich nur um 2,1 ppm pro Jahr ansteigt.
Senkenleistung der Natur bleibt bestehen
Zentral ist dabei, dass die zusätzliche Senkenleistung der Natur nur vom erhöhten CO2-Gehalt um 130 ppm der Atmosphäre abhängt. Sie bleibt darum unabhängig von weiteren menschlichen Aktivitäten bestehen. Um den CO2-Gehalt der Atmosphäre nicht weiter ansteigen zu lassen, genügt es also, wenn der Mensch seinen Ausstoss auf 2,6 ppm pro Jahr beschränkt – etwas mehr als die Hälfte des heutigen Ausstosses von 4,7 ppm. Eine Reduktion des Klimagas-Ausstosses um 50 Prozent reicht folglich aus, um den CO2-Gehalt der Atmosphäre zu stabilisieren.
Dass die Senkenleistung der Natur gegenüber vorindustriellen Zeiten erhöht ist, zeigt sich etwa daran, dass Pflanzen heute mehr CO2 aufnehmen und die Welt darum zunehmend grüner wird. Weltweit sind Wiesen und Wälder auf Kosten der Wüsten auf dem Vormarsch. Und die Landwirtschaft erfreut sich an höheren Ernteerträgen (lesen Sie hier und hier).
Noch in seinem vierten Sachstandsbericht von 2007 hat auch der Weltklimarat eine
Emissionsminderung von nur 50 Prozent bis 2050 gefordert. In seinen neueren Modellen geht der Weltklimarat aber davon aus, dass die Senkenleistung von Pflanzen und Meeren in Zukunft stark abnimmt und darum eine höhere CO2-Reduktion nötig ist. Allerdings gibt es in der Realität bis jetzt keine Anzeichen, dass die natürlichen Senken bald gesättigt sind. Die tatsächlich gemessenen Werte der Aufnahme der Ozeane und der Pflanzen legen sogar das Gegenteil nahe.
Polarmeere nehmen viel CO2 auf
Vor allem die oberen Schichten des Meeres in arktischen und antarktischen Gebieten bilden eine gewaltige CO2-Senke. Dort sinken jährlich eine Million Kubikkilometer salzhaltiges Wasser mit mehr als 100 Milliarden Tonnen CO2 in die Tiefe, um erst nach mehreren hundert Jahren in gemässigten Breiten wieder aufzutauchen. Da ist keine Sättigung in Sicht.
Bis zum Ende des 21. Jahrhunderts nimmt das Südpolarmeer rund 15 Prozent mehr Kohlendioxid× auf als bislang vermutet.
Die Senkenleistung des Südpolarmeers ist dabei offenbar noch grösser als bisher angenommen. Das zeigt eine Studie einer Forschergruppe des Oeschger-Zentrums der Universität Bern, die im April im Fachblatt «Science Advances» erschienen ist. Messungen ergaben einen höheren Salzgehalt des Oberflächenwassers des Südpolarmeers. Damit ist das Wasser schwerer und sinkt schneller in die Tiefe – zusammen mit dem CO2, das es enthält. Bis zum Ende des 21. Jahrhunderts nimmt das Südpolarmeer damit rund 15 Prozent mehr Kohlendioxid auf als bislang vermutet.
Es ist also eine Mär zu behaupten, nur mit einer Absenkung des CO2-Austosses auf «NettoNull» lasse sich das Klima stabilisieren. Die beschwerliche zweite Hälfte der Reduktion kann man sich mit gutem Gewissen sparen.
Der Beitrag erschien zuerst im Schweizer Nebelspalter hier