Mediensafari zur Bundestagswahl: wie die Lauterbachisierung das öffentliche Klima kippt
von Alexander Wendt
In diesem Text geht es um die mediale Klimawahlkampfbegleitung, um die ständig weiter fortschreitende Lauterbachisierung der Öffentlichkeit – und die damit verbundene Ermüdung von immer mehr Bürgern.
Als Fritz Kortner 1947 aus dem Exil nach Berlin zurückkehrte, nahm er sich ein Taxi, ließ sich durch die Straßen fahren und betrachtete die Ruinen. Der Fahrer, der ihn erkannte, sagte lange nichts. Und dann: „Sehn’ Se, Herr Kortner – viel hamse nicht verpasst.“
Es gibt mittlerweile nicht wenige, die wünschen sich ungefähr das gleiche – nicht die Ruinen natürlich, aber das gründliche Verpassen – wenn sie an den Wahlkampf denken. Nach dem 26. September wird jeder genügend Leute finden, die ihm ungefähr das gleiche bestätigen wie der Taxifahrer Kortner. Nicht jeder besitzt allerdings die dafür nötige Aufmerksamkeitsdefizitbegabung.
In diesem Text soll es um die mediale Klimawahlkampfbegleitung gehen, um die ständig weiter fortschreitende Lauterbachisierung der Öffentlichkeit – und die damit verbundene Ermüdung von immer mehr Bürgern. Diese Ermüdung wiederum führt zu dem verständlichen, aber möglicherweise auch fatalen Wunsch, die nächsten sechs Wochen gründlich an sich vorbeirauschen zu lassen.
Beginnen wir mit der für den Wahlkampf am Ende entscheidenden Themensetzung, dem, was heute Agendasetting heißt.
Der Spiegel, der kürzlich schon darlegte, wie die Grünen durch russische und chinesische Geheimdienste und rechte Verschwörer daran gehindert werden, sich ganz auf die Vermittlung ihrer Inhalte zu konzentrieren, nimmt sich diesmal den Klimareport des IPCC vor, um ihn wahlkampfkompatibel einzukochen:
Die Frage drängt sich auf, wann die Menschheit das Klima eigentlich zum letzten Mal kontrollierte. In der kleinen Eiszeit? Im mittelalterlichen Klimaoptimum?
Jedenfalls lässt sich das Datum eingrenzen, an dem die Kontrolle verloren ging: laut Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung im Sommer 2019.
Die 38,6 Grad von 2019 übertrafen tatsächlich den alten Juni-Hitzerekord von 1947 um 0,4 Grad. Kurz vor dem IPCC-Bericht war schon die Warnung vor einem sich dramatisch abschwächenden Golfstrom durch fast alle großen Medien gegangen, dessen Abriss, so die Warnung, zu dramatischen Kälteeinbrüchen in Europa führen könnte. Das Szenario stammt aus dem Magazin „Nature Climate Change“ und entstand unter Mitarbeit des Potsdam-Instituts. In den meisten Medien hieß es, diesem Papier zufolge könnte der Golfstrom, wie der WDR titelte, „schneller als erwartet zusammenbrechen“ (was suggeriert, er werde auf jeden Fall zusammenbrechen, nur eben früher als gedacht).
Der Golfstrom stehe vor dem „Kollaps“ (Focus), es drohe ein „Zusammenbruch des Systems“ (Tagesschau).
Die fast wortgleiche Warnung des gleichen Stefan Rahmstorf ging auch 2015 durch die Medien, beispielsweise im „Windkraft-Journal“. Laut Rahmstorf drohten „massive Folgen“; der Golfstrom „könnte sogar vollständig zusammenbrechen“.
Vor „kaskadenartigen Auswirkungen“ einer Golfstromschwäche warnte Greenpeace schon im Jahr 2011. Der gleiche Beitrag kündigte ein eisfreies Polarmeer für den Sommer 2020 an.
Als Referenz diente auch damals vor zehn Jahren wiederum Stefan Rahmstorf.
Ohne Zweifel verringert sich das arktische See-Eis in Vergleich zu den achtziger Jahren und früheren Jahrzehnten. Aber es bedeckte auch im Juli 2021 immer noch gut 7,69 Millionen Quadratkilometer.
Der Autor ist natürlich kein Klimaexperte, auch wenn er ein paar wenige Eckdaten halbwegs kennt. Aber in die einschlägigen Medientexte zur Golfstromschwäche – das kann auch ein Nichtklimawissenschaftler beurteilen – würde auch gehören, dass die Warnung vor dem bevorstehenden Golfstrom-Zusammenbruch nicht neu und überraschend ist, sondern seit mindestens zehn Jahren fast wortgleich zirkuliert, und zwar auffallen häufig mit Berufung auf ein und den selben Wissenschaftler.
Es würde in die Texte gehören, dass es zu diesem Thema ebenfalls seit Jahren eine kontroverse wissenschaftliche Diskussion gibt. Der Ozeanograph Richard Saeger etwa, Lamont Research Professor am Doherty Earth Observatory of Columbia University in Palisades, New York etwa misst dem Anteil der Meeresströmung am Wärmeaustausch zwischen Ozean und Atmosphäre deutlich weniger Bedeutung zu als Rahmstorf. Saeger spricht und schreibt seit mehreren Jahren vom „Gulf Stream Myth“. Der Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie Jochen Marotzke weist immer wieder darauf hin, dass die Atlantische Strömung (Atlantic Meridional Overturning Circulation, kurz AMOC), zu der auch der Golfstrom gehört, auch starken natürlichen Schwankungen unterliegt, und dass nicht jede Abschwächung einfach dem „menschengemachten” Anteil am Klimawandel zugeschlagen werden kann. Ähnlich Saeger hält er auch einen plötzlichen Zusammenbruch der Strömung für sehr unwahrscheinlich.
Das alles, wie gesagt, würde in Beiträge zu diesem Thema gehören. So, wie auch die Tatsache, dass sich selbst der IPCC-Bericht insgesamt nicht so katastrophisch liest wie seine Zusammenfassung durch den Spiegel oder Luisa Neubauer oder Umweltministerin Svenja Schulze („der Planet schwebt in Lebensgefahr“). Der IPCC-Text weist unter anderem darauf hin, dass die „Häufigkeit und Intensität von Kälteereignissen abgenommen hat“, was nicht ganz unwichtig ist angesichts der Tatsache, dass weltweit deutlich mehr Menschen an zu großer Kälte als zu großer Hitze sterben. Das IPCC beschreibt außerdem, wie die zunehmende CO2-Konzentration zu einer weltweiten Zunahme der Grünflächen führt.
In einer halbwegs austarierten Darstellung müsste auch genannt werden, wie viele Endzeit- und Zusammenbruchsvorhersagen bisher schon stillschweigend auf dem Prognosefriedhof verscharrt wurden. Etwa im Jahr 2007 die breit durch die Medien geschickte Prophezeihung von US-Wissenschaftlern, die arktische See würde schon 2013 im Sommer eisfrei und ein entscheidender Klima-Kipppunkt erreicht sein.
Der damals führend beteiligte Forscher meinte, seine Prognose sei „schon zu konservativ“. Im Jahr 2009 sagte Al Gore in „fünf bis sieben Jahren“ ein eisfreies Meer hoch im Norden voraus, natürlich auch wieder als finalen und katastrophischen point of no return.
(In der Gegenwart hat sich der Zeitpunkt der eisfreien sommerlichen arktischen See in vielen Prognosen auf 2035 verschoben)
Mittlerweile gibt es auch eine Reihe von Wissenschaftlern – etwa der oben erwähnte Jochen Marotzke oder der langjährige IPCC-Mitautor Hans von Storch – die vor der ständigen Ausrufung immer neuer Kipppunkte, Klimazusammenbrüche und Endzeiten warnen, weil ihnen aufgeht, dass diese Art Daueralarm ihre eigene Debatte zerstört. Die Intelligenteren merken, dass ein ganz anderer Kipppunkt mittlerweile schon erreicht ist: Während eine mediale und politische Gemeinde immer härten Katastrophendröhnung braucht, um die Wirkung bei sich konstant zu halten – ein bekanntes Problem bei bewusstseinsverändernden Substanzen – schaltet ein anderer Teil der Öffentlichkeit ab. Oder ertaubt durch den Sirenenton, der sich in diesem Klimawahlkampf noch einmal erheblich steigert.
Abwägungen und Ambivalenz findet sich im Klimajournalismus nur noch auf einigen Inseln (beispielsweise bei Axel Bojanowski in der Welt und Fritz Vahrenholt bei TE).
Aber so gut wie nichts davon bei öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und Magazinen wie Spiegel und Stern. Wo eine Zusammenfassung der pessimistischsten IPCC-Prognosen und der dramatischsten Untergangsankündigungen nicht mehr reicht, darf dort auch die agitatorische Brechstange zum Einsatz kommen.
Der Stern, dem nach Aussage seiner Chefredaktion über das Klima „nicht mehr neutral“ berichten will, und sich kürzlich selbst dafür geißelte, nicht alarmistisch genug zu sein, veröffentlichte unmittelbar nach der Flutkatastrophe an Ahr und Wupper eine Karte, die zeigen sollte, wie extrem die Niederschlagsmenge (natürlich klimabedingt) in den vergangen Jahren zugenommen hätte. Das würde allen Messergebnissen widersprechen, die laut Deutschem Wetterdienst eine moderate Zunahme der Niederschlagsmenge in Deutschland seit 1890 um 10 Prozent verzeichnen, aber keinen Trend für den Sommer. Die Stern-Karte zeigte auch gar nicht die Niederschlagsmenge. Sondern die Zahl der Messpunkte, von denen es heute deutlich mehr gibt als früher.
Erst, als unter anderem der Wissenschaftler, der die Karte zur Verfügung gestellt hatte, auf die Manipulation hinwies, entfernte die Redaktion die Grafik, erzählte aber auch das nächste Märchen: die Karte sei „veraltet“ gewesen.
War sie überhaupt nicht. Sie zeigte nur etwas ganz anderes, als es die Stern-Redakteure ihren Lesern einreden wollten. Möglicherweise findet die stetig abschmelzende und neuerdings RTL zugeschlagene Redaktion ja noch heraus, warum ihre Leser flüchten, obwohl den Deutschen das Klima-Thema doch so wichtig ist. Und obwohl die Redakteure den Lautstärkeregler schon bis zum Anschlag aufreißen.
Zu der Erzählung von den Deutschen, die in großer Mehrheit der klimaapokalyptischen Rhetorik folgen, passen bestimmte Umfragen schlecht. Beispielsweise die von Civey in diesem Klimawahlkampf-August, nach der mehr Bundesbürger Greta Thunberg negativ empfinden als umgekehrt.
Hier zeichnet sich genau das oben Beschriebene ab: Für einen gar nicht so kleinen Teil der Gesellschaft ist der Kipppunkt schon erreicht. Er empfindet den Immerschlimmerismus als Zumutung. Trotzdem setzt sich ungebremst fort, wofür sich der Begriff Lauterbachisierung der öffentlichen Kommunikation geradezu aufdrängt. Die politische Figur Karl Lauterbach verwaltet inzwischen ihren eigenen Prognosefriedhof. Mittlerweile steht fest, dass es die tausenden Toten nicht gibt, die er nach den UEFA-Spielen in britischen Stadien voraussah. Ebenso wenig wie die Sterbewelle nach Aufhebung der britischen Corona-Maßnahmen nach dem 19. Juli. Es überrascht nicht sonderlich, wenn der SPD-Politiker jetzt versucht, vom Corona- ins Klimafach zu wechseln.
Auf beiden Gebieten gilt mittlerweile in großen Teilen des Polit- und Mediengeschäfts, dass jeder, der den Apokalyptikern nicht bedingungslos folgt, sich unter Leugner einsortiert findet. Einem Apokalyptiker wie Lauterbach schadet es bei den großen Sendeanstalten bisher nicht, wenn er sich eine eigene Realität zurechtmodelliert. Sein Gerede von „nebenwirkungsfreien Impfungen“ ist falsch, dumm, vor allem sogar kontraproduktiv, wenn es darum geht, Menschen von der Impfung gegen Covid-19 zu überzeugen (der Autor dieses Textes ist kein Impfgegner und selbst geimpft, allerdings Gegner einer Impfpflicht).
Zur immer tieferen Lauterbachisierung der Öffentlichkeit in diesen Wahlkampfwochen gehört auch, dass eine ZDF-Redakteurin sich gegen einen progressiven Presse- und Twittermob wehren muss, der ihr vorwirft, Robert Habeck im Sommerinterview tatsächlich ein paar journalistische Fragen gestellt zu haben, beispielsweisenach den grünen Wahlkampfpannen, statt ihm ausschließlich Stichpunkte zum Klima, zum Klima und Klima zu überreichen.
Nachfragen sind nicht mehr selbstverständlich, jedenfalls nicht, wenn der „Brad Pitt der deutschen Politik“ (Süddeutsche Zeitung) gegenüber sitzt. Dann nämlich erfüllen nicht ganz auf Linie gebürstete Fragen der ZDF-Journalistin laut Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der ZEIT und Lenin der bundesdeutschen Klimapolitik, den Tatbestand der „Parteilichkeit für Verdrängung“.
Im Unterschied zu vielen Klima-und Corona-Prognosen geht es in diesem gesellschaftlichen Klimazustandsbericht nicht um eine Zukunft in einigen Jahren und Modelle, sondern eher um Beobachtungen hier und jetzt.
Die Stufe, in der Apokayptik erste Medienschaffendenpflicht wird und auch nachweislich falsche Prognosen und Serie ihren Urhebern nicht schaden, ist schon erreicht. Der nächste Kipppunkt deutet sich schon an, wenn der grüne Umweltminister von Schleswig-Holstein Jan Philipp Albrecht eine Werbefirma bis an den Rand der strafrechtlichen Nötigung zwingen will, den Auftraggeber einer Anti-Grünen Plakatkampagne zu nennen.
Es sind die gleichen Grünen, die eine anonyme klimapolitische Negativ-Kampagne gegen die CDU kürzlich ganz dufte fanden – übrigens auf den Flächen der gleichen Werbefirma.
Die gleichen, die lange kein Problem mit einem ihrer Politiker aus Baerbocks Verband in Brandenburg hatten, der weiß, wer die Nazis sind, damit prahlte, Waffen beschaffen zu können, und vergangene Woche nur deshalb in Schwierigkeiten kam, als er auch noch in Verdacht geriet, sein Nacktfoto an einen Minderjährigen geschickt zu haben.
Ohne diese spezielle Dummheit könnte er sich noch mit anderen aus dem Grünmilieu öffentlich darüber freuen, dass in Baerbocks Wahlkreis systematisch Plakate der politischen Konkurrenz beschmiert werden.
So etwas passiert ja nicht nur für die gute, sondern die beste und wichtigste Sache der Welt, die logischerweise keine Ambivalenz und schon gar keine Widerrede duldet.
In welchem Maß das angeschlagene, aber noch halbwegs intakte gesellschaftliche Klima außer Kontrolle gerät, wenn die Grünen erst regieren – beziehungsweise, wie es gerade unter Kontrolle gerät – das kann sich jeder auch ohne Expertenstatus ausmalen.
Es steht der nächste Kipppunkt unmittelbar bevor.
Der Beitrag erschien zuerst bei TE hier