von Alex Reichmuth, Nebelspalter

Klimaaktivisten und Umweltschützer verlagern ihren Kampf für schärfere Massnahme gegen die Erderwärmung in die Gerichtssäle. Das ist problematisch, denn dadurch geht die demokratische Kontrolle in der Klimapolitik verloren.

Das Nein des Schweizer Stimmvolks zum CO2-Gesetz hat weit über die Landesgrenzen hinaus Schlagzeilen gemacht. Zum ersten Mal ist die Bevölkerung eines Staates zu Massnahmen befragt worden, um das Klimaabkommen von Paris umzusetzen. Die Absage der Schweizerinnen und Schweizer zu neuen Abgaben, zusätzlichen Vorschriften und milliardenschwerer Umverteilung ist ein Signal, dass die Bevölkerung einer forcierten Klimapolitik zumindest skeptisch gegenüber steht.

Vor dem Gerichtshof für Menschenrechte

Möglicherweise müssen der Bundesrat und das Parlament aber doch bald mehr Klimaschutz durchsetzen, trotz des Verdikts des Volks. Denn vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg ist eine Klage der «Klimaseniorinnen» gegen die Schweiz hängig.

Es handelt sich um eine Gruppe von 1800 älteren Schweizer Frauen, die von ihrem Land eine strengere Klimapolitik verlangen. Sie argumentieren, dass mit dem Klimawandel höhere Temperaturen zu erwarten seien und sie als ältere Personen davon gesundheitlich besonders stark betroffen seien. Darum seien sie zu Klagen gegen eine angeblich zu lasche Klimapolitik der Schweiz berechtigt.

Klimaseniorinnen können sich Chancen ausrechnen

Im Mai letzten Jahres waren die Klimaseniorinnen vor dem Bundesgericht abgeblitzt. Doch jetzt, vor dem EGMR, können sie sich Chancen ausrechnen. Denn der Gerichtshof hat im März das Bundesamt für Justiz verpflichtet, zur Beschwerde der Klimaseniorinnen Stellung zu nehmen. Das bedeutet, dass der EGMR diese Beschwerde trotz abenteuerlicher Argumentation als begründet erachtet. Der Fall sei «von so grundsätzlicher Bedeutung für die Auslegung und Anwendung der Menschenrechtskonvention, dass der Menschenrechtsgerichtshof sehr wohl auf diesen Fall eintreten könnte«», sagte Rainer Schweizer, Staatsrechtler an der Universität St. Gallen, schon im letzten Oktober.

Das Bundesverfassungsgericht kam zum Schluss, dass das deutsche Klimaschutzgesetz nicht genüge, um die Grundrechte künftiger Generationen zu sichern.

Im April hat sich in Deutschland gezeigt, dass Klimaaktivisten Erfolg haben können, eine schärfere Klimapolitik auf dem Gerichtsweg durchzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht kam zum Schluss, dass das deutsche Klimaschutzgesetz nicht genüge, um die Grundrechte künftiger Generationen zu sichern.

«Grundstein für weitere Klagen»

«Die Vorschriften verschieben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030», erklärten die Richter. Eine Begrenzung des Temperaturanstiegs auf deutlich unter zwei Grad, wie im Pariser Klimaabkommen vorgesehen, sei nur mit dringenderen und kurzfristigeren Massnahmen zu erreichen.

Die deutsche Regierung ging eiligst daran, das Urteil umzusetzen, und verschärfte schon wenige Tage danach die Klimaziele deutlich.

Geklagt hatten mehrere Umweltverbände und die Jugendbewegung «Fridays for Future». «Im Idealfall ist diese Klage jetzt ein Grundstein für weitere Klagen, auch aus dem Ausland», triumphierte die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer auf Instagram.

Die deutsche Regierung ging eiligst daran, das Urteil umzusetzen, und verschärfte schon wenige Tage danach die Klimaziele deutlich: Bis 2030 soll Deutschland den CO2-Ausstoss um 65 statt 55 Prozent reduzieren, und die Klimaneutralität soll schon 2045 statt 2050 erreicht werden.

Wegweisendes Urteil in den USA

Allgemein verlagern Klimaaktivisten und Umweltschützer ihren Kampf für mehr Massnahmen gegen die Erderwärmung zunehmend in die Gerichtssäle. Sie führen dort meist ihre persönlichen Rechte an, die durch einen zu schwachen Klimaschutz verletzt seien. Immer häufiger kommen die Aktivisten damit bei den zuständigen Richtern durch.

In Europa bildete die Klage der Umweltbewegung Urgenda in den Niederlanden den Startschuss der Auseinandersetzungen vor Gericht.

Der Urknall der erfolgreichen Klimaklagen war vor 13 Jahren in den USA, als der Oberste Gerichtshof die Umweltbehörde EPA verpflichtete, den Ausstoss von Treibhausgasen zu regulieren. In Europa bildete die Klage der Umweltbewegung Urgenda in den Niederlanden den Startschuss der Auseinandersetzungen vor Gericht. In diesem Prozess verpflichteten Richter in Den Haag 2019 den niederländischen Staat, die Treibhausgase stärker einzuschränken. Die Folgen des Urteils waren unter anderem ein Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen sowie ein beschleunigter Kohleausstieg.

Weltweit gibt es mittlerweile rund 1600 Klagen vor Gericht für mehr Klimaschutz. Dabei geht es nicht nur gegen staatliche Behörden, sondern immer häufiger auch gegen Unternehmen. Das bisher spektakulärste Urteil gegen einen Konzern wurde im Mai wiederum in den Niederlanden gegen Shell gesprochen.

Potentiell jedes Industrieunternehmen betroffen

Ein Gericht verpflichtete den Ölkonzern, seine Treibhausgasemissionen bis 2030 um 45 Prozent gegenüber 2019 zu senken. Geklagt hatten Umweltorganisationen und über 17’000 Bürgerinnen und Bürger. Shell kündigte nach dem Urteil an, in Berufung zu gehen.

Die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg nannte das Urteil gegen Shell auf Twitter einen «sehr interessanten Start, der einen grossen Schneeball-Effekt haben könnte». Gemäss der deutschen «Welt» droht das «Schicksal, Adressat einer Klimaklage zu werden», nun praktisch jedem Industrieunternehmen. «Selbst Vorzeigebetriebe mit einer ausgefeilten Öko-Strategie wie etwa VW können sich nicht mehr sicher wähnen.»

«Ablehnung der Demokratie»

Die zunehmende Zahl an Klimaurteilen führt dazu, dass der Einfluss der Politik zurückgedängt wird. Nicht mehr Regierungen oder (wie in der Schweiz) das Volk entscheiden, wieviel Klimaschutz der Staat oder die Industrie zu befolgen hat, sondern Richter.

«Wenn Unzufriedene den Gang an Gerichte unternehmen und auf grundsätzliche Schutzpflichten verweisen», schrieb die Philosophin Katja Gentinetta in der «NZZ am Sonntag», «dann ist dies der Versuch, den politischen Prozess der Auseinandersetzung des Abwägens zu umgehen». Das sei «nicht nur eine Schwächung der Politik, sondern letztlich die Ablehnung der Demokratie».

Klimakläger werden immer professioneller

Doch weltweit reichen Umweltaktivisten immer neue Klimaklagen ein. Wie die «Welt» berichtete, hat sich in Deutschland eine Aktivistenvereinigung namens «Green Legal Impact» gebildet. Diese versteht sich als «junger Akteur, der sich für die Nutzung des Rechts als strategisches Instrument für den Umweltschutz und für einen breiten Zugang zu Gerichten engagiert». Es gehe um die «systematische Koordination» von «strategischen Klagen auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene». Die neue Organisation bietet Weiterbildungen zu strategischen Klagen für den Umweltschutz an. Sie wirbt gezielt junge Anwälte, Verbandsvertreter und Studenten mit prozessualen Vorerfahrungen an.

Die Klimakläger werden also immer professioneller darin, Gerichte für ihre Zwecke einzuspannen.

Der Beitrag erschien zuerst beim Nebelspalter hier

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