Nachschlag zum Thema Feindbildbestimmung: Was heißt heute Gnostizismus?

von Edgar L. Gärtner

Mein im Mai 2021 bei EIKE veröffentlichter Artikel mit dem Titel „Warum geistig gesunde Menschen ein Feindbild brauchen“hat (durchaus nicht ungewollt) einige Irritationen hervorgerufen. Nachdem ich meinen Beitrag auf die Plattform hochgeladen academia.edu hatte, meldeten sich entrüstete Diskutanten zu Wort, die mir vorwarfen, meine Ausführungen widersprächen dem in Wikipedia dargestellten politikwissenschaftlichen Forschungsstand und seien eindeutig reaktionär.

 

Hier der Aufmacher des Stichworts „Feindbild“ bei Wikipedia: „Mit Feindbild wird im Allgemeinen ein soziales Deutungsmuster gegenüber anderen Menschen, Menschengruppen (insbesondere Minderheiten), Völkern, Staaten oder Ideologien bezeichnet, das auf einer Schwarz-Weiß-Sicht der Welt (Dichotomie, Dualismus) beruht und mit negativen Vorstellungen, Einstellungen und Gefühlen verbunden ist.[1] Typisch für ein Feindbild ist, dass im Anderen bzw. Fremden das Böse gesehen wird und diesem negativen Bild kontrastierend ein positives Selbstbild bzw. Freundbild gegenübergestellt wird.[1] Feindbilder werden unter anderem von Politikern aufgebaut, die den Populismus praktizieren. Sie stützen sich dabei auf ein Verschwörungsdenken, das menschliche Verhaltensmuster der Abwehr und auf Protesthaltungen.[2]   Anmerkungen:  1) Franz Nuscheler: Braucht die Politik Feindbilder?. In: K. Hilpert/J. Werbick (Hrsg.): Mit den Anderen leben, Düsseldorf 1995, S. 251 f. 2) Florian Hartleb: Populismus – ein Hindernis für politische Sozialisation? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 41 (2005), S. 35. Online verfügbar: APuZ-Archiv (PDF; 1,61 MB); vgl. auch Uwe E. Kemmesies (Hrsg.): Terrorismus und Extremismus – der Zukunft auf der Spur. München 2006, ISBN 3-472-06588-5, S. 49 f.

Was zur Definition des Feindbildes in Wikipedia steht, deckt sich in der Tat nicht mit der Auffassung von Carl Schmitt, auf die ich mich berufe. Wikipedia fällt weit hinter Schmitt zurück, auf den es immerhin noch Bezug nimmt. Dieser hat sich ja ausdrücklich dagegen gewandt, den Feind zu verteufeln und ihm das Existenzrecht abzusprechen. Er hat betont, dass man mit dem Feind Handel und kulturellen Austausch treiben kann. Wikipedia hingegen verbreitet eine gnostische Schwarz-Weiß-Feindbild-Definition, die leider dem heutigen Zeitgeist entspricht. Und weil sich Gnostiker etwas anderes offenbar gar nicht vorstellen können, plädieren sie für den generellen Abbau von Feindbildern durch Gleichmacherei. Die Diskutanten werfen mir vor, was sie selbst praktizieren: Da ich für die Notwendigkeit von Feindbildern plädiere, erklären sie mich zum bösen Reaktionär, mit dem man nicht diskutieren darf und entsorgen mich in der Schublade bzw. Mülltonne „Populisten und Verschwörungstheoretiker“.

Feindbilder wurzeln immer in einer Religion. Das gilt, wie die aktuelle Auseinandersetzung um das „Klima-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts zeigt, auch für politische Bewegungen wie die Klimaschutz-Bewegung, die abstreiten, religiös fundiert zu sein. Religiöse Grundlage der Feindbildbestimmung durch Carl Schmitt war nicht der Nazismus, von dem er sich zeitweise verführen ließ, sondern der Katholizismus, dem er bis zu seinem Lebensende treu blieb. Religiöse Grundlage der Klimaschutz-Bewegung ist wie bei Karl Marx und beim NS-Chefideologen Alfred Rosenberg nach Reinhard W. Sonnenschmidt in seiner Schrift „Politische Gnosis“ (2001) letztlich die gnostische Häresie, die auf der Verabsolutierung aus dem Zusammenhang gerissener Forderungen des Christentums beruht. Mit dieser Häresie in verschiedenen Ausprägungen musste sich das Christentum in seiner 2000-jährigen Geschichte fast ständig auseinandersetzen. Wäre es dabei in der Gesamtbilanz nicht erfolgreich gewesen, hätte die europäische „Aufklärung“ im 18. Jahrhundert gar nicht aufkommen können. Dennoch erweckten manche „Aufklärer“ den Eindruck, erst sie hätten die Vernunft erfunden.

Am Ursprung aller gnostischen Häresien steht der unerfüllbare Wunsch unbescheidener Menschen, sich selbst zu erlösen und wie Gott zu werden. Der später zum Katholizismus konvertierte britische Star-Autor Gilbert Keith Chesterton drückte das in seinem Buch „Orthodoxy“ im Jahre 1908 mit unübertroffenem Witz so aus: „Der Mensch steht über dem Vieh; traurig ist er nur, weil er kein Tier ist, sondern ein unvollkommener Gott.“ Was die Menschen von Gott trennt und erlösungsbedürftig macht, ist die Ursünde Adams und Evas. Spätestens seit der Ursünde-Lehre von Augustinus von Hippo (354-430) gilt der Mensch im Abendland als zwar mit Vernunft begabtes Ebenbild Gottes und bezieht von daher seine Würde. Er zeigt sich aber gleichzeitig als unfertig und schwach und neigt deshalb zur Sünde gegen seinen Schöpfer, gegen sich selbst wie auch gegen seine Mitmenschen. Dieses alles andere als selbstherrliche Menschenbild übernahm später auch der Aufklärer Immanuel Kant. Umso bedenklicher erscheint es mir, dass sich inzwischen selbst kirchliche Würdenträger von der Ursünde-Lehre distanzieren.

Es geht mir hier nicht darum, meine Leser zum rechten Glauben zu bekehren, wohl aber um die Bewahrung einer wesentlich vom Christentum geprägten Kultur der Vernunft. Es geht dabei weniger um Gott, von dem wir uns ohnehin kein Bild machen sollen, sondern um das Menschenbild. Nicht von ungefähr beruft sich auch die libertäre Ikone Ayn Rand (Alissa Rosenbaum) auf den Dominikaner-Mönch und Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225-1274), der als Philosoph der Vernunft par excellence gelten kann. Der heilige Thomas würde sich heute insbesondere gegen die Pervertierung des biblischen Gebots der Nächstenliebe durch gutmenschliche Gleichmacherei und Fernstenliebe wenden. Denn von ihm stammt der Satz: Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit; Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung.“ Dominikaner der spätscholastischen Schule von Salamanca in Spanien entwickelten lange vor dem Schotten Adam Smith die Theorie der freien Marktwirtschaft. Kulturen und Wirtschaftsordnungen können sich zweifelsohne gegenüber ihren religiösen Wurzeln ein Stück weit verselbständigen. Kappen sie aber die Verbindungen zu ihren Wurzeln vollends und verlieren das Bewusstsein ihrer Herkunft, gefährden sie ihren Fortbestand.

In seinem Wesen bedeutet Gnostizismus die Verabsolutierung des real oder nur vermeintlich Guten – etwa in Gestalt des ursprünglich christlich begründeten Gleichheits-Grundsatzes. Wird dieser verabsolutiert, lassen sich gesellschaftliche Hierarchien nicht mehr begründen. Heute darf man nicht einmal mehr sagen, dass bestimmte Menschen intelligenter sind als andere. Ohne Hierarchie gibt es aber weder in der Natur noch in der Gesellschaft irgendwelche Ordnung, sondern nur Unordnung, Chaos. So etwas wie ein auserwähltes Volk (die Juden bzw. Israel) darf es nach dem verabsolutierten Gleichheitsgrundsatz  gar nicht geben. Ich lege aber auch als Christ großen Wert darauf, auserwählt zu sein. Nach christlicher (und liberaler) Auffassung ist jeder Einzelne etwas Besonderes. Der Glaube ist eine Gnade, die (leider) nicht jedem zuteilwird. Ich würde deshalb aber keinen Kreuzzug gegen Ungläubige veranstalten, sondern lediglich meinem Glauben entsprechend zu leben versuchen und gleichzeitig die biblische Botschaft der Nächstenliebe verbreiten helfen. Zu Konflikten mit der Staatsmacht muss es allerdings kommen, wenn der Staat in einer Weise in meine persönliche Lebensgestaltung eingreift, die mir das verwehrt. Ich will aber deshalb den Staat nicht erobern, um allen meine christliche Lebensauffassung aufzuzwingen. Aber wenn mir der Staat reinredet, leiste ich passiven und womöglich auch aktiven Widerstand.

Man kann den Unterschied zwischen einer gnostischen und einer vernünftigen Feindbildbestimmung m.E. gut anhand des aktuellen Streits um unsere Haltung gegenüber der Volksrepublik China illustrieren. Das Menschenbild der KPCh widerspricht dem unsrigen fundamental. So etwas wie Barmherzigkeit kommt darin nicht vor. Die einen wollen nun die KPCh mit dem Abbruch von Handelsbeziehungen und anderen Sanktionen zur Änderung ihrer Einstellung zwingen, was wohl ohnehin illusorisch ist. Ich würde hingegen weiter Handel und kulturellen Austausch mit den Chinesen pflegen – aber im Bewusstsein, dass das unsere Feinde sind, d.h. etwas wollen, das wir nicht wollen können, ohne uns selbst aufzugeben. Wir können ihnen also nicht blauäugig gestatten, bei uns unkontrolliert Konfuzius-Institute o.ä. zu unterhalten. Wer in der Welt, wie sie nun mal ist, bestehen will, muss vor allem wissen, was er nicht will. Das ist den meisten Menschen auch durchaus klar. Deshalb wirken vernünftige Feindbilder einigend, während Gnostizismus (Gutmenschentum) das Volk spaltet, weil Menschen, die sich einen mehr oder weniger großen Rest gesunden Menschenverstands bewahrt haben, da nicht mitmachen können. Ich stehe weiterhin zum biblischen Gebot: „Liebet Eure Feinde!“   Um seine Feinde lieben zu können, muss man aber erst einmal welche haben. Denn wo alles gleich(gültig) ist, gibt es weder Feinde noch Liebe.