Corona-Panik, die dritte : Zentrale Gründe für die Verfassungswidrigkeit des Teil-Lockdown vom 28. Oktober 2020

Eine verfassungsgerichtliche Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht oder das Bundesverfassungsgericht hätte jedoch nicht den Beschluss zum Gegenstand, sondern die ihn umsetzenden Rechtsverordnungen, welche von den zuständigen Stellen der einzelnen Bundesländer erlassen werden. Die nachfolgende verfassungsrechtliche Prüfung hingegen hat nicht eine konkrete Landesverordnung zum Gegenstand, sondern den Beschluss vom 28. Oktober 2020. Dabei unterstelle ich, dass die Landesverordnungen sich eng an die Anordnungen und Begründungen der unten zitierten Verlautbarung der Bundesregierung zum Bund-Länder-Beschluss halten.

Regelungsgegenstand

Das außerhalb des Grundgesetzes bestehende, informelle Entscheidungsgremium aus den 16 Ministerpräsidenten der Länder und dem „Coronakabinett“ der Bundesregierung hat am 28.10.2020 für den Monat November einen Teil-Lockdown beschlossen, der weniger strikt ist als der vom 23. März. Vor allem die Schulen und Kitas bleiben offen, ebenso der Groß-und Einzelhandel sowie die Friseure. Geschlossen werden die Restaurants, Bars, Clubs, Kneipen, Diskotheken sowie die Hotels für touristische Übernachtungen.

Geschlossen werden auch die Kultur- und Freizeiteinrichtungen wie Theater, Konzerthäuser, Kinos oder auch Schwimmbäder und Fitnessstudios. Der Freizeit- und Amateursportbetrieb wird eingestellt. Profisportveranstaltungen dürfen nur ohne Zuschauer stattfinden.

Private Kontakte in der Öffentlichkeit sind auf maximal 10 Personen beschränkt und nur mit Angehörigen aus dem eigenen und einem weiteren  Hausstand möglich. In der privaten Häuslichkeit sollen Feieraktivitäten vermieden werden.

Angesichts der „inzwischen exponentiellen Infektionsdynamik und um eine Überforderung des Gesundheitssystems zu vermeiden“, ist es erklärtes Ziel der Maßnahmen, „das Infektionsgeschehen aufzuhalten und  die Zahl der Neuinfektionen wieder in die nachverfolgbare Größenordnung  von unter 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in einer Woche zu senken“.

Der Bund gewährt Unternehmen und Einrichtungen, die von den Schließungen erfasst werden, eine außerordentliche Wirtschaftshilfe. Sie erhalten Ersatz für ihre Umsatzverluste in Höhe von 75 % des Umsatzes im November 2019. Bestehende Hilfsmaßnahmen für die Kultur- und Veranstaltungswirtschaft sowie die Soloselbständigen werden verlängert (Aus der Verlautbarung der Bundesregierung vom 28. Oktober zum Bund-Länder-Beschluss zur Corona-Pandemie).

 

Grundrechtseingriffe

Die angeordneten Kontaktbeschränkungen stellen Eingriffe in die Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG dar. Die Verbote und Einschränkungen der beruflichen und wirtschaftlichen Aktivitäten  in den unterschiedlichen Bereichen sind Eingriffe in die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG. Rechtlich umstritten ist es, ob letztere, und zwar unter dem Aspekt des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs“, auch Eingriffe in das Eigentumsrecht des Art. 14 GG darstellen. Dieses innerrechtliche Problem soll im Folgenden offen bleiben und nur Art 12 Abs. 1 GG geprüft werden.

 

Verfassungsmäßigkeit der Eingriffe

Die Verfassungsmäßigkeit der Eingriffe in Grundrechte richtet sich, wie sich erfreulicherweise mittlerweile herumgesprochen hat, in erster Linie nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit seinen drei Elementen der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Zweck/ Mittelproportionalität der Eingriffe. Für diese Prüfung, die hier allein auf der grundrechtlichen Ebene der Art. 8 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG erfolgt, spielt die Gewährung von Entschädigungszahlungen keine Rolle. Die Grundrechte sind grundsätzlich nicht monetarisierbar.

Während die beiden Lockdownbeschlüsse vom März und April noch ohne explizite verfassungsrechtliche Bezugnahme auskamen, verwendete die Bundeskanzlerin nun mit demonstrativer Betonung die trinitarische Formel des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Hilfreich für diesen Lernprozess mögen die gerichtlichen Niederlagen gewesen sein, welche zu zahlreichen Aufhebungen von Bestimmungen der  Länderverordnungen (vor allem.bei den Beherbergungsverboten) geführt hatten. Freilich ist die bloß demonstrative und affirmative Verwendung der Verhältnismäßigkeitsformel unzureichend, wenn sie nicht mit überzeugendem Inhalt gefüllt wird.

 

  1. Die Geeignetheit der Eingriffe

Bei der Prüfung dieses Merkmals des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (wie auch bei der Prüfung der beiden anderen Merkmale) gilt grundsätzlich das Prinzip des Gestaltungs- und Prognosespielraums der handelnden legislativen (Gesetzgeber) oder exekutiven (Verordnungsgeber) Organe. Das Bundesverfassungsgericht spricht auch von der „Einschätzungsprärogative“ dieser Organe. Je intensiver freilich in die Grundrechte eingegriffen wird und je gewichtiger der Sachverhalt ist, desto intensiver erfolgt auch die gerichtliche Kontrolle, wie das BVerfG u.a. in seinem bahnbrechenden Mitbestimmungsurteil postuliert hat (BVerfGE 50, 290 /  333-Mitbestimmung; näher zum Problem der unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Kontrolldichten Schlaich / Korioth 2017, 398 ff) . Da auch der Lockdown light in historisch einmaliger Schärfe in wesentliche Grundrechte einer ganzen Nation eingreift, ist mit der intensiven Inhaltskontrolle der strengste verfassungsgerichtliche Kontrollmaßstab anzuwenden. Er reduziert die Einschätzungsprärogative des Bundes- und Landesverordnungsgebers auf Null.

Die Beschränkung der menschlichen Kontakte in der dargestellten Weise greift in den personalen Kernbereich der Versammlungsfreiheit des Art. Abs. 1 GG ein. Die zeitweise Schließung von Geschäften und Unternehmen greift in den personalen Kernbereich der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG ein, es handelt sich um temporäre Berufsverbote. Die Eignung dieser Anordnungen, das Infektionsgeschehen aufzuhalten, hätte daher sorgfältig begründet werden müssen. Dies ist nicht erfolgt.

Als Ziele des Lockdown nennt der Beschluss, 1. „das Infektionsgeschehen aufzuhalten“ und 2. die 7-Tage-Inzidenz wieder unter 50 pro 100.000 Einwohner zu senken. Über die Erreichung des ersten Ziels gibt die folgende Graphik aus worldometer Auskunft:

Es zeigt sich, dass am Beginn des Lockdown am 2.11.2020 der „7–day moving average“ der Fallzahlen bei rund 15.700 lag und am 23.11.2020 bei rund 18.450. Das Infektionsgeschehen aufzuhalten, ist bei strenger Betrachtung offensichtlich auch nach 3 Wochen nicht erreicht worden. Allerdings hat sich die Zunahme seit dem 7.11. auf hohem  Niveau stabilisiert. Dies könnte als „Aufhalten“ gesehen werden. Entscheidend dafür ist mangels Einschätzungsprärogative aber nicht die Auffassung des Verordnungsgebers, sondern die des Gerichts. Dieses wird erstens das Eingeständnis des RKI in Rechnung stellen, dass die Stabilisierung der Fallzahlen zumindest zum Teil auf die aktuelle Verringerung der Tests, nicht aber auf die Maßnahmen zurückzuführen ist. Das Gericht wird außerdem das 2. Ziel der 50/100.000 -Inzidenz hinzunehmen und dann wahrscheinlich die Zielerreichung verneinen. Denn laut täglichem Lagebericht des RKI vom 23.11, d.h. nach immerhin 3 Wochen Laufzeit der Maßnahmen, kommen nicht 50, sondern 141 „Infizierte“ auf 100.000 Einwohner.

Die fehlende Zielerreichung des Lockdown wiederholt die Erfahrung aus dem Frühjahr. Damals konnte eine weitere Absenkung des R-Faktors als eines zentralen Indikators für die Infektionsdynamik, nachdem er einmal unter 1 gefallen war, auch Wochen nach der Anordnung des Lockdown nicht erreicht werden (Nahamowitz 2020). In dieselbe Richtung weist die Erfahrung, dass die am 22. April eingeführte Maskenpflicht ohne Einfluss auf das Infektionsgeschehen in Deutschland war (CIDM online, Graphik Aktuelles Corona-Monitoring 2 / 2).

Diese negativen Erfahrungen aus dem Frühjahr können verallgemeinert werden. In einer hochrangigen aktuellen Studie des amerikanischen National Bureau of Economic Research wird gezeigt, dass Lockdowns, Schließungen, Reisebeschränkungen, Quarantänemaßnahmen Sperrstunden und Masken keinen Einfluss auf die Übertragungsraten des Corona-Virus und die Todesfälle haben (Atkeson, Kopecky, Zha 2020). Ob diese Erfahrung aus dem Frühjahr eins zu eins auf die gegenwärtige kalte und dunkle Jahreszeit übertragen werden kann, erscheint zweifelhaft. Immerhin erhält die Studie die Erinnerung wach an die inhärenten, von politischen Steuerungsmaßnahmen nicht oder kaum beeinflussbaren Tendenzen einer Epidemie – das ist angesichts des allerorten auffindbaren politischen Aktionismus ein wertvoller Fingerzeig.

Letztlich kann freilich die Frage der Geeignetheit des Teil-Lockdown dahingestellt bleiben. Denn wie im folgenden zu zeigen sein wird, folgt seine Verfassungswidrigkeit eindeutig aus seiner mangelnden Erforderlichkeit.

  1. Die Erforderlichkeit der Grundrechtseingriffe

Die Erörterung der Erforderlichkeit ist die zweite Station der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Ein Grundrechtseingriff ist nur dann erforderlich, wenn es kein milderes Mittel zur Zielerreichung gibt. Das wäre im Fall eines Lockdown nur dann der Fall, wenn Corona ein gemeingefährliches Killervirus wäre. Hätte es hingegen nur die Gefährlichkeit eines Grippevirus, wäre überhaupt keine staatliche Zwangsmaßnahme zum Schutz des Gesundheitswesens vor Überforderung erforderlich. Nirgendwo auf der Welt, und auch nicht in Deutschland, wird gegen eine Grippeepidemie mit staatlichen Zwangsmaßnahmen vorgegangen, auch nicht beim Auftreten einer schweren Grippewelle mit vielen Tausend Toten.

 

  1. 2. 1. Ist SARS-CoV-2 gefährlicher als das Grippevirus?

Es ist vor allem der seit seiner Heinsbergstudie prominent gewordene Bonner Virologe Hendrik Streeck, der mit großer Entschiedenheit die Auffassung vertritt, zuletzt in den Talkshows von Lanz und Maischberger, dass Corona 4 bis 5 Mal gefährlicher als das Grippevirus sei. Der Meinung des ansonsten geschätzten Virologen ist mit derselben Entschiedenheit zu widersprechen.

Die kürzliche schwere Grippewelle von 2017/ 18 forderte in Deutschland nach Schätzung des RKI 25.000 Todesopfer. Sie ist kein Einzellfall. Ihre Vorläufer waren die Grippewellen 1995/ 96 (mehr als 30.000 Tote), 2002/ 2003 (etwa 15.000 Tote), 2004/ 2005 (ebenfalls etwa 15.000 Tote). Alle Todeszahlen gelten für Deutschland (vgl. Reiss, Bhakdi 2020, 32 f). Während in Deutschland eine gewöhnliche saisonale Grippe mit einigen Hundert Toten eine Fallsterblichkeit von 0,1 % bis 0,2 % hat, lag die Sterblichkeitsrate der Grippe 2017/ 18 deutlich über 1 % (ebd.). Ihr steht die in der Heinsbergstudie für Corona festgestellte Letalitätsrate von 0,37 % gegenüber, welche Streeck viele Anfeindungen eingebracht hat, liegt sie doch mehr als ein Zehntel niedriger als die von WHO und RKI lange Zeit propagierten  Sterblichkeitsraten von 3 – 5%.

Im Vergleich zu einer gewöhnlichen saisonalen Grippe liegt die Heinsbergrate von 0,37 % etwa  2 bis 3 Mal höher, im Vergleich zu den nicht seltenen schweren Grippewellen ist sie viel niedriger. Insgesamt geht man sicher nicht fehl, wenn man Grippevirus und Coronavirus als etwa gleich gefährlich einstuft. Diese Einschätzung hat nun eine sensationelle Bestätigung durch einen Strategieschwenk der WHO erfahren. Das Bulletin der WHO vom 14. Oktober enthält die Ergebnisse einer umfangreichen Metaanalyse des weltweit renommierten Stanford Epidemiologen John Ioannidis von über 60 vorliegenden Coronastudien, einschließlich der Heinsbergstudie (Ioannidis 2020). Ioannidis sieht die Median-COVID-19-Infektionssterblichkeitsrate bei nur 0,23 %. Sie liegt damit auf dem Niveau eines mittelschweren Grippevirus. Diese Veröffentlichung hat das Zeug zum game changer im weltweiten Corona-Spiel. Nirgendwo auf der Welt hat bisher das Grippevirus,   auch nicht in seinen schweren Varianten, spezielle staatliche Schutzmaßnahmen ausgelöst, welche über die jährliche Grippeimpfung mit ihrer in Deutschland durchschnittlichen Wirksamkeit von nur 10 % hinausgehen. Offenbar gelten derartige Schutzmaßnahmen weltweit nicht als erforderlich.

Im Zusammenhang mit dem WHO-Bulletin ergibt sich zunächst die Frage, wie es zu dieser überraschenden Veröffentlichung kommen konnte, galt die WHO doch bis dahin allgemein als die globale Speerspitze der Corona-Alarmisten. Die Vermutung ist, dass chinesischer Druck die Veröffentlichung befördert hat. Das chinesische Interesse an einer solchen Deeskalation ist ökonomischer Art. Zur Aufrechterhaltung der eigenen Exporte soll verhindert werden, dass die besinnungslose Jagd auf das Virus via staatlicher Containement-Maßnahmen zu einer erneuten drastischen Schwächung der Wirtschaft in den Industrieländern führt.

Wichtiger ist freilich die Frage, warum die WHO-Publikation nicht bremsend auf die europäischen Länder Deutschland, Frankreich, Italien, England, Griechenland u.a. gewirkt hat, die etwa 14 Tage nach Veröffentlichung der Publikation gleichsam im Gleichschritt rigide Beschränkungen  angeordnet haben. Immerhin impliziert das Ergebnis der Veröffentlichung die Gleichsetzung der Gefährlichkeit von Corona mit einem mittelschweren Grippevirus.

Man kann von den Regierungen nicht erwarten, dass sie die Veröffentlichungen der WHO kennen. Das kann man aber von ihren Public-Health-Instituten, in Deutschland dem RKI, erwarten. Das RKI, eine Bundesoberbehörde, hat sicherlich Kenntnis von der Publikation genommen. Die Frage ist, hat es seine Kenntnis nicht an seinen Dienstherrn weiter gegeben, oder hat sich die Regierung über sie hinweg gesetzt? Die Beantwortung dieser spannenden Frage muss leider offen bleiben.

Klar aber ist, dass die WHO-Botschaft potentiell eine große Explosivkraft für die Lockdown-Regierungen hat. Denn sie bedeutet, dass die Regierungen von Beginn der Corona-Krise an einer Chimäre nachgejagt sind. Statt ein gemeingefährliches haben sie ein Virus gejagt, dessen  Gefährlichkeit auf dem Niveau eines mittelschweren Grippevirus liegt. Würde das der Öffentlichkeit bewusst werden, wären die negativen Konsequenzen für das politische Renommee, die Popularität und die Legitimation der verantwortlichen Regierungen gar nicht zu überschätzen.

Die Nichtbeachtung der empirischen Evidenz, welche die Lockdown-Strategie der staatlichen Corona-Bekämpfung von Beginn an auszeichnet (Nahamowitz 2020), ergibt sich noch aus einer anderen Überlegung, in deren Mittelpunkt noch einmal die große Grippewelle 2017/ 18 steht. Diese raffte in 3 Monaten nach der Schätzung des RKI 25.000 Menschen dahin. Die Krankheit COVID-19 forderte in den 9 Monaten ihres Wirkens von Februar bis November 2020 knapp 11.000 Tausend Tote, wobei in dieser Zahl auch die große Anzahl bloß „mit“ Corona Verstorbener enthalten ist. Der unmittelbare Vergleich zeigt die sehr viel höhere Gefährlichkeit des Influenzavirus gegenüber SARS-CoV-2. Mir ist bei ARD und ZDF unter den unzähligen Corona- Sendungen keine einzige bekannt, in der ein solcher doch nahe liegender Vergleich angestellt worden wäre – man erkennt, die TV-Sender sind mit viel Beflissenheit im Dienst der Regierung am Werk. Außerdem erkennt man, dass das Evidenz-Argument  nicht immer hochwissenschaftlicher Forschungsanstrengungen im Stil eines John Ioannidis bedarf, manchmal genügt die alltägliche vergleichende Anschauung. Auch sie ergibt die fehlende Erforderlichkeit des Teil-Lockdown.

3.2.2. Das Ignorieren der Testhäufigkeit führt in die Verfassungswidrigkeit

Von KW 33 (10.8. – 16.8.2020) bis KW 46 (9.11. – 15.11.2020) nahm die Zahl der Testungen um etwa 850.000 auf ungefähr das Doppelte zu (vgl. die Graphik).

Da dadurch die relativ hohe Dunkelziffer von etwa 10:1 (Reiss, Bhakdi 2020, 33) stärker ausgeleuchtet wurde, stieg zwangsläufig auch die wöchentliche Zahl der positiv (und falsch-positiv) Getesteten in KW 46 auf 131.037). Sie ist auf der roten „Panikkurve“ abgetragen. Durch die Zunahme der Testungen hat die Politik also wesentlich selbst den Zustand geschaffen, den sie nun mittels Lockdown bekämpft.

Bezieht man hingegen zutreffend die positiv Getesteten auf 100.000 Testungen, ergibt sich statt des steilen („exponentiellen“) Anstiegs der roten Kurve ein sanfter Anstieg auf 7.786 positiv Getestete in KW 46,  wie ihn die blaue „Realkurve“ zeigt. Von den im Lockdownbeschluss an die Wand gemalten Schreckensbildern einer „exponentiellen Infektionsdynamik“ und einer drohenden „Überforderung des Gesundheitswesens“ kann dann keine Rede sein. Die Realkurve entzieht dem Lockdown die epidemische Grundlage, womit seine Erforderlichkeit und damit seine verfassungsrechtliche Legitimation entfällt. In epidemiologischer Hinsicht widerlegt die Realkurve zudem die permanente öffentliche Behauptung von der Existenz einer „zweiten Welle“.

3.2.3. Untersterblichkeit in Deutschland – Lockdown auch deswegen nicht erforderlich

Seit KW 35 (24. 8. – 30.8.2020) besteht in Deutschland (hier für Berlin gezeigt) vermutlich eine beträchtliche Untersterblichkeit, die sich letzthin sogar verstärkt hat. Das macht die Euromomo-Kurve anschaulich.

Grob gesprochen bedeutet Untersterblichkeit, dass die Sterbezahlen im fraglichen Zeitraum im Vergleich zum Durchschnitt der letzten 5 Jahre niedriger sind. In KW 46 (9.11. – 15.11.), der  zweiten Woche des Lockdown, betrug der Untersterblichkeitswert (Standardabweichung) beträchtliche  minus 1,65. Zurückgehende Sterblichkeitszahlen entlasten das Gesundheitssystem auf allen Ebenen, vor allem die Krankenhäuser und Intensivabteilungen – das Gegenteil der im Lockdownbeschluss heraufbeschworenen Belastung.

Die gegenwärtigen Meldungen, dass die Intensivbettenbelegung den Höchststand vom Frühjahr überschreite, haben mal wieder eine alarmistische Zielsetzung. Sie unterschlagen, dass nicht nur die Zunahme für die Herbstsaison normal ist, sondern vor allem, dass im Frühjahr die Intensivabteilungen in Deutschland zu 50 % unterbelegt waren, so dass aus dem Ausland Patienten aufgenommen wurden und zudem Kurzarbeit für die Ärzte angemeldet werden musste,

Gegenwärtig taucht in diversen Talkshows der Hamburger Intensivmediziner Stefan Kluge auf, der das vor allem vom RKI propagierte Narrativ, dass die deutschen Intensivstationen alsbald drohen, „an ihre Kapazitätsgrenzen zu stoßen“, beflissen bestätigt. Der Mediziner, gleichsam das Hamburger Gegenstück zum Corona-kritischen Rechtsmediziners Prof. Püschel, sollte einmal erklären, wie es sein kann, dass in einer längeren Phase deutlicher Untersterblichkeit im Land die Intensivstationen überzulaufen drohen. Laut RKI sind gegenwärtig denn auch nur 3.700 Corona-Kranke auf Intensivstation (bei insgesamt 28.000 Intensivbetten), wobei man sicher sein kann, dass unter ihnen ein hoher Anteil auf Corona umetikettierter Kranker sich befindet.

Das im Lockdownbeschluss formulierte Ziel, „die Zahl der Neuinfektionen wieder in die nachverfolgbare Größenordnung von unter 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in einer Woche zu senken“, spricht die gegenwärtige Überlastung der Gesundheitsämter an. Diese liegt freilich in erster Linie an den politisch via Zunahme der Testungen gesteigerten „Infektions“-Zahlen. Würde sich die Politik außerdem endlich die tatsächliche nur mittlere Gefährlichkeit des Corona-Virus eingestehen, entfiele gänzlich der Grund, die Gesundheitsämter mit der Wahrnehmung von Tracing-Aktivitäten zu überlasten. Damit entfällt auch unter diesem Aspekt die Erforderlichkeit des Lockdown.

Die These, dass die Intensivstationen in Deutschland weit entfernt davon sind, an ihre Kapazitätsgrenzen zu stoßen, wird bestätigt durch eine weitere Graphik der Corona Initiative Deutscher Mittelstand.

Die nahezu waagrechte braune Kurve unten bildet die Corona-Krankheitsfälle in Behandlung ab. Sie ist gegenwärtig nicht nur flacher als im April, sondern ergibt auch zusammen mit den stark gestiegenen absoluten Fallzahlen das „Corona-Paradox“: anders als im Frühjahr bilden die gegenwärtigen Krankheitszahlen nicht mehr so proportional das Steigen der Fallzahlen ab, sie haben sich relativ von diesen entkoppelt.

Angesichts der aus mehreren Gründen festgestellten fehlenden Erforderlichkeit des Teil-Lockdown erübrigt sich die Erörterung der Zweck/ Mittelproportionalität als des dritten Elements des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Der Teil-Lockdown vom 28. Oktober ist im Gesamtergebnis verfassungswidrig.

Schlussbetrachtung: Die doppelte Absurdität der Corona-Politik

In Deutschland sterben gegenwärtig im Jahr durchschnittlich rund 950.000 Menschen, das sind 2.600 am Tag. An und mit Corona starben im laufenden 7-Tage- Durchschnitt laut worldometer 236 Menschen, etwa 9 % der´Toten dieser Tage. Zur Erinnerung: davon sind höchstens die Hälfte „echte“, d.h. „an“ Corona Verstorbene. Von den Ü80-Jährigen sterben fast die Hälfte an Herz-Kreislauferkrankungen, fast ein Drittel an Krebs und nur ca` 10 % an Atemwegserkrankungen wie Influenza oder COVID-19 (Reiss, Bhakdi 2020, 29).

Auf diese 9 % „Corona-Tote“ konzentriert sich seit März in Deutschland absurderweise nicht nur die Gesundheitspolitik, sondern auch fast die gesamte übrige Politik, vor allem die Wirtschaftspolitik mit viel Energie und gewaltigen Finanzmitteln. Andere wichtige Krankheits- und Todesursachen genießen nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit.

Um die geschätzt jährlich 30 – 40.000 Tote aufgrund von Krankenhauskeimen z.B. kümmert sich die Politik nicht. Krankenhauskeime töten, weil erstens in den Krankenhäusern aufgrund von Sparmaßnahmen nicht ausreichend gereinigt wird und zweitens die Pharmakonzerne wegen zu geringer Renditechancen nicht in die Antibiotikaforschung investieren (näher zum Problem der Krankenhauskeime Arvay 2020, 79 ff). Ein Bruchteil der für die Corona-Bekämpfung aufgewendeten staatlichen Finanzmittel würde in diesem Bereich wahrscheinlich signifikante Erfolge erzielen. Dass dies nicht geschieht, entlarvt das von der Politik beim Kampf gegen Corona immer wieder betonte humanistische Engagement für die Erhaltung von Leben als verlogen und scheinheilig.

Ebenfalls nicht wichtig erscheint der Politik die konsequente Vermeidung von Zucker. Dieser, verborgen in den industriell gefertigten Nahrungsmitteln, ist eine primäre Ursache für Diabetes, Übergewicht, Bluthochdruck und auch Krebs (Perlmutter 2014), welche wesentliche letale Vorerkrankungen bei den „Corona-Toten“ sind. Hier fehlt es an angemessenen Verboten und gezielter Aufklärung, die auch für ausreichend körperliche Bewegung werben sollte.

Abschließend werfen wir noch einmal einen Blick auf die epidemiologische Gegensätzlichkeit der drei winterlichen Grippemonate 2018 einerseits und der Lockdownphase ab 2. November 2020 andererseits. Die obige Euromomo-Graphik weist die hohe Übersterblichkeit des Grippewinters 2018 mit einer Standardabweichung von in der Spitze plus 7,82 aus, auf der anderen Seite die erste Woche (KW 45) des Teil-Lockdown im November 2020 mit ihrer beträchtlichen Untersterblichkeit (Standardabweichung minus 1,71). Die Absurdität besteht darin, dass die Phase hoher Übersterblichkeit mit ihren zwangsläufigen Belastungen für das Gesundheitswesen von diesem gewissermaßen lautlos verarbeitet wurde und die Politik nicht zu besonderen Schutzmaßnahmen veranlasst hat, wohl aber die gegenwärtige Phase beträchtlicher Untersterblichkeit mit ihren zwangsläufigen Entlastungen des Gesundheitswesens.

Gesamtfazit: Die deutsche Corona-Politik ist durch eine von Beginn an bestehende Unverhältnismäßigkeit und das heißt auch: durch das Schießen mit Kanonen auf Spatzen, Panik, Ignoranz und Unwahrhaftigkeit gekennzeichnet. Ich habe die Hoffnung, dass die politisch Verantwortlichen in dieser oder jener Form für ihre unablässigen Fehlleistungen, deren schädliche Effekte in alle Poren der Gesellschaft eingedrungen sind, zur Verantwortung gezogen werden.

 

Quellen:

Arvay, Clemens G. 2020: Wir können es besser,  Köln.

Atkeson, Andrew, Kopecky, Karen, Zha, Tao 2020:  Four stylized facts about COVID-19, Working Paper 27719, National Bureau of Economic Research.

Joannidis, John P.A 2020: Infection fatality rate of COVID-19 inferred from seroprevalence data, Bulletin der WHO vom 14. Oktober.

Nahamowitz, Peter 2020: Sechs kurze Begründungen für die Verfassungswidrigkeit des Shutdown in Deutschland, EIKE-Publikation vom 17. Mai.

Perlmutter, David 2014: Dumm wie Brot, München (6. Aufl.).

Reiss, Karina, Bhakdi, Sucharit 2020: Corona Fehlalarm ?, Berlin.

Schlaich / Korioth 2017: Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, Mü

Zum Autor:

Peter Nahamowitz war Prof. für öffentliches Wirtschafts- und Finanzrecht sowie Politikwissenschaft am Fachbereich Rechtswissenschaften der Leibniz Universität Hannover. Er ist seit 2007 im Ruhestand.