Der Lockdown-Denkfehler, den bisher keiner entdeckte
Seit einiger Zeit treibt mich ein Widerspruch um, zu dem ich mich noch nicht öffentlich geäußert habe. Das hat zwei Gründe. Erstens war ich unsicher, wie groß die praktische Bedeutung dieser, sagen wir mal, „Unstimmigkeit“ ist. Zweitens fiel das Problem offenbar niemandem auf außer mir.
Genau das war mein Problem mit dem Problem. Es ist nämlich so offensichtlich, dass es mir nicht in den Kopf wollte und will, warum es keiner sieht. Meine Überlegung ist weder besonders originell noch gar preisverdächtig. Im Gegenteil, sie drängt sich auf, liegt quasi auf der Hand. Um den Fehler zu erkennen, muss man nicht die hellste Leuchte sein, auch kein Experte in Sachen Seuche.
Nun gibt es diese seltenen Fälle, in denen jemand einen Gedanken formuliert, worauf die anderen rufen: Holla, die Waldfee, stimmt! Ist doch klar! Hätte ich auch drauf kommen können! Das Wesen dieser Ausnahmen ist leider, dass sie die Ausnahme sind. Langer Rede Sinn: Mittlerweile bin ich ziemlich sicher, dass nicht ich der Geisterfahrer bin, sondern die Hundertschaft, die mir entgegenkommt. Daher also dieser Beitrag.
Logisch, nicht ideologisch
Eine weitere Vorbemerkung: Es geht hier um ein logisches Problem, kein ideologisches. Was ich Ihnen darlege, bewegt sich vollständig innerhalb der Matrix unbestrittener, allgemein bekannter und anerkannter Umstände. Daher ist es vollkommen egal, ob Sie sich eher Team Streeck, Team Drosten oder gar Team Lauterbach zugehörig fühlen. Selbst wenn Sie Fan von Team Attila sind und Covid-19 nur für einen Schnupfen halten, dürfen Sie weiterlesen.
Nachdem ich dieses Stück nun über die Maßen angeteasert habe, ein Dämpfer zur Klarstellung: Ich behaupte nicht, dass mit den folgenden Ausführungen alles auf den Kopf gestellt wird, was man zum Thema Corona weiß oder zu wissen glaubt. Allerdings, einiges ändert sich doch.
So manche Alarm-Argumentation erweist sich als heiße Luft. Unzählige Statements von Politikern und Experten erscheinen im Nachgang sinnfrei. Vor allem: Der politisch bedeutendsten Kennzahl ist die Grundlage entzogen. Diese Kennzahl diente nicht nur als Hauptargument für den jetzigen Lockdown. Sie ist zugleich erklärtermaßen der einzige handfest bezifferte Maßstab, den die Entscheider anlegen wollen, um entweder die aktuellen Einschränkungen weiter zu verschärfen oder sie zu lockern.
Quizfrage: Wo liegt der Fehler?
Wenn diese besagte Kennzahl wegen Untauglichkeit entfällt, ergeben sich eine Menge Fragen. War der November-Lockdown in seiner konkreten Ausgestaltung überhaupt gerechtfertigt? Genügen die restlichen, von der Politik nur allgemein formulierten und nicht näher spezifizierten Ziele, um die angeordneten Maßnahmen aufrechtzuerhalten?
Hätte die Politik unter Berücksichtigung valider Aspekte zu einem anderen Vorgehen, einer anderen Strategie finden können oder sogar müssen? Last but not least: Wenn die offizielle Messlatte für die Aufhebung der aktuellen Einschränkungen obsolet ist – nach welchen Kriterien ist nun zu entscheiden?
Genug der Vorrede. Bevor wir uns über Konsequenzen Gedanken machen, gibt es noch etwas Arbeit. Legen wir also los, und zwar am praktischen Beispiel. Während Sie die folgenden Statements lesen, haben Sie die letzte Chance, sich am großen Finde-den-Fehler-Quiz zu beteiligen: Was ist der fundamentale Irrtum, der all diesen Aussagen innewohnt? Und welches eine Wort bringt die Sprechblasen zum Platzen?
Modellierer und Experten
Stellvertretend für Myriaden vergleichbarer Aussagen sei zunächst Dr. Viola Priesemann zitiert. Frau Priesemann ist Leiterin einer Max-Planck-Forschungsgruppe an der Uni Göttingen und beschäftigt sich unter anderem mit Computer-Modellen, die die Corona-Ausbreitung vorhersagen sollen. Ihr Job ist also ähnlich wie der von Prof. Michael Meyer-Hermann in Braunschweig. Sie erinnern sich? Das war der Lockdown-Radikalinski, den die Kanzlerin Mitte Oktober zum Corona-Kränzchen geladen hatte, um die Ministerpräsidenten zu manipulieren.
Das soll natürlich nicht unser Urteil über Frau Dr. Priesemann beeinflussen. Wir wollen nicht ausschließen, dass es auch Seuchen-Modellierer gibt, die zu irgendwas gut sind. So oder so, jedenfalls war Viola P. einen Tag vor Lockdown-Beginn zu Gast bei „Anne Will“.
Neben Priesemann saß ein richtiger Seuchenexperte, nämlich Stefan Willich, Professor für Epidemiologie an der Berliner Charité. Willich plädierte kurz vor Schluss der Sendung dafür, „auf die intensivmedizinische Kapazität zu schauen“, statt sich undifferenziert auf „die Zahl der Neuinfektionen“ zu konzentrieren.
„Ganz massiv widersprechen“
Priesemann unterbrach Willich erregt (hier ab Min. 56:26): „Da möchte ich einmal massiv widersprechen, wirklich ganz massiv widersprechen. Wir können entweder auf die Krankenhäuser gucken und die Intensivkapazität. Oder wir schauen drauf, ob die Ausbreitung unter Kontrolle ist oder nicht unter Kontrolle ist. Und das ist die Einigkeit von Leopoldina, von Max-Planck-Gesellschaft, Leibniz-Gesellschaft und so weiter, das ist nicht [nur] meine Meinung.“
„In dem Moment, wo wir die Kontakte nachverfolgen, gibt es fast niemanden, der nicht weiß, dass er Träger ist. In dem Moment, wo wir die Kontakte gut unter Kontrolle haben, wie das im Juli, August und am Anfang des Septembers der Fall war […] Aber, das würde ich echt gern für … dass das verstanden wird: Wenn wir diesen Punkt überschreiten, das ist ein Kipp-Punkt! In dem Moment, wo wir die Kontrolle verlieren, dann wird der Anstieg dieser Fallzahlen selbstverstärkend! […]“
So und ähnlich äußern sich landauf, landab Entscheider und Experten. In derselben Talkshow zum Beispiel auch der zugeschaltete bayerische Ministerpräsident Söder (Min. 24:38): „Ab einer bestimmten Infektionszahl ist die Rückverfolgung so kaum mehr leistbar, deswegen müssen wir ja wieder auf ein Level kommen, in dem diese Rückverfolgung dann eben gut funktioniert.“
Verfolgung ist gut, Kontrolle ist alles
Oder Kanzleramtsminister Helge Braun, ebenfalls bei „Anne Will“ (ab Min. 51:06): „Wenn wir in Deutschland jeden Tag 5.000 Fälle haben, dann können wir die Kontaktnachverfolgung über die Gesundheitsämter noch schaffen, und dann können wir auf Beschränkungen ansonsten weitestgehend verzichten.“
Fassen wir zusammen. Das alles bestimmende Wort ist „Kontrolle“. „Kontrolle“ über die Entwicklung des Infektionsgeschehens besteht, solange die Gesundheitsämter alle (oder fast alle) Infektionsketten nachvollziehen und unterbrechen können. Dies erreichen sie per Ermittlung, Unterrichtung und Isolierung der potenziellen Virenverbreiter.
In dem Moment, in dem die Ämter nicht mehr umfassend nachverfolgen können, gerät die Situation „außer Kontrolle“. Das Virus verbreitet sich „unkontrolliert“, die Folge ist exponentieller Anstieg der Infektionen. Um nach „Kontrollverlust“ wieder in eine „kontrollierte“ Lage zu kommen, sind mannigfaltige Einschränkungen des täglichen Lebens zu verordnen – und zwar so lange, bis die Fallzahlen wieder in einem „kontrollierbaren“ Bereich sind.
Und? Haben Sie’s erraten?
So lautet also die herrschende Meinung – wobei die Superspreader dieses Narrativs davon ausgehen, dass es sich keineswegs um eine Meinung handelt, sondern um einen quasi naturgesetzlichen Umstand. Das ist natürlich Quatsch.
Und? Haben Sie erraten, welcher Trugschluss all diesen und vergleichbaren Äußerungen zugrundeliegt? Ich spare mir an dieser Stelle tiefergehende Überlegungen zu den Abgründen der Volksseele. Ob die Sehnsucht nach Kontrolle „typisch deutsch“ ist, sei dahingestellt. Ob es einen Zusammenhang zwischen Kontrollsucht, Waschzwang und Fesselungsphantasien gibt, kann ebenfalls offenbleiben. Das Psychologisieren sollen Berufenere als ich übernehmen. Konzentrieren wir uns auf die Fakten. Und zwar auf die echten.
Die Fakten besagen – und das ist der erste Teil der Auflösung in unserem kleinen Ratespiel –, die vielbeschworene „Kontrolle“ des Infektionsgeschehens bestand zu keinem Zeitpunkt. Wenn im Sommer das Infektionsgeschehen auf niedrigem Niveau stabil war, ist dies jedenfalls nicht einer angeblich umfassenden Nachverfolgung durch die Gesundheitsämter zuzuschreiben.
Die Auflösung ist banal
Warum, fragen Sie? Ganz einfach. Eine vollständige (oder annähernd vollständige) Kontaktnachverfolgung fand niemals statt. Was den Gesundheitsämtern an Positiv-Testungen mitgeteilt wurde, war immer nur ein kleiner Teil der tatsächlichen Infektionen. Das weiß jeder – oder sollte jeder wissen, der sich auch nur ein bisschen mit Corona beschäftigt hat.
Damit sind wir beim zweiten Teil der Lösung unserer Quizfrage. Ein einziges Wort lässt die heiße Luft aus den oben zitierten (und zahllosen weiteren) Äußerungen. Dieses Zauberwort ist – Tusch! – „Dunkelziffer“. Sagen Sie jetzt bloß nicht, Sie seien enttäuscht. Enttäuschung findet legitimerweise dort statt, wo übertriebene Erwartungen geweckt wurden. Ich habe von Anfang an betont, dass nichts Spektakuläres zu erwarten ist, sondern Banales.
Die Corona-Dunkelziffer, also die Zahl unerkannter Sars-CoV-2-Infektionen, ist hoch. Das ist unstrittig und einfach zu erklären. Nehmen wir zum Beispiel Ebola. Wer sich mit hämorrhagischem Fieber infiziert, hat vergleichsweise schlechte Karten. Ebola produziert im Normalfall heftige Symptome und ist ziemlich tödlich. Deshalb gibt es – jedenfalls in zivilisierten Ländern – bei einem Ebola-Ausbruch keine nennenswerte Dunkelziffer.
Epidemie light
Corona hingegen ist eine Epidemie light. Covid-19 hat eine relativ geringe Sterblichkeitsrate, die irgendwo zwischen unter 0,2 und einem Prozent der Infizierten liegt. Außerdem verlaufen die Infektionen laut RKI in rund 80 Prozent der Fälle mit nur leichten Symptomen oder völlig asymptomatisch. Wer nichts oder kaum etwas von seiner Infektion spürt, geht auch nicht zum Arzt. Daher ist das Dunkelfeld unerkannter Infektionen hoch, solange nicht die gesamte Bevölkerung regelmäßig durchgetestet wird.
Wie hoch genau, weiß man nicht. Diverse Studien legen einen Wert zwischen ungefähr Faktor 4 und Faktor 20 nahe, um den das tatsächliche Infektionsgeschehen höher ist als das bekannte. Ich habe mir vor einiger Zeit den Spaß gemacht, die mögliche Dunkelziffer anhand der Zahlen des Seuchen-Gurus John Ioannidis auszurechnen. Wenn man für Deutschland eine Infektionssterblichkeit von 0,2 Prozent ansetzt, landet man unter Berücksichtigung der Corona zugeordneten Todesfälle etwa bei einem Faktor 15.
Aber wir müssen uns hier gar nicht darüber streiten, wie hoch die Dunkelziffer wirklich ist. Einig sind sich alle darin, dass es sie gibt und dass sie erheblich ist. Das genügt, um alle Aussagen über „Kontrolle durch vollständige Nachverfolgung“ im Zusammenhang mit Corona als Bullshit zu entlarven. Genau wie die Behauptung vom „Kontrollverlust“. Wer etwas nicht unter Kontrolle hat, kann sie auch nicht verlieren.
„Kontaktverfolgung ist praktisch nicht vorhanden“
Erinnern wir uns an die Aussage von Merkel-Adlatus Helge Braun: „Wenn wir in Deutschland jeden Tag 5.000 Fälle haben, dann können wir die Kontaktnachverfolgung über die Gesundheitsämter noch schaffen, und dann können wir auf Beschränkungen ansonsten weitestgehend verzichten.“
Selbst wenn wir nur den eher niedrigen Dunkelziffer-Faktor 4 ansetzen, bedeutet das, dass statt der von Braun genannten 5.000 ans RKI gemeldeten Infizierten real 20.000 neue Virenträger an einem Tag durch Deutschland laufen. Die Nachverfolgung kann also in diesem Beispiel maximal 25 Prozent des Infektionsgeschehens erfassen. Bei einem Faktor 10 wären es sogar 50.000 potenzielle Virenschleudern, von denen nur jede Zehnte einen Anruf vom Gesundheitsamt bekommen könnte.
Apropos „könnte“: Es gibt diverse Berichte, wonach die Ämter eine zügige und vollständige Nachverfolgung selbst bei niedrigen Fallzahlen nicht hinkriegen. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer offenbarte vor ein paar Tagen bei „Markus Lanz“ (hier ab Min. 27:30): „Kontaktverfolgung – sag ich Ihnen jetzt aus der Praxis – ist in Deutschland praktisch nicht vorhanden. Wenn wir Kontakte ermitteln, ist die Infektion in der Regel schon weitergegeben.“ Ein weiterer Hinweis darauf, dass „Kontrolle durch Nachverfolgung“ bei Corona hierzulande eine Mär ist.
Was folgt daraus?
Fassen wir zusammen: Es gibt ein großes Dunkelfeld von nicht erkannten Sars-CoV-2-Infektionen. Alle Behauptungen, bei einer bestimmten Zahl gemeldeter Fälle könne man vollständige (oder nahezu vollständige) Nachverfolgung des realen Infektionsgeschehens erreichen, entsprechen daher nicht der Wahrheit. Die umfassende Nachverfolgung ist eine Illusion – egal, wie niedrig die Fallzahl ist, die das Robert-Koch-Institut erfasst.
Na und? Die Erkenntnis, dass Politiker und sogenannte Experten eine Menge dummes Zeug reden, wenn der Tag lang ist, ist nicht neu. Was also folgt daraus für die Praxis, werden Sie sich und mich fragen. Hier die Antworten.
Zunächst einmal ist die derzeit für die politische Entscheidungsfindung bedeutendste Kennzahl kaputt, die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz. Dieser Richtwert wurde bereits im Mai eingeführt. Überschreitet die Anzahl der „Neuinfektionen“ (genauer: der gemeldeten Positiv-Testungen) pro 100.000 Einwohner auf lokaler Ebene innerhalb von sieben Tagen bestimmte Obergrenzen, sollen verschärfte Maßnahmen zur Eindämmung quasi automatisch in Kraft treten.
Sieben-Tage-Inzidenz: Willkürlich
Auf welche Einschränkungen sich Bund und Länder Mitte Oktober bei Überschreitung der Richtwerte verständigten, können Sie hier nachlesen. Die konkreten Obergrenzen der Sieben-Tage-Inzidenz liegen bei 35 und 50 „Neuinfektionen“ pro 100.000 Einwohner pro Woche. Sowohl die 35 als auch die 50 sind nicht unmittelbar epidemiologisch begründet. Sie wurden allein aufgrund der Kapazitäten der Gesundheitsämter festgelegt.
Die Festsetzung der Richtwerte beruhte also einzig auf der Annahme, dass bei diesen Zahlen noch eine „vollständige“ Aufklärung durch die Ämter möglich ist. Diese Annahme unterlag einem fundamentalen Irrtum, wie wir nun wissen. Egal, ob 35 oder 50 gemeldete Corona-Positive pro Woche – wegen der nicht berücksichtigten Dunkelziffer kann in keinem Fall das postulierte Ziel erreicht werden.
Da die Prämisse falsch war, ist den unter eben jener Prämisse ermittelten Grenzwerten die Grundlage entzogen. Ohne faktische Grundlage sind die Grenzwerte objektiv willkürlich. Das ist kein kleines Problemchen. Wer hierzulande in großem Umfang Grundrechte einschränkt, braucht verdammt gute Gründe dafür. Und Willkür ist das exakte Gegenteil von einem guten Grund.
Luftnummer Nachverfolgbarkeit
Die praktische Folge ist, dass Rechtsanwälte in ganz Deutschland ab sofort „Rotkäppchen extra trocken“ palettenweise ordern können. Jede obrigkeitliche Verfügung, die sich ausschließlich oder ganz überwiegend auf die Sieben-Tage-Inzidenz oder allgemeiner auf die Luftnummer „Nachverfolgbarkeit von Infektionsketten“ stützt, sollte mit guten Erfolgsaussichten anfechtbar sein.
Wer nicht glaubt, welch überragende Rolle die Sieben-Tage-Inzidenz bei den politischen Entscheidungen spielt, möge sich den Auftritt der Kanzlerin vor der Bundespressekonferenz zu Gemüte führen. Am Tag, als der jetzige „milde Lockdown“ in Kraft trat, begründete Angela Merkel die beschlossenen Einschränkungen noch einmal ausführlich. Aus der Mitschrift:
„Deshalb müssen wir wieder in eine Situation kommen, in der die Gesundheitsämter Kontakte nachverfolgen können; sonst nimmt das exponentielle Wachstum immer weiter zu. […] Wir müssen wieder in eine Region von 50 Infektionen in sieben Tagen pro 100 000 Einwohnern kommen; denn bis zu dieser Zahl können die Gesundheitsämter das einigermaßen nachvollziehen. Das Ziel der Maßnahmen der nächsten vier Wochen ist also, wieder in diese Region zu kommen.“
„Entscheidend ist die Sieben-Tage-Inzidenz“
Frage: „Zu dem Treffen mit den Ministerpräsidenten in zwei Wochen: Nach welchen Kriterien soll dann entschieden werden? Welche epidemiologischen Kennzahlen sind entscheidend?“
BK’in Merkel: „Entscheidend ist die Sieben-Tage-Inzidenz. […] Wir müssen wieder in den Bereich von unter 50 kommen, weil wir dann sagen können, dass die Gesundheitsämter die Kontaktnachverfolgung hinbekommen. […] Das Ziel ist, wieder in den Bereich der Kontaktnachverfolgung durch die Gesundheitsämter zu kommen.“
Bereits am Tag zuvor hatte auch Kanzleramtsminister Braun in der „Will“-Sendung unmissverständlich klargestellt, dass es nur eine Zahl gibt, an der sich die Regierung orientiert, wenn es um Verschärfung, Lockerung oder Aufhebung von Maßnahmen geht.
Frage der ehemaligen FDP-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger: „Was ist denn die Marschroute, welche Zahl ist es denn, wo man sagen kann, jetzt kann man wieder lockern?“ Antwort Braun: „Unter 50 müssen wir, unter die Inzidenz von 50. Das ist die ganze Zeit unser Maßstab, bundesweit. Da müssen wir hin, dann ist die Kontaktnachverfolgung sicher möglich.“
Allgemein formulierte Absicht genügt nicht
Wir fassen zusammen: Derzeit gibt es nur ein einziges konkret beziffertes Kriterium, an dem sich die Verantwortlichen bei ihren Corona-Entscheidungen orientieren. Diese Kennzahl, die Obergrenze von „50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner pro Woche“, taugt jedoch nicht als Maßstab, weil sie auf einer irrigen Annahme beruht.
Damit wir uns nicht missverstehen: Daraus folgt nicht, dass die Exekutive ohne diese Kennzahl keinerlei Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens mehr verfügen könnte. Allerdings wird es deutlich schwieriger. Die Politik benötigt für Art, Umfang und Dauer von Einschränkungen eine neue Begründung – und zwar eine nachvollziehbare, tragfähige und hinreichend konkrete.
Ein allgemein formuliertes Bestreben à la „Wir wollen die Infektionen so weit wie möglich reduzieren“ genügt nicht – genauso wenig, wie die Regierung den Straßenverkehr verbieten kann, um „die Zahl der Verkehrstoten so weit wie möglich zu reduzieren“. Wer massivste Grundrechtseinschnitte rechtfertigen will, muss sich etwas Besseres einfallen lassen.
Höchst umstrittenes Gesetz
Die Zielsetzung, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, wäre ein tauglicher Ansatz. Dafür müssten die Veranwortlichen allerdings überzeugend darlegen, ab welcher Infektionsrate sich diese Gefahr tatsächlich realisiert. Möglicherweise stellt sich bei unvoreingenommener Prüfung heraus, dass wir statt mit 5.000 auch mit 20.000 oder 30.000 Positivfällen pro Tag umgehen können.
Vielleicht käme man gar zu der Einsicht, dass die starre Fixierung auf „Neuinfektionen“ ohnehin nicht der Königsweg ist, sondern ein Strategiewechsel hin zu differenzierten Schutzmaßnahmen angeraten ist, wie ihn etwa Boris Palmer oder Julian Nida-Rümelin vorschlagen.
Derartige Überlegungen weisen die Entscheider jedoch von sich. Lieber jagt man weiterhin der Schimäre von der „Kontrolle durch Nachverfolgung“ hinterher. Derzeit versucht die Regierung sogar, im Eiltempo eine Novelle des Infektionsschutzgesetzes durchzupeitschen – trotz massiver Kritik von Opposition, Verbänden und Juristen. In den Verhandlungen „sei auch über andere Kennziffern diskutiert worden, etwa die Belegung von Intensivbetten“, heißt es. „Insbesondere das Kanzleramt habe aber darauf gedrungen, am Kriterium der Neuinfektionen festzuhalten.“ Und so wird wohl die Sieben-Tage-Inzidenz von 35 beziehungsweise 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner gesetzlich verankert werden.
Das ist wirklich kompletter Nonsens, wie ich Ihnen hoffentlich überzeugend dargelegt habe. Und? Wer ist nun Geisterfahrer? Ich oder die regierenden Kontrollfreaks?
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