Ich, der Corona-Erklärbär
Zur Ermittlung des konkreten Bedarfs erlaubte ich mir eine weitere Nachfrage, nämlich, warum er denn die Corona-App nutzen wolle. Dies verstörte den Träger meines Familiennamens. Erst nach einer Pause kam die Antwort, mit einem gewissen pampig-widerständigen Unterton: „Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich habe keine Lust, mich zu infizieren.“
„Absolut! Geht mir sowas von genauso“, stimmte ich eilig zu. Zur Sicherheit schob ich nach, dass ich mich einigermaßen religiös an die von der gutmeinenden und allwissenden Obrigkeit verfügten Verfügungen halte, zum Beispiel was Masken und Abstände angeht. Das entsprach sogar der Wahrheit, jedenfalls halbwegs und im Prinzip. Man muss ja heutzutage aufpassen wie ein Luchs, dass man nicht wegen einer unbedachten Äußerung umgehend in der sozialen Abstellkammer landet.
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Anschließend – ich sag es Ihnen im Sinne der Nutzerfreundlichkeit lieber gleich – entfaltete sich ein längeres Gespräch über das Virus und sein Drumherum. Es ging um objektive und gefühlte Gefahr, die Angemessenheit der Gegenmaßnahmen, die Rolle der Medien und natürlich den Nutzen der Corona-Warn-App. Ich gebe das Gespräch gekürzt wieder. Falls Sie jedoch – wie ich – beim Wort „Corona“ Spontanherpes bekommen, sich aufs Wesentliche konzentrieren wollen und überhaupt nur wegen der Überschrift hier sind, dann scrollen Sie jetzt besser einen halben Meter nach unten bis zur Zwischenzeile „Funktionieren ist relativ“.
Zurück zum Telefonat. Trotz meines Bekenntnisses zur Unterwerfung unter staatliche Vorgaben war mein Gesprächspartner nicht restlos überzeugt und klopfte ab, ob ich nicht doch ein verstecktes „Q“-Tattoo am Körper trage. Wie ich denn „so generell“ zu Corona stünde, erkundigte er sich. Ein Fehler. Ich bemühe mich seit geraumer Zeit, nicht zu missionieren, ob bei Klima, Europa, Migration oder anderen sensiblen Themen. Bringt selten etwas und macht einen nicht unbedingt sympathischer. Aber so eine Einladung lasse ich mir natürlich nicht entgehen.
„Was soll ich sagen?“, sagte ich. „Corona nervt. Ich kann es nicht mehr hören. Noch mehr geht mir inzwischen das ständige Hin und Her auf die Keimdrüsen. Erst bin ich als Raucher Risikogruppe, im nächsten Moment soll mich Nikotinkonsum schützen. Kaum freue ich mich wegen meiner Blutgruppe 0 auf leichten Covid-19-Verlauf, heißt es bätschi, war nur Spaß. Mal gelten Kinder als mörderische Virusschleudern, dann sind sie auf einmal harmlos. Von den Übertragungswegen will ich gar nicht erst anfangen. Die angeblich hypergefährlichen Aerosole sind’s nach aktuellem Wissensstand wohl doch nicht. Oder halt doch wieder.“
Erkenntnis ist King
„So ist das nun mal in der Wissenschaft. Neue Erkenntnisse erzeugen neue Meldungen“, belehrte mich mein Familienmitglied in knappem Ton. Musst du mir nicht erzählen, Blitzbirne – dachte ich, sprach ich aber nicht aus. Ich bin von skeptischer Natur, gleichermaßen ideologiefern wie wissenschaftsnah. Ich befürworte Intensivnutzung von Eigengrütze und glaube nicht jeden Sums, der gerade erzählt wird, nur weil er gerade erzählt wird. Da bin ich ganz bei Dieter Nuhr. Auch das erwähnte ich natürlich nicht, denn selbst Spötter mit Substanz à la Nuhr werden heute in eine Schublade gesteckt mit nachhaltig verwirrten Seelen wie Attila Hildmannn und Xavier Naidoo.
„Ich habe nichts gegen neue Erkenntnisse. Im Gegenteil. Erkenntnis ist King“, entgegnete ich. „Was mich stört, ist Sensationsgeschrei und Panikmache. Man muss nicht jede halbgare ,Studie‘ mit Untersuchten im Dutzendbereich alarmistisch aufblasen. Wenn ich lese, ich solle von Joggern oder Radfahrern bis zu 20 Meter Abstand halten, um mich keiner Infektionsgefahr auszusetzen, weiß ich nicht mehr, ob ich lachen oder weinen soll.“
„Und wer mir immer noch erzählen will, maskenlose Demos oder Partys unter freiem Himmel seien automatisch ,Superspreader-Events‘, der leidet offenkundig unter denselben zerebralen Durchblutungsstörungen wie Karl Lauterbach, der Lord of Doom der SPD. Zig Großveranstaltungen der letzten Monate haben längst das Gegenteil bewiesen. Mein Fazit: Die Corona-Berichterstattung in den großen Medien ist einfach unterirdisch.“
Irreführung oder Inkompetenz?
Das war zu viel für meinen Verwandten. Er begehrte auf: „Sorry, aber das ist mir zu pauschal. Was kommt als nächstes? Lügenpresse?“ „Nö“, gab ich betont beiläufig zurück, „ob es sich um bewusste Irreführung oder banale Inkompetenz handelt, überlasse ich deinem Urteil. Schau dir doch nur mal den Umgang mit Daten an. Seit Monaten stellt jedes große Medium absolute Zahlen zu den täglichen Neuerkrankungen in Text und Schaubild groß heraus.“
„Ja und? Was ist das Problem? Ist doch gut, wenn die Medien Fakten liefern. Das ist ihre Aufgabe – oder siehst du das anders?“, testete mich mein Telefonpartner erneut. Ich befand mich auf Direktkurs ins Lager der Covidioten und Flacherde-Anhänger, das war klar. Aber ich war vorbereitet: „Das Problem ist, dass die Aussagekraft dieser Angaben nahe null liegt – außer wenn man sie ins Verhältnis setzt, und zwar zur Gesamtmenge der Testungen. Das passiert leider fast nie. Selbstverständlich sollen Medien über Fakten informieren. Nur, mindestens genauso wichtig ist die Einordnung.“
Am anderen Ende der Leitung holte jemand tief Luft. Zwecks Deeskalation steuerte ich das Gespräch ins Anschauliche: „Ich versuch’s mal mit einem Vergleich. Nehmen wir an, du kaufst dir eine 100-Gramm-Tüte mit 100 Gummibärchen – und bitte, nagel mich jetzt nicht auf die realen Verhältnisse fest, es geht hier nur ums Beispiel. Also. In der von dir erworbenen Vermarktungseinheit findest du zehn rote Bären. Nach Adam Riese enthält die Tüte folglich zehn Prozent Fruchtgummi mit Spurenelementen von Kirschgeschmack.“
„Dramatischer Anstieg“ oder „extremer Rückgang“?
„In der Folgewoche kaufst du eine 1.000-Gramm-Packung mit 1.000 Bärchen. In diesem Kilosack zählst du 20 rote Exemplare, also zweimal so viele wie in der Vorwoche. Wie berichtest du nun der Welt von deinen Erkenntnissen?“, fragte ich und schob sogleich die Optionen nach. „Variante 1: ,Dramatischer Anstieg bei Rotbären‘ oder ,Rotbären-Verdoppelung innerhalb einer Woche‘. – Variante 2: ,Rotbären-Anteil sinkt extrem‘ oder ,Anteil der Rotbären geht um 80 Prozent zurück‘.“
„Mal ehrlich“, fuhr ich fort, „selbst wer nur Kriechstrom in der Bimmel hat, wählt Variante 2, wenn er Wert auf Wahrheitsvermittlung legt. Stimmt’s? Schließlich reduzierte sich der Anteil der roten Gelatineklümpchen von zehn auf zwei Prozent. Was macht dagegen unsere Regierung in Gestalt der RKI-Behörde? Sie kommuniziert nach Muster 1. Und alle großen Medien übernehmen diesen Dummfug kritik- und kommentarlos. Ich kann dir gerne zig weitere Beispiele für mediale Minderperformance aufzählen, aber bereits dieses Versagen genügt mir für mein Pauschalurteil: Ja, ,die‘ Medien berichten über Corona unseriös. Vulgo unterirdisch.“
„Okay, verstehe, was du meinst“, knickte mein Verwandter ein. Geschlagen gab er sich nicht: „Bestimmt gibt es Gründe dafür. Zum Beispiel, weil die Gesamtzahl der Tests nicht vorliegt. Oder weil die Testmenge egal ist, weil sie sich kaum ändert.“
Die unbekannte „Positivenrate“
„Guter Gedanke!“, lobte ich zur atmosphärischen Aufhellung. „Ist aber nicht so. Die Gesamtzahl der Testungen ist sehr wohl bekannt und lässt sich mit etwas Wühlerei auf der RKI-Website finden. Das Robert-Koch-Institut errechnet sogar die sogenannte ,Positivenrate‘, also den prozentualen Anteil positiver Ergebnisse an der Gesamtmenge der Corona-Tests. Kurz: Das RKI macht genau das, was ich eben bei den Gummibärchen praktiziert habe.“
Weil’s gut lief, räumte ich gleich noch den zweiten Einwand ab: „Wenn du dir die RKI-Tabelle anschaust, wirst du feststellen, dass die Menge der Testungen keineswegs gleichbleibt. In Kalenderwoche 24 zum Beispiel gab es laut RKI 326.645 Corona-Tests. Sechs Wochen später, in KW 30, waren es dann 563.553. Fast eine Viertelmillion mehr.“
„In diesen anderthalb Monaten ab Mitte Juni wuchs die Zahl der positiven Testergebnisse von 2.816 auf 4.364 – eine scheinbar heftige Steigerung um 55 Prozent. Gleichzeitig erhöhte sich die Gesamtzahl der Testungen aber um 72 Prozent. Die ,Positivenrate‘ stieg daher nicht an, sondern sie sank, von 0,9 auf 0,8 Prozent. Ganz ähnlich wie bei unserem Bärchenbeispiel. Die Corona-Entwicklung zwischen Mitte Juni und Anfang August war daher keineswegs besorgniserregend, sondern im Gegenteil beruhigend. Und das musst du nicht etwa mir glauben, sondern dem RKI. Steht so in der Tabelle.“
Dasselbe Spiel bei den Todeszahlen
„Interessant“, bekundete mein Familienmitglied tonlos-indifferent. „Von dieser Positivenrate hab ich noch nie gehört, ehrlich gesagt.“ Q.e.d., dachte ich, verkniff mir aber die Bemerkung und schwieg. Mein Verwandter schwieg ebenfalls. Kein schlechtes Zeichen. Also setzte ich nach: „Dasselbe Spiel findet an vielen Stellen statt, unter anderem bei den Corona-Todeszahlen im Ländervergleich. Solche Vergleiche sind wegen unterschiedlicher Zählweisen eh schwierig, aber lassen wir das mal außen vor.“
„Jedenfalls: Ständig hörst und liest du, die USA seien ,das Land mit den meisten Corona-Toten‘ oder ,das am stärksten betroffene Land‘. Klar, diese Aussagen fügen sich geschmeidig ins gewohnte USA-Bashing. Aber sie sind ungefähr so gehaltvoll wie die Feststellung, dass in einem großen Sack Gummibären mehr rote Teddys stecken als in einem kleinen.“
„Wenn man nicht Äpfel mit Birnen vergleicht, sieht die Sache anders aus. In Relation zur Einwohnerzahl ist nämlich unser Nachbar Belgien bisher das ,am stärksten betroffene Land‘. Und zwar mit deutlichem Abstand. Mit rund 500 Corona-Toten pro eine Million Einwohner stehen die Amerikaner weit besser da als die Belgier, auf ähnlichem Niveau wie die Franzosen. Vor den Amis liegen neben Belgien noch Spanien, Großbritannien, Italien und Schweden (Stand 13.8.). Wären die USA vergleichbar ,schwer betroffen‘ wie Belgien, müssten die Todeszahlen fast doppelt so hoch sein, als sie sind.“
Wie ich „so generell“ zu Corona stehe
An diesem Punkt spürte ich eine gewisse Ermattung am anderen Ende der Funkverbindung: „Ich will dich nicht langweilen, schon gar nicht mit Fakten. Du hast mich gefragt, wie ich ,so generell‘ zu Corona stehe. Die Antwort lautet: einerseits, andererseits. Ich halte Corona nicht für harmlos, aber bei weitem nicht für so gefährlich, wie es dargestellt wird. Und ich ärgere mich täglich aufs Neue über die Berichterstattung, die irgendwo zwischen bemüht, alarmistisch und manipulativ changiert.“
„Grundsätzlich meine ich, der Schutz vor Ansteckung sollte viel mehr in Richtung Eigenverantwortung gehen. Wo das nicht möglich ist, soll und muss der Staat eingreifen, Beispiel Pflegeheime. Ebenso sollte die Obrigkeit tätig werden, wenn die Gefahr besteht, dass das Gesundheitssystem an seine Belastungsgrenze gerät. Dies war der Maßstab zu Beginn der Infektionswelle, und der war richtig. Alle später aus dem Hut gezauberten Kennzahlen waren mehr oder weniger willkürlich und haben höchstwahrscheinlich mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht.“
„All das sage ich als Angehöriger der Risikogruppe. Klar, ich will leben, ich lege keinen gesteigerten Wert auf mögliche Langzeitschäden, und ich bin wie jeder andere fest von meiner überragenden persönlichen Bedeutung und Unersetzlichkeit überzeugt. Trotzdem halte ich es für unverhältnismäßig, wenn meinetwegen das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in großem Umfang heruntergefahren wird.“
Funktionieren ist relativ
Mein Blutsverwandter zeigte, dass er noch Puls hatte. Konkrete Positionierung vermied er, stattdessen lenkte er das Gespräch wieder zum Ausgangspunkt: „Wenn ich dich richtig verstehe, hältst du Schutz wegen deiner persönlichen Situation für sinnvoll. Dann hast du dir also die Corona-App runtergeladen?“
„Klaro“, bestätigte ich, um die schlechte Nachricht gleich hinterherzuschieben: „Weil mich interessierte, wie sie aussieht. Anschließend habe ich sie wieder gelöscht.“ Mein Verwandter schnappte den Köder: „Wieso das denn? Funktioniert die App nicht?“ Ich: „Sagen wir mal so: ,Funktionieren‘ ist relativ. Kommt auf den Standpunkt an.“
„Für die Regierung ,funktioniert‘ die App auf jeden Fall. Fast 16 Millionen Downloads in den ersten Wochen waren mehr als in anderen Ländern und wurden deshalb als Erfolg gefeiert. Als angeblich leuchtendes Beispiel hat es unsere App sogar bis ins britische Unterhaus geschafft. Außerdem scheint sie sogar einigermaßen so zu arbeiten wie gedacht – vom üblichen Schluckauf bei Software-Einführungen mal abgesehen. Einigen wir uns also gerne darauf, dass die App ,funktioniert‘, zumindest politisch und technisch.“
Die App gibt ein gutes Gefühl
„Mein Problem mit der App ist, dass sie trotzdem nutzlos ist. Erstens warnt sie mich nur in seltenen Ausnahmefällen, zweitens sind die wenigen Warnungen nicht einmal zuverlässig, und drittens alarmiert sie mich nicht in Echtzeit, sondern erst Tage später. Mit der Corona-App ist es wie mit Gott und Globuli. Man muss halt dran glauben, dann nützt sie auch was. Sie gibt ein gutes Gefühl. Sonst nichts.“
„Dass die App sofort warnt, behauptet doch niemand. Das geht ja schon wegen Datenschutz nicht“, wandte mein Verwandter ein. „Stimmt“, gab ich zurück. „Ich hab’s auch nur zur Sicherheit erwähnt, weil nicht wenige Leute meinen, ihr Smartphone verwandle sich mit der App in eine Art Corona-Geigerzähler, der anfängt zu rattern, sobald eine Virenschleuder in der Umgebung auftaucht. Das ist jedenfalls mein Eindruck aus diversen Gesprächen.“
„Okay, geschenkt“, sagte mein Verwandter. „Aber wieso meinst du, die App wäre nutzlos? Selbst wenn sie nicht alle Fälle erfasst, ist das doch besser als nichts. Jede Warnung ist erst mal ein Plus. Wenn ich weiß, dass ich möglicherweise infiziert bin, kann ich vorsichtig sein und darauf achten, dass ich meinerseits niemanden anstecke.“
Rechnen wir gemeinsam
„Richtig“, bejahte ich, „im Prinzip. Halten wir fürs Protokoll erst mal fest: Die App schützt dich nicht vor Ansteckung. Sie sagt dir nur mit Verzögerung, dass du dich irgendwann in den letzten zwei Wochen für mindestens 15 Minuten in unmittelbarer Nähe eines Infizierten aufgehalten hast. Den Gesundheitsämtern, nebenbei bemerkt, hilft die App gar nicht. Wer wie wo wann mit wem zusammen war, wird ihnen nicht gemeldet. Die beamteten Seuchenbekämpfer müssen also weiterhin mit ihren Wählscheibentelefonen aus den Siebzigern Kontakte ermitteln.“
„Entscheidend ist aber etwas anderes. Du hast einen technischen Beruf und bist gewohnt, mit Zahlen umzugehen. Also lass uns kurz gemeinsam rechnen. Derzeit werden in Deutschland täglich ungefähr 1.000 Corona-Positive ans RKI gemeldet. Deren ansteckende Phase hält etwa acht oder neun Tage an, sagt das RKI. Seien wir großzügig, nehmen wir die neun Tage. Das bedeutet, dass – Stand heute – in Deutschland um die 9.000 identifizierte Killerzombies herumlaufen. Morgen sind es ähnlich viele. Es kommen neue dazu, aber dafür fallen die von vor zehn Tagen weg. Die sind ja dann nicht mehr ansteckend.“
„Tatsächlich sind es aber viel mehr als diese 9.000 Virenmutterschiffe, mit denen du in diesem Moment kollidieren könntest, wenn du nicht gerade mit mir telefonieren würdest. Die 9.000 sind, wie gesagt, nur die erkannten, positiv getesteten Infizierer. Dazu kommt die Dunkelziffer. Das RKI spricht von einem Faktor zwischen 4,5 und 11, um den die Anzahl an Infizierten wohl größer ist als angegeben. Ein paar Absätze davor nennt das RKI Studien, die sogar von einem Faktor zwischen 11 und 20 ausgehen.“
Aktuell wohl 100.000 Virenschleudern
„Nehmen wir für unsere Rechnung einen mittigen Wert, nämlich den Faktor 11. Das entspricht in etwa dem, was auch der Virologe Hendrik Streeck in seiner Heinsberg-Studie ermittelt hat. Daraus ergibt sich, dass aktuell deutschlandweit nicht nur 9.000, sondern um die 100.000 aktive Virenschleudern unterwegs sind. Für eine Warnmeldung per Corona-App kommen aber, wie gesagt, nur neun Prozent dieser Gefährder infrage. Die übrigen 91 Prozent, die im Dunkel der Nichterfassung agieren, wissen ja nicht einmal selbst, dass sie infiziert sind.“
„Besser als nichts, könnte man meinen, hast du ja auch eben so formuliert. Die Rechnung geht allerdings weiter. Von 83 Millionen Einwohnern haben laut RKI bisher 16,9 Millionen die Corona-App heruntergeladen (Stand: 11.8.). Das sind 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. Von unseren 9.000 erkannten Virenschleudern kann also statistisch nur jeder Fünfte seine Infektion per App mitteilen. Damit sind wir bei nur noch 1.800 potenziellen Warnern.“
„Das ist immer noch nicht das Ende unserer Kalkulation. Wie viele Runterlader die Corona-App hierzulande tatsächlich nutzen, ist nicht bekannt. Du weißt ja, Datenschutz. Der schlägt in Deutschland bekanntlich alles, Pandemie hin oder her. Bis auf das Finanzamt natürlich, denn das ist mächtiger als Pest und Cholera zusammen.“
100 laden, 57 nutzen die App
„Schauen wir wegen der Nutzerzahlen deshalb in die Schweiz, die beim Datenschutz weniger hysterisch ist als wir. Bis Mitte Juli hatten 1,75 Millionen Eidgenossen die dortige Corona-App heruntergeladen. Aktiv genutzt wurde sie jedoch nur von einer Million. Heißt: Von 100 Leuten, die die App auf ihrem Telefon installieren, nutzen in der Schweiz nur 57 die App. Wenn wir dieses Verhältnis auf Deutschland übertragen, bleiben von unseren 1.800 möglichen Corona-Informanten nur noch 57 Prozent übrig, also ungefähr 1.000 App-User, die ihre Ansteckung mit dem Smartphone weitermelden könnten.“
„Ich fasse zusammen: Nach qualifizierter Schätzung laufen in diesem Moment möglicherweise um die 100.000 Corona-Ansteckende durch Deutschland. Nur 1.000 davon, also ein mageres Prozent, könnten nach positivem Test ihre Infektion per Corona-Warn-App melden. Heißt für mich konkret: Statistisch wird mir höchstens jede hundertste potenziell gefährliche Begegnung mit einem Virenverbreiter nachträglich gemeldet.“
„Vielleicht ist es aber auch nur jede zweihundertste oder noch weniger. Kein Mensch weiß, wie viele der positiv getesteten App-User ihre Infektion tatsächlich in die App eintragen. So oder so: Für mich ist das zu wenig. Wenn mir im Schnitt maximal einer von hundert potenziell ansteckenden Kontakten mitgeteilt wird, dann ist mir dafür jede Minute Akkulaufzeit, die ich durch die Hintergrundaktivität der App verliere, zu schade. Deshalb sage ich: Die App ist nutzlos.“
Besserung ist nicht zu erwarten
Mein Verwandter hatte aufmerksam zugehört: „Klingt erst mal nachvollziehbar, auch wenn ich deine Zahlen natürlich jetzt nicht prüfen kann. Nur, das ist doch eine Momentaufnahme. Je mehr Leute die App installieren, desto besser werden die Zahlen.“
„Theoretisch ja“, sagte ich, „ist aber sehr unwahrscheinlich. Der Hype um die Corona-App hielt nicht lange an. Vier Tage nach Erscheinen Mitte Juni war die 10-Millionen-Marke geknackt, nach zwei Wochen lagen die Downloads bei knapp 15 Millionen. Seitdem tut sich nicht mehr viel. Für weitere zwei Millionen brauchte es dann schon vier Wochen. Seitdem herrscht Stagnation. Ein dramatischer Anstieg ist kaum noch zu erwarten. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich die Nutzerzahlen noch verdoppeln sollten, gilt: Dann wäre es rechnerisch immer noch höchstens jede fünfzigste Begegnung mit einem Ansteckenden, die mir gemeldet wird.“
„Zweitens, zur Klarstellung: Meine Rechnung ist zwar meine Rechnung, aber sie beruht weder auf ,meinen‘ Zahlen noch auf denen von Attila Hildmann oder anderen freidrehenden Hohlkörpern. Ich habe ausschließlich offizielle, regierungsamtliche Angaben verwendet, nämlich die des Robert-Koch-Instituts. Ich schick dir nachher die Links.“
Reality Check: noch schlechter für die App
„Meine Überschlagsrechnung ist wahrscheinlich sogar noch viel zu wohlwollend. Kurzer Reality Check: Nach einem Monat App-Dasein waren 15,6 Millionen Downloads erreicht – und nur maximal 400 über die App gemeldete Infektionen. So schätzt das RKI auf Basis der ausgegebenen TAN-Codes, die man benötigt, um seine Infektion in die App einzutragen. Wie viele Infizierte die Codes tatsächlich nutzten, ist nicht bekannt.
„Für diese vier Wochen meldet das RKI insgesamt 15.000 positiv Getestete. Wenn wir – wie oben – Faktor 11 annehmen, um die Zahl der tatsächlich Infizierten zu erhalten, landen wir bei 165.000 neuen Virenschleudern von Mitte Juni bis Mitte Juli. 400 Meldungen gegenüber 165.000 Infektionen ergibt eine Quote von gerade mal 0,24 Prozent. Anders ausgedrückt: Im Schnitt wird mir nicht einmal jede vierhundertste potenziell ansteckende Begegnung mit einer Virenschleuder per App gemeldet.“
„Selbst wenn wir bei der Dunkelziffer vom niedrigsten Faktor ausgehen, nämlich 4,5, sieht es nicht viel besser aus. Dann wären es statt 165.000 nur 67.500 Infizierte gewesen. 400 Meldungen bei 67.500 Infizierten machen eine Quote von 0,59 Prozent. Umgerechnet: In diesem Fall könnte ich davon ausgehen, dass mir ungefähr jeder hundertsiebzigste gefährliche Kontakt per Handy gemeldet wird. Von den 169 anderen nicht minder riskanten Begegnungen erfahre ich nichts.“
Wer würde so eine Alarmanlage nutzen?
„Die Gegenprobe mit realen Meldezahlen zeigt, dass meine Überschlagsrechnung nicht übertrieben hat. Im Gegenteil, wie gesagt, sie war eher noch zu optimistisch. Ist mir aber sowieso egal: Ob mir die App im Nachgang jeden hundertsten oder nur jeden vierhundertsten Infizierten meldet, neben dem ich im Flugzeug oder im Restaurant saß, macht für mich keinen Unterschied. Beide Werte sind so grottenschlecht, dass ich auch gleich ganz auf die App verzichten kann.“
„Hinzu kommt noch etwas anderes, nämlich die hohe Wahrscheinlichkeit von Falschmeldungen. Die Entfernungsmessung per Bluetooth ist ungenau, und die App weiß nicht, ob ich im Restaurant oder vor dem Restaurant sitze. Ebensowenig merkt mein Handy, ob sich zwischen mir und der Virenschleuder eine Plexischeibe, eine Mauer oder gar nichts befindet.“
„Langer Rede Sinn: Wenn du mich fragst, warum ich die Corona-App nicht nutze, antworte ich mit einer Gegenfrage. Angenommen, dir bietet jemand eine Alarmanlage fürs Eigenheim an. Diese Anlage meldet dir – mit Verspätung – nur jeden hundertsten oder vierhundertsten Einbruchsversuch. Zwischendurch raubt sie dir mit Fehlalarmen den Schlaf. Würdest du so eine Gerätschaft annehmen? Nicht einmal geschenkt, oder?“
Ich war stolz auf meinen wertvollen Beitrag zur Volksaufklärung. Die Ausführungen hatten meinen Verwandten offenkundig überzeugt. Er bedankte sich ganz herzlich für meine Zeit, Mühe und die vielen interessanten Informationen. Zum Abschluss hatte er nur noch eine letzte, kurze Frage: „Noch mal wegen der App: Welches iPhone soll ich mir denn jetzt kaufen?“
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