Was lässt die Temperaturen in Europa zappeln? Die Entschlüsselung der natürlichen Klimavariabilität
Das Klima in Europa hat sich in den letzten 150 Jahren um anderthalb Grad erwärmt, daran herrscht kein Zweifel. Allerdings verlief dieser Temperaturanstieg nicht geradlinig, sondern ist durch ein hohes Maß an natürlicher Klimavariabilität geprägt, wobei einige Jahre und Jahrzehnte ungewöhnlich warm oder kalt ausfielen. Es ist seit längerem bekannt, dass atlantische Klimazyklen das Klima in Europa maßgeblich beeinflussen. So werden die Sommertemperaturen vom 60-jährigen Zyklus der Atlantischen Multidekaden Oszillation (AMO) gesteuert. Die Wintertemperaturen sind hingegen eng an die Nordatlantische Oszillation (NAO) gekoppelt, die etwas unregelmäßiger pulsiert. Je besser wir diese Zusammenhänge verstehen, umso exakter kann die zukünftige Temperaturentwicklung Europas in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vorhergesagt werden. Entsprechende Mittelfristprognosen besitzen eine große wirtschaftliche Bedeutung, zum Beispiel für die Landwirtschaft und den Tourismus.
Eine vierköpfige Forschergruppe um Horst-Joachim Lüdecke hat sich nun auf die Suche begeben und die historischen Temperaturdaten von 39 europäischen Ländern nach Mustern natürlicher Einflussfaktoren durchforstet. Lüdecke erläutert die Vorgehensweise:
„Mit Hilfe eines mathematischen Korrelationsverfahrens haben wir die monatlichen Temperaturdaten der letzten 115 Jahre auf Übereinstimmungen mit der AMO, NAO und Schwankungen der Sonnenaktivität hin überprüft. Dabei konnten wir den Einfluss der atlantischen Zyklen auf die europäischen Temperaturen im Jahresverlauf erstmals zeitlich und räumlich genau auskartieren.“
Die Ergebnisse der Untersuchung erschienen jetzt im Journal of Atmospheric and Solar–Terrestrial Physics (Elsevier). Der Einfluss der AMO auf die europäischen Temperaturen beginnt typischerweise im Frühlingsmonat April und konzentriert sich zunächst vor allem auf den westlichen Teil Europas. Nach einer Pause im Mai erweitert sich der Bereich der AMO-Steuerung auf das gesamte südliche Europa. Im Juli und August sind AMO-Effekte vor allem in der Temperaturentwicklung im östlichen Europa zu verzeichnen. Auch in den Folgemonaten September bis November verschiebt sich die AMO-Einflusszone weiter über den Kontinent, erst westwärts, dann nordwärts. Zwischen Dezember und März spielt die AMO keine bedeutende Rolle für die Temperaturen in Europa.
Der winterliche Einfluss der NAO beginnt im Dezember und ist zunächst auf West- und Mitteleuropa konzentriert. Im Januar intensiviert sich der Einfluss und greift auf Skandinavien über. Der Höhepunkt des Phänomens wird im Februar erreicht, wenn die Temperaturen in fast ganz Europa durch die NAO kontrolliert werden, mit Ausnahme des Balkans. Im März und April schwächt der Zusammenhang langsam ab und setzt zwischen Mai und November vollständig aus.
Ganz besonders haben sich Lüdecke und seine Kollegen für den in der Fachwelt kontrovers diskutierten Einfluss von Aktivitätsschwankungen der Sonne auf die europäische Temperaturentwicklung interessiert. Richard Cina, der ebenfalls an der Studie beteiligt war, skizziert die Ausgangslage:
„Als ich die Literatur durchkämmte war ich überrascht, dass zahlreiche Studien einen maßgeblichen Einfluss solarer Schwankungen auf die historische Temperaturentwicklung in Europa beschrieben. Das überraschte mich, denn bislang können die in den aktuellen Klimamodellen berücksichtigten physikalischen Prozesse dieses Phänomen nicht abbilden. Irgend etwas scheint in unserem Verständnis noch zu fehlen.“
Gibt es Ähnlichkeiten zwischen dem 11-jährigen Sonnenfleckenzyklus – der ein gängiges Maß für die schwankende Sonnenaktivität darstellt – und den Temperaturen in Europa? In den meisten Monaten des Jahres war dies nicht der Fall. Allerdings fand das Forscherquartett vier Monate, in denen die Sonne die Temperaturen zumindest regional maßgeblich mitgesteuert hat. So folgten zum Beispiel die Februar-Temperaturen in Portugal und die September-Temperaturen in Großbritannien über jeweils ein halbes Jahrhundert ziemlich genau dem Sonnenfleckenzyklus. Sebastian Lüning, Co-Autor der Studie, erläutert:
„Streckenweise finden wir einen faszinierenden Gleichlauf zwischen Sonne und Klima. Allerdings ist dieser direkte und einfach zu erkennende Einfluss auf wenige Monate im Jahr, auf wenige Regionen Europas und auf bis zu fünf aufeinanderfolgende Jahrzehnte beschränkt. Wir sehen sozusagen nur die Spitze des Eisberges.“
Der Hauptantrieb der europäischen Temperaturen sind die atlantischen Zyklen. Aber auch AMO und NAO werden durch Schwankungen der Sonnenaktivität beeinflusst, und zwar in komplexer, nicht-linearer Weise. Dies konnten zahlreiche Publikationen anderer Autoren in der Vergangenheit zeigen. Mitautor Hans-Joachim Dammschneider vom Institut für Hydrographie, Geoökologie und Klimawissenschaften in der Schweiz erklärt:
„Der viel diskutierte Einfluss der Sonne auf das Klimageschehen existiert, ist jedoch wohl komplizierter als angenommen. Schwankungen der solaren Aktivität wirken sich zunächst auf die atlantischen Klimazyklen aus. Das Sonnensignal nimmt sozusagen einen Umweg, bevor es sich zeitlich und räumlich verzerrt auf das Klimageschehen auswirkt.“
Sobald die verflochtenen Zusammenhänge vollständig verstanden sind, können sie auch als physikalische Prozesse in die Klimamodelle eingebaut werden. Dies würde verbesserte Mittelfristprognosen für das Klima ermöglichen, die sowohl die anthropogenen als auch die natürlichen Komponenten in realistischer Weise berücksichtigen. Eine positive NAO hat in den letzten Jahren warme Winter in Mitteleuropa hervorgebracht. Sollte die NAO in den kommenden Jahren wieder negativ werden, so sind auch wieder kalte Winter möglich. Die warmen Sommer in Mitteleuropa der letzten Jahrzehnte sind neben der langfristigen Klimaerwärmung auch einer positiven AMO geschuldet. Da sich die 30-jährige Warmphase der AMO seit ihrem Beginn in den 1990er Jahren nun allmählich dem Ende zuneigt, ist damit zu rechnen, dass die Sommer in den kommenden Jahrzehnten tendenziell wieder kühler werden könnten. Hierbei handelt es sich wohlgemerkt um regionale europäische Trends, die es nicht mit der globalen Durchschnittsentwicklung zu verwechseln gilt.
Originalpublikation:
H.-J. Lüdecke, R. Cina, H.-J. Dammschneider, S. Lüning (2020): Decadal and multidecadal natural variability in European temperature. J. Atmospheric and Solar-Terrestrial Physics, doi: 10.1016/j.jastp.2020.105294
Das pdf des Artikels sowie das umfangreiche Supplement (Appendix A. Supplementary data) können bis zum 4. Juli 2020 kostenlos unter der folgenden URL abgerufen werden: https://authors.elsevier.com/a/1b46h4sIlkq6yx
Ansprechpartner:
Prof. emer. Dr. Horst-Joachim Lüdecke
Hochschule HTW des Saarlandes, EIKE-Pressesprecher
moluedecke@t-online.de
Dr. Hans-Joachim Dammschneider
Institut für Hydrographie, Geoökologie und Klimawissenschaften (IFHGK), dr.dammschneider@ifhgk.org
Dr. habil. Sebastian Lüning
Institut für Hydrographie, Geoökologie und Klimawissenschaften (IFHGK), luening@ifhgk.org
Über das IFHGK:
Das in der Schweiz beheimatete Institut für Hydrographie, Geoökologie und Klimawissenschaften (IFHGK, www.ifhgk.org) hat seinen Schwerpunkt auf der Erforschung der Klimavariabilität. Die Berücksichtigung natürlicher Klimafaktoren und ihrer Wirkungsweise bildet die Grundlage für die korrekte Attribution klimatischer Änderungen im Zusammenspiel von anthropogenen und natürlichen Anteilen des Klimawandels. Das 2016 gegründete Institut ist dezentral organisiert und im Vergleich zu anderen Forschungseinrichtungen klein, jedoch konnte es in den letzten Jahren zahlreiche wichtige Veröffentlichungen zum Verständnis der natürlichen Klimafaktoren und Paläoklimatologie beisteuern. Unter den Publikationen befinden sich beispielsweise Analysen zur Mittelalterlichen Wärmeperiode im Mittelmeergebiet sowie in der Antarktis, doi: 10.1029/2019PA003734 und doi: 10.1016/j.palaeo.2019.109251.