Replik auf Peter Nahamowitz: Der Wunsch als Vater des Gedankens

Der Beitrag ist in naturwissenschaftlicher Hinsicht vernünftig begründet und plausibel. In rechtlicher Hinsicht ist er aber leider unzureichend, was den juristisch gebildeten Leser verärgert, zumal Nahamowitz einen Titel als ehemaliger Professor führt.

  1. Nahamowitz kritisiert, dass die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten bei der erstmaligen Anordnung der Corona-Maßnahmen am 23.03.2020 keine ausreichende Lageanalyse vorgenommen, sondern dem Robert-Koch-Institut vertraut hätten. Diese Kritik ist oberflächlich und unsachlich. Wem hätten die Bundesregierung – und die Landesregierungen – denn am Anfang der Krise im März 2020 sonst vertrauen sollen? Das Robert-Koch-Institut war von 1952 bis 1994 der wesentliche Kern des Bundesgesundheitsamtes. Auch heute ist es noch eine selbständige Bundesoberbehörde für Infektionskrankheiten und nicht übertragbare Krankheiten. Die Regierenden in Bund und Ländern waren und sind im Hinblick auf Seuchen und Pandemien Laien. Sie mussten also zwangsläufig Sachverständige und Experten zu Rate ziehen. Darin lag kein Rechtsfehler, völlig unabhängig davon, was das RKI zu dem Corona-Virus im Einzelnen inhaltlich erklärte. Selbst wenn sich die dortige Einschätzung später in Teilen als fehlerhaft herausstellen sollte, handelte es sich um ein sachverständiges Institut, welches mit Experten besetzt war und welches auf die Frage von Infektionskrankheiten spezialisiert war. Es war daher rechtlich nicht zu beanstanden, ein solches Institut nach seiner Meinung zu befragen. Im Übrigen versteht es sich von selbst, dass der Bund und die Länder am 23. März noch nicht die Erkenntnisse hatten, die sie heute haben.

Nahamowitz lässt in diesem Rahmen auch völlig unerwähnt, dass es seit 2013 eine Risikoanalyse gab, die anfangs der Krise berechtigten Anlass zu großer Sorge gab. In der Drucksache des Deutschen Bundestages 17/12051 wurde der Bericht vom 03.01.2013 über eine Risikoanalyse „im Bevölkerungsschutz“ 2012 vorgestellt. Neben einer Gefahr durch extremes Schmelzhochwasser der Mittelgebirge wurde das Risiko durch eine Pandemie mit dem Virus Modi SARS analysiert. Wenn man sich das damals entworfene Szenario anschaut, hatten die Analysten geradezu hellseherische Fähigkeiten, dass nämlich ein Corona-Virus aus Fernost nach Deutschland und Europa kommt und sich hier pandemisch ausbreitet. Die Risikoanalyse kam zum Ergebnis (Anhang 4, Seite 64), dass in einer ersten Erkrankungswelle 29 Millionen Menschen in Deutschland daran erkranken, in einer zweiten Welle 23 Millionen und in einer dritten Welle 26 Millionen. Außerdem ging die Analyse davon aus, dass in Deutschland innerhalb von drei Jahren 7,5 Millionen Menschen an dem Virus sterben würden!
Hätten die Bundesregierung und die Landesregierungen also nach Auffassung von Nahamowitz in Kenntnis dieser Risikoanalyse bei Ausbruch der Corona-Pandemie im März 2020 die Hände in den Schoß legen und seelenruhig dabei zuschauen sollen, wie eine unbestimmte Vielzahl von Menschen, u.U. bis zu 7,5 Millionen, in den nächsten Jahren sterben? Selbstverständlich nicht. Selbstverständlich wäre eine solche Untätigkeit der Regierenden verfassungswidrig gewesen, weil sie die Pflicht des Staates, das Leben und die Gesundheit seiner Bürger zu schützen, eklatant verletzt hätte.

  1. Die Argumentation von Nahamowitz ist in zeitlicher Hinsicht unlogisch und nicht nachvollziehbar. Er beruft sich u.a. auf eine Anfang April 2020 von einer Forschergruppe um den Bonner Virologen Hendrik Streek erhobene repräsentative Stichprobe mit 1.000 Probanden sowie auf die Auskünfte des Rechtsmediziners Klaus Püschel bei Markus Lanz am 9. April 2020. Man braucht nicht lange nachzudenken, um festzustellen, dass den Regierenden am 23. März 2020 solche Geschehnisse vom Anfang April 2020 bzw. vom 9. April 2020 nicht bekannt waren und auch gar nicht bekannt sein konnten. Auch wenn man viel von Bundeskanzlerin oder Ministerpräsidenten verlangen kann: Hellseherei gehört nach dem Grundgesetz nicht zur Job-Beschreibung der genannten Ämter.

Im Übrigen bleibt Nahamowitz die Erklärung dafür schuldig, weshalb beinahe alle Länder der westlichen Welt im März 2020 das Risiko ebenso hoch einschätzten und ähnlich drastische Mittel ergriffen haben wie Deutschland, obwohl diese anderen Länder nicht vom Robert-Koch-Institut beraten wurden.
 

  1. Nahamowitz irrt auch in einem weiteren Punkt. Er schreibt: „Dass zum Zeitpunkt des ersten Beschlusses das Bonner Forschungsergebnis noch nicht vorlag, spielt keine Rolle, da es zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Maßnahme auf die Kenntnis oder Unkenntnis entscheidungsrelevanter Fakten auf Seiten der handelnden staatlichen Stelle nicht ankommt“. Dieser Satz ist juristisch schlicht und einfach unzutreffend.

In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist anerkannt, dass dem Gesetzgeber bei der Einschätzung der Auswirkung neuer Regelungen im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit ein beträchtlicher Spielraum zusteht (BVerfGE 110, 177, 194). Dies gilt für die Exekutive in ähnlicher Weise (Jarass/Pieroth, Kommentar zum GG, 14. Auflage 2016, Art. 20 Rn. 126). Der Beurteilungsspielraum hängt von der Eigenart des jeweiligen Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter ab (BVerfGE 50, 290, 332; 90, 145, 173). Es ist dabei auf die Beurteilung abzustellen, die dem Gesetzgeber bei der Vorbereitung des Gesetzes möglich war (BVerfGE 25, 1, 17; 113, 167, 234).
Im Gegensatz zu den falschen Ausführungen von Nahamowitz kommt es also bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit nicht allein auf die Lage an, wie sie sich ex-post darstellt (denn nachher ist man immer klüger), sondern ganz wesentlich auch auf die Erkenntnismöglichkeiten von Exekutive und Legislative in der ex-ante-Situation. Es ist nicht nachvollziehbar, wie ein Jurist solche Behauptungen aufstellen kann, die im klaren Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stehen.
 

  1. In einer weiteren Passage ist der Beitrag ebenfalls fehlerhaft. Nahamowitz schreibt u.a. „Die Verfassungswidrigkeit kann im Wege der Verfassungsbeschwerde von den Betroffenen (das sind alle Bürger) gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a vor dem BVerfG geltend gemacht werden. Nach § 32 BVerfGG ist auch ein Eilantrag zum BVerfG zulässig“. Diese Aussage ist zwar vom Wortlaut her richtig, im praktischen Ergebnis aber falsch. Denn der Bürger kann gerade nichtsofort und unmittelbar das Bundesverfassungsgericht anrufen. Vielmehr heißt es in § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG: „Ist gegen die Verletzung der Rechtsweg zulässig, so kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden“. Juristen nennen das den Grundsatz der Subsidiarität. Gegen jede Corona-Maßnahme gab und gibt es aber einen Rechtsweg, nämlich denjenigen zu den Verwaltungsgerichten, entweder durch Erhebung einer Normenkontrollklage nach § 47 VwGO beim jeweiligen Oberverwaltungsgericht oder durch Erhebung einer negativen Feststellungsklage nach § 43 VwGO beim jeweiligen Verwaltungsgericht. Die sofortige Anrufung des Bundesverfassungsgerichts mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die Corona-Maßnahmen ist daher in der Regel unzulässig, was auch Nahamowitz wissen sollte.
    Soweit er auf den einstweiligen Rechtsschutz nach § 32 BVerfGG abstellt, hat er übersehen, dass auch dieser grundsätzlich unter dem Vorbehalt der Subsidiarität nach § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG steht (z.B. BVerfG-K 22/15 vom 16.07.2015, BVerfG-K 35/15 vom 28.09.2015). In Ausnahmefällen wäre ein solcher Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nur dann überhaupt zulässig, wenn der Antragsteller darlegen würde, dass er bei den Verwaltungsgerichten oder dem jeweiligen Oberverwaltungsgericht keinen einstweiligen Rechtsschutz in angemessener Zeit erhalten kann. Nahamowitz versäumt es, auch diese „Kleinigkeit“ zu erwähnen, an der jedoch 99 Prozent aller Eilanträge beim Bundesverfassungsgericht scheitern, u.a. auch der Eilantrag von Rechtsanwältin Beate Bahner. Eine solche Darstellung der Rechtslage, wie sie durch Nahamowitz erfolgt, hilft dem nach Recht suchenden Bürger nicht weiter und gaukelt ihm eine Erfolgsaussicht vor, die in Wahrheit nicht besteht.

 

  1. Richtig ist allein, dass die weitere Aufrechterhaltung der Maßnahmen ab dem 20. April 2020 mit jedem Tag problematischer wird und sich in großen Schritten der Unverhältnismäßigkeit und somit der Verfassungswidrigkeit annähert. Das hatte ich bereits ausgeführt in meinen Beiträgen „Dürfen die das überhaupt?“ und „Corona und das Grundgesetz“, die beide hier bei EIKE erschienen sind.

Inzwischen liegen auch neue Erkenntnisse vor, u.a. von dem bereits erwähnten Virologen Streek, von dem erwähnten Rechtsmediziner Püschel sowie vom RKI bzw. der Johns-Hopkins-Universität über die weitere Entwicklung der Infektions- und Todeszahlen, die allesamt am 23. März noch nicht vorlagen. In Anbetracht dieser neuen Erkenntnisse stellen sich mittlerweile die meisten der Maßnahmen seit dem 20. April 2020 als unverhältnismäßig und verfassungswidrig dar. Leider hat Deutschland nicht so fähige Politiker wie Österreich, wo Bundeskanzler Kurz schnell und konsequent in den Lockdown hineinging und jetzt ebenso zügig und konsequent, insbesondere mit nachvollziehbaren Terminen, wieder aus dem Lockdown hinausgeht.
 
Fazit:
Wenn Sie gegen die Aufrechterhaltung der Corona-Maßnahmen seit dem 20. April 2020 gerichtlich vorgehen möchten, besteht die Möglichkeit, dass Sie Erfolg haben könnten. In Einzelfällen haben die Gerichte den klagenden Bürgern schon Recht gegeben.
Wenn Sie allerdings die Corona-Maßnahmen zwischen dem 23. März und dem 19. April 2020 gerichtlich angreifen oder deswegen Schadensersatz verlangen wollen, wie es Nahamowitz andeutet, werden Sie nach meiner Prognose mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern und vor Gericht „Schiffbruch“ erleiden.